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Panorama

“Als wir noch in Mühldorf am Inn gewohnt haben,” erzählte die Mühldorferin mir bei Kaffee und Apfelkuchen, “sind wir Kinder regelmäßig ins Panorama nach Altötting gegangen. Damals ist die Erklärung des Panoramas noch nicht vom Band gekommen wie heute, sondern eine ältere Dame mit weißen Haaren und einem Dutt kam mit ihrem Schemel zu den wartenden Besuchern, stellte den Schemel gegenüber der Stadt Jerusalem auf, und begann zu erzählen.”

“Die Leidensgeschichte Christi kannten wir natürlich schon in und auswendig. Aber immer ganz am Ende, als sie sich mit ihrem Schemel zur Schädelhöhe gesetzt hatte, kam der Teil, für den sich die 15 Minuten Schweigen und Zuhören gelohnt haben: Mit ihrer dünnen Stimme kam sie zu den letzten drei Worten, die sie nicht mehr erzählte, sondern fast schon gesungen hat: ‘Und er verschiiiiiiied.’ Prustend sind wir aus dem Panorama herausgerannt, die schimpfende Führerin uns hinterher. Das war jedes Mal die 50 Pfennig Eintritt wert.”

Das Panorama ist ein gestorbenes Medium, das mittlerweile von der großen Kinoleinwand sowie ihren überdimensionierten oder gar dreidimensionalen Weiterentwicklungen nahezu vollständig abgelöst wurde. Das Altöttinger Panorama der Kreuzigung Christi ist das einzige historische Panorama, das in Deutschland erhalten ist. Aber schon 1902-1903, als der Bibelmaler Gebhard Fugel die riesige Leinwand bemalte, war es im Grunde genommen ein überkommenes Medium – nicht mehr zeitgemäß. Dasselbe gilt auch für das andere Panorama meiner Kindheit – das Panorama der Schlacht von Waterloo von Louis Dumoulin aus dem Jahr 1912.

Die dunkle Kuppel, in die man tritt, das langsame Erzähltempo einer bekannten Geschichte, das zu einem sehr fokussierten Zuhören zwingt und immer wieder die Blicke ins Rund, der schweifende Blick über das historisch-architektonisch-korrekte Jerusalem vor knapp zweitausend Jahren – das Panorama scheint überhaupt nicht in die Jetztzeit zu passen. Aber wenn man nach einer Viertelstunde dieses kühle Medienmausoleum verlässt und in die strahlende Sonne Altöttings tritt, ist man ebenso geblendet und entrückt wie nach einem 120minütigen Kinofilm.

Ein nach wie vor sehr wirkungsvolles Slow Medium.