Categories
Architektur Miscellen Slow theory Wirtschaft

Routen

So wenig als möglich sitzen;
keinem Gedanken Glauben schenken,
der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung –
in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.
(Friedrich Nietzsche)

Gestern passten endlich einmal wieder Terminkalender und Wetter zusammen, so dass ich mit dem Fahrrad die insgesamt 34km zur Arbeit und wieder zurück fahren konnte. Ein bisschen ist das Fahrradfahren durch die Stadt wie das Flanieren – wenn man sich die Zeit dafür nimmt und auch nach rechts und links schaut. Ist Walter Benjamin ein Radler gewesen? Ich denke nicht. Aber zu Benjamins Zeit waren die Autos wohl eher das, was die Räder heute sind.

Besonders angenehm ist an einem solchen Sommertag mit Temperaturen über 30 Grad natürlich die Fahrt aus der Stadt hinaus. Man spürt mit jedem Kilometer, wie das Städtische weicht. Am Stiglmaierplatz und in der Papenheimstraße spürt man noch ganz deutlich die Stadt (obwohl es gar nicht so lange her ist, dass dort, wo heute der Augustinerbiergarten ist, vor den Toren der Stadt die Verbrecher hingerichtet wurden) und radelt an ehemals staatstragend-repräsentativen Bauwerken wie die massige Oberpostdirektion mit ihrem expressionistischen Gebäudeschmuck vorbei – heute hat sich irgend ein halbgebildeter Gentrifizierer in der Hoffnung auf zahlungsfreudige Werbeagenturmieter die sinnfreie Bezeichnung “Art-Deco-Palais” dafür ausgedacht.

Viel zu oft radelt man in der Stadt in einem Pulk. Hier ist die Bezeichnung “Individualverkehr” für das Fahrrad eigentlich gar nicht mehr zutreffend. Die Fahrradkolonne ist in Wirklichkeit schon längst ein öffentliches Personennahverkehrsmittel. Je weiter man sich aber vom Zentrum entfernt, desto mehr Platz hat man zum Fahren. Immer häufiger trifft man auf andere Radfahrer, die nicht in die selbe Richtung fahren, sondern einem entgegenkommen oder den eigenen Weg kreuzen. In der Stadt scheint alles in eine Richtung zu fahren: in die Vorstadt.

Je öfter man denselben Weg zu und von der Arbeit nimmt, desto mehr wird der Weg zur Route, deren Verlauf sich fast schon körperlich in einen hineinschreibt. Meine Route sagt mir genau, an welcher Stelle ich eine Straße überquere und wo ich an einer Ampel stehenbleibe. Sogar die Variationen sind von der Route festgelegt. An mehreren Stellen habe ich die Möglichkeit, von der schnellsten, kürzesten, am besten befahrbaren Route abzuweichen. Aber es sind keine spontan gewählten Veränderungen des Weges, sondern so etwas wie “Standardabweichungen”. Alles andere wäre schon Verfahren. An dieser Stelle hat das Radfahren nicht mehr sehr viel mit dem Flanieren zu tun, wie wir uns das aus 160 Jahren Abstand vorstellen. Wahrscheinlich waren aber auch die professionellen Flaneure des 19. Jahrhunderts viel stärker auf ihre jeweiligen Pfade oder Routinen festgelegt als der Begriff des ungezwungenen, ziellosen Flanieren es uns heute suggeriert.

Wer Tag für Tag immer dieselbe Route nimmt und dabei wenigstens ein bisschen flaniert, wird sensibilisiert für alle Veränderungen, die sich auf dem Weg ereignen. Plakate werden überklebt, Häuser werden abgerissen und neu gebaut, Vorstadtidyllen werden zu Hauptverkehrsachsen oder nationalsozialistische Vorzeigesiedlungen verwandeln sich in, nun ja, ehemals nationalsozialistische Vorzeigesiedlungen mit Stoffsegeldekoration und Buddhastatuen. Manche Veränderungen passieren so langsam, dass man sie ohne den Zeitrafferblick des täglichen Vorbeifahrens gar nicht so richtig erkennt.

Die Gleise der ehemalige Straßenbahnlinie 16 zum Beispiel, die noch bis in die 1980er Jahre zum Lorettoplatz gefahren ist, wachsen von mal zu mal dichter zu, bis man sie kaum noch erkennen kann. Jetzt sollen sie endgültig entfernt werden und an ihrer Stelle soll ein Naturlehrpfad entstehen. Nicht dass ich der Meinung wäre, man müsse alles konservieren und auch die ehemalige Verkehrsinfrastruktur, die viel mehr verrät über das Bild der Stadtplaner von ihrer Stadt als die programmatische Literatur des städtischen Bauamts, unter Denkmalschutz stellen. Aber zumindest dokumentieren sollte man die Spuren, die noch übrig geblieben sind von der Zeit, in der man mit der Straßenbahn auf die Gräber gegangen ist und nicht wie heute mit dem Bus. Überhaupt lässt sich der Rückbau des städtischen Schienenverkehrs hin zum Busverkehr an diesem Beispiel sehr deutlich sehen.

Obwohl in diesem Fall die Dokumentation bereits von den Schienenhistorikern übernommen wurde, die vor allem im Internet alle Veränderungen der Verkehrsnetze dokumentieren. Wahrscheinlich treffen sie sich im Kastaniengarten, Münchens gemütlichsten Eisenbahnerbiergarten im Westend mit ordentlicher kroatischer Küche, und tauschen dort ihre Erinnerungen über historische Fahrten aus.

Irgendwann lässt man dann die Stadt ganz hinter sich und taucht ein in die vorstädtischen Parks wie zum Beispiel den Forstenrieder Park oder Forst Kasten im Südwesten Münchens. Dort ist die Luft zwar noch nicht durchgehend kühler, aber wenigstens fährt man ab und zu durch Flecken, die von der Sonne den ganzen Tag über nicht berührt werden. Oder Flecken, an denen der Boden auch Stunden nach dem Gewitterregen noch aufgeweicht ist und die Pfützen nur langsam verdunsten. Die Luft ist vielfältiger hier. Auch werden die Hunde nicht mehr in Fahrradanhängern durch die Stadt gekarrt, sondern laufen neben den Joggern her.

Wenn die Schienen und die Wendeschleife der Tramlinie 16 schon längst verschwunden sind und allenfalls auf Google Maps oder von Luftbildarchäologen erkennbar sind, werden die Spuren der staatlichen Forstwirtschaft immer noch klar sichtbar sein. Die Geräumten Wege des Forstenrieder Parks oder von Forst Kasten werden auch noch die nächsten dreihundert Jahre überdauern, auch wenn es hier nicht mehr darum geht, das Wild dem jagenden Kurfürsten vor das Gewehr zu treiben.

Comments are closed.