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Gratwanderung im Offenen

“Slow” bedeutet, Dinge zuzulassen, die nicht den eigenen Erwartungen entsprechen. Sich ins offene Feld zu wagen oder in abgelegene Bereiche, für die es keine Schubladen gibt. Dort, an den Rändern der Gewissheit, gibt man seine Meinungssicherheit auf. Eine schwierige und ungeschützte Stelle. Aber dort wird etwas möglich, was sonst verstellt ist: Wirkliches, tastendes Hinschauen. Ein offener und unvoreingenommener Blick.

Was bedeutet das für Medien? Ein beeindruckendes Beispiel dafür war neulich in der taz zu lesen. In ihrem Beitrag “Der lauteste Leser” vollzieht Anja Maier solch eine Gratwanderung auf faszinierend trittsichere Art. Sie berichtet über einen taz-Kritiker, einen Erzfeind, der über Jahre einen Blog für taz-Schmähkritiken betrieben hat und in der Redaktion allseits als Querulant belächelt wurde. Hans Pfitzinger, so heißt dieser Mann, stellte seinen taz-Schatten-Blog von einem Tag auf den anderen ein, nachdem er seine Diagnose bekam.

Seither stirbt er, erst zu Hause, dann im Hospiz, Zimmer elf. In diesem Zimmer elf besucht ihn die taz-Redakteurin und nimmt es damit gleich mit mehreren Tabus auf, Kritik, den Tod, die Krankheit mit K. Und sie verlässt konsequent das Feld aller Erwartungen. In welche Schublade bitte soll man einen sterbenden Querulanten stecken? Soll man ihn gut oder doof finden? Dürfen Journalisten überhaupt ein Interview mit einem Sterbenden machen? Dürfen Sterbende kritisiert werden?

Der Leser, es hilft nix, muss diesen Weg mitgehen. Und wirklich, die Autorin schafft es. Sie trifft das richtige Verhältnis zwischen Distanz und Nähe, sie trifft den richtigen Ton. Sie verharmlost nicht seine Fehler, sie wahrt Respekt vor seinem Leben, sie beschönigt nicht sein Sterben, sie ist weder voyeuristisch, noch sentimental, noch verleugnet sie sich selbst. Es ist ein Stück Journalismus, wie es einem nur selten gelingt. Es irritiert, berührt und verändert den Blick. Außerhalb der Schubladen natürlich, das muss man wissen, riskiert man missverstanden zu werden, das zeigen auch die Kommentare zu dem Beitrag. Gestorben ist Hans Pfitzinger letzte Woche.