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Das Slow Media Institut

Theorie und Praxis des digitalen Wandels:
Das Slow Media Institut entwickelt Anwendungsmodelle für eine produktive und resiliente digitale Gesellschaft.

– Digitaler Arbeitsschutz
– Mediennutzungsforschung & SlowTypes Studie
– Netzkultur & Reoralisierung

Hier ist die Website des Instituts: http://slow-media-institut.net
SLOWLOGO

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Slow theory

Kontra Internet

von Zach Blas1
übersetzt von Jörg Blumtritt

[Original Text in English]

1. Das Internet umbringen

Am 28. Januar 2011, nur wenige Tage nach dem Ausbruch der Proteste in Ägypten, die die Absetzung des damaligen Präsidenten Hosni Mubarak forderten, unterbrach die ägyptische Regierung landesweit den Zugang zum Internet. “Flipping the kill switch”, den Notschalter drücken, so wurde die Stillegung des Internets bald bezeichnet; während “Notaus” auf Deutsch nach einer notwendigen Sicherheitsmaßnahme klingt, schwingen im Englischen “Todesschalter” allerdings sehr viel krassere Assoziationen mit. Die Absicht war, das Internet in Ägypten zum Schweigen zu bringen – “zu killen” und dadurch die Demonstrierenden daran zu hindern, sich untereinander abzustimmen und die Streuung von Nachrichten über den Aufstand zu unterbinden, vor allem nach außerhalb des Landes. Bemerkenswerter Weise hielt der Tod des Internet nur fünf Tage lang und der Zugang wurde bald wieder hergestellt.

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Slow theory

Slow Media 2017

Sieben Jahre sind vergangen, seit wir drei Slow-Media-Autoren unseren Unmut über die Medien in das Slow Media Manifest gegossen haben. “Slow” wie in “Slow Food”.

Irgendwann Anfang der 1970er Jahre – ich war noch ein wirklich sehr kleines Kind – fuhren meine Eltern mit mir in die Stadt, um mit mir ein besonderes Ereignis zu feiern: Die Eröffnung des McDonald’s Restaurant am Stachus. Wenn ich mich heute an meine Kindheit zurückerinnere, ist mir vollkommen klar, was meine Eltern Besonderes an Fastfood gefunden hatten. Die “Deutsche Küche” war grauenvoll. Angewärmte Fleischbrocken und stärkereiche Sättigungsbeilagen, saurer Filterkaffee, Tee im Glas aus lauwarmem Wasser mit einem aromafreien Beutel daneben, Wasser gab es zum Essen nur in 0,2l und extrem teuer; aber das schlimmste war der ‘kleine Salat’ – welke Kopfsalatblätter bedeckten Batzen von Sellerie und Karottenjulienne aus der Konserve, alles schwimmend in einer süßlichen Emulsion aus Essigessenz und Sonnenblumenöl.

Fastfood versprach die Befreiung. Während die amerikanische Kultur den deutschtümelnden Mief der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Pop und TV aus den Wohnzimmern blies, würde Fastfood mit seinem industriellen Kosmopolitismus das Grauen der Deutschen Küche vertreiben, das war wohl die Hoffnung meiner Eltern.

Der Preis der gastronomischen Revolution sollte allerdings sehr teuer werden: Von massenweiser Fehlernährung über den himmelstürmenden Müllberg, bis zur Entwaldung der Tropen – die Folgen der industrialisierten Küche sind durchaus mit den Folgen des Fordismus in anderen Bereichen der Ökonomie und Kultur vergleichbar. Fast Food war nicht das Ende der kulinarischen Geschichte. Spätestens um 1980 war es Zeit geworden, sich über einen Neuanfang echter Kochkunst zu kümmern.

Slow Food und Neue Küche konnten sich endlich entwickeln, weil Fastfood den Raum dafür geschaffen hatte. Der Anlass zur Gründung von Slow Food ist schließlich eine direkte Reaktion auf Fastfood: Der Protest gegen Eröffnung des ersten McDonald’s in Rom 1986.

Slow Food ist kein reaktionärer Rückfall in die Zeit vor dem Fastfood – Slow Food bedeutet, die wertvollen Aspekte der Essenskultur freizulegen, die bereits vor Ankunft des Fastfood in der verkommenen Alltagsküche unter minderwertigem Fraß verschüttet waren. Nouvelle Cuisine und andere neue Formen des Kochens entwickeln handwerkliche Kochkunst zeitgemäß weiter.

Malbouffe, “Schlechtessen” oder Junk Food hatte José Bové das Fastfood genannt. Der französische Agrarrevolutionär wurde weltbekannt, als er 1999 im Rahmen einer Protestaktion eine McDonalds Filiale in Südfrankreich zerstörte. Le Monde n’est pas une marchandise – “Die Welt ist keine Ware” ist der Titel von Bovés bekanntestem Buch. So wie Slow Food gegen die industrielle Zerstörung guten Essens steht, kritisieren wir in Slow Media nicht zuletzt den Warencharakter in Medien und Kultur (zum Beispiel hier: [1] oder hier [2]).

Die Zeitungslandschaft meiner Jugend habe ich ähnlich erlebt, wie den widerlichen Fraß, der damals in Restaurants serviert wurde. Den Medienmüll der klassischen Publizisten haben wir in diesem Blog bereits hinlänglich bearbeitet (zum Beispiel hier: “Den Schrott gibt es im Internet?”, “Schrott Nachtrag” oder hier: “Das letzte Aufgebot”). Die Mischung aus Nachlässigkeit, Geldgier und Arroganz der selbsternannten “vierten Gewalt” aber bereitete den Boden für Google, Twitter und Facebook.

Google, Twitter und Facebook haben uns geholfen, die alten Medien zu überwinden, so wie Fastfood uns den Ausweg aus der schlechten Nachkriegsküche ermöglicht hat. Google, Twitter und Facebook sind wie Fastfood, im Guten wie im Schlechten. Nach erstem Augenschein sind sie so viel sauberer, moderner, weniger prätentiös, als die klassischen Medien.

Doch auch die Probleme sind mit Fastfood zu vergleichen. Das Medienfastfood ist bedingungslos optimiert, maximal effizient, maximal profitabel. Es lässt wenig Raum für Qualität, da die Algorithmen jede Abweichung von ihren Regeln gnadenlos bestrafen, mit der schlimmsten Strafe, die es für Medien gibt: dem Entzug von Aufmerksamkeit. Nur was dem Profit der Fastfoodmedien dient, schafft es in die Suchergebnisse, nur was die Algorithmen nach ihren Kriterien als relevant erachten, wird in unserer Timeline dargestellt. Websites, die Google nicht in den Suchergebnissen zeigt, existieren de facto nicht.

“Fake News” – Empörung herrscht allerorten über das “postfaktische Zeitalter”. Selbstverständlich gab es gezielte Falschmeldungen schon immer – Desinformation und manipulative Berichterstattung waren allerdings bis jetzt das Privileg von Journalisten und ihren Verlegern. Die stupiden Algorithmen der Fastfoodmedien ermöglichen es heute, Fake News sehr viel gezielter, von außen an ein Massenpublikum zu senden. Spätestens seit Brexit und der US Wahl 2016 sollte klar sein, dass Medienfastfood den Geist genauso fett und faul macht, wie die Malbouffe von McDonald’s.

“Medien sollten klarer und transparenter sein und nicht, entschuldigen Sie den Ausdruck, in eine Koprophilie verfallen, die stets bereit ist, Skandale und widerliche Dinge zu verbreiten, so wahr sie auch sein mögen”
Papst Franziskus

2017 wird das Jahr der Slow Media, davon bin ich überzeugt. Die Zeit ist reif für wirklich neue Medien, die mehr bieten, als Fastfood, als Hetze, Rassismus und Hass.
Anders als die Fastfoodmedien der letzten zehn Jahre werden Slow Media ein inhaltliches Konzept tragen und sich nicht lediglich als technologische Plattform definieren, unter Ableugnung jeder politischer und sozialer Verantwortung. Aber sie werden eine sozial gestützte Kultur vertreten, die auch Technologie positiv einbezieht, statt sie zu verdammen und zu bekämpfen.

Wir werden 2017 neue Medienangebote erleben, die nicht dem technokratischen Solutionism aus Silicon Valley folgen. Sie werden dezentral, verteilt und autonom arbeiten, keine Winner-takes-it-all Wette auf das Unicorn.

Die neuen Medienangebote werden allerdings – wie ihre Vorgänger – die Frage nach dem Markt beantworten müssen. Ob Werbung weiterhin nahezu ausschließlich die Geldquelle für relevante Publikationen bieten sollte, so wie es bisher selbstverständlich war, halte ich für fragwürdig. Renditeerwartung der Shareholder, die die Jagd auf Werbegeld anheizt, das nur kommt, wenn massenweise und verlässlich Menschen erreicht werden, ist die treibende Kraft hinter den Algorithmen, denen wir die Überschwemmung mit Fake News verdanken. Werbung ist das einzige Geschäftsmodell der Fastfoodmedien. Aber die Welt ist keine Ware – José Bovés Motto des “besseren Essen” können wir eins zu eins auf Kultur übertragen – und auf Medien.

Was ich mir in der nächsten Mediengeneration am meisten erhoffe, ist Vielfalt und Alternative, die Stimme der Marginalisierten zu hören, statt wie heute bei jeder Abweichung vom Mainstream vom Shitstorm niedergebrüllt zu werden.

Vielfalt bedeutet vermutlich auch die Abkehr von den dominierenden Paradigmen der Netzwerk-Ökonomie. Medien werden sich nur dann wirklich neu erfinden können, wenn das Dogma ‘Alles muss im Netz gedacht werden’ sinnvoll gebrochen und kritisch überwunden wird. Der Künstler und Medientheoretiker Zach Blas hat dazu den bemerkenswerten Text “Contra Internet” geschrieben. Darin beschreibt er die zukünftigen Medien als Paranodes, Nervenzellen, die außerhalb des Netzes liegen, quasi in den Zwischenräumen. Ob und wie es uns gelingt, aus dem Gedankengefängnis der Netzwerk-Metaphorik zu entkommen finde ich eine der interessantesten Fragen.

2017 wird das Jahr der Slow Media, das ist jedenfalls meine Prognose. Wie so oft wird es auf den ersten Blick vielleicht keine totale Revolution sein, was wir in neuen Medienangeboten erblicken. Wir werden also genau hinsehen müssen, gerade auch jenseits der Orte, an denen klischeehaft Medieninnovation stattzufinden hat.

Wir freuen uns auf die nächste Generation der Medien. Und wir sind gespannt, über was wir hier darüber erzählen können!

Links zum Thema
Zach Blas, Kontra Internet
Jörg Blumtritt, Ohne Google
Michaael Reuter, NewsChain – Authentische Nachrichten generieren und verbreiten

John Naughton (The Guardian), How Trump’s savvy army won the internet war
Jonathan Albright, Welcome to News Fake

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Architektur Kunst

Hausgäste

[Blogpost in English]

Ein erster, persönlicher Bericht vom Piemonter Share Art Festival in Turin

“Let us invite you to bring the family, the grandparents and the children, and sit on our open-source furniture, relax, even eat something. Fill a wine glass with tomorrow.”
Bruce Sterling

ShareEin Jahr ist es her, dass ich nach Turin gereist bin, um der Eröffung der ‘Casa Jasmina’ beizuwohnen, einem Musterhaus für digitale Open Source Haushaltstechnologie. Durch Bemerkungen bei Vorträgen hatte ich von Bruce Sterling, dem Initiator des Projektes davon erfahren. Wie viele ‘Cyber-Kinder’ war ich Bruce und seinen Gedanken über dreißig Jahre lang mehr oder weniger lose gefolgt. Auch wenn ich immer wieder einige seiner Ideen inspirierend fand, sie in meine Vorträge oder Blogposts eingebaut habe, war es erst sein Buch “Shaping Things“, mit dem ich wirklich etwas für meine Arbeit anfangen konnte. Shaping Things ist ein schmales Bändchen, eher ein Essay. Es war, soweit ich weiß, die erste umfassende Betrachtung, was wirklich passieren würde, wenn die Digitalisierung sich aus der Gefangenschaft des Web befreien und die Welt der physischen Dinge erobern würde, um daraus das ‘Internet of Things’ entstehen zu lassen. Aber vor allem sprach er davon, wie Dinge dann beschaffen sein müssten, um “freundlich” zu bleiben, gutmütig, trotz des totalitären Wesens gobaler Vernetzung und lebensumfassender Datenerhebung.

In Form der Casa Jasmina hatte Bruce angekündigt, gemeinsam mit Jasmina Tešanović, der Namensgeberin der Casa, seine Designtheorie in die Praxis eines wirklich bewohnbaren Hauses zu übersetzen. Es ist eine Sache, über Dinge zu schrewiben, eine ganz andere aber, etwas derartiges in der körperlichen Welt zu bauen, mit allen Einschränkungen, die die Conditio Humana einem dabei auferlegt. Es ist also wenig überraschend, wenn die ‘Casa’, die ich an ihrem Eröffnungstag vorfand eher ein Resonanzraum für unsere Visionen und Erwartungen war, als ein tatsächliches Heim.

Heute, ein Jahr später, hat sich die Casa Jasmina zum offiziellen Veranstaltungsort des Piemonte Share Art Festival entfaltet. Luca Barbeni, der das Share.to seit seinem Start 2006 kuratiert hatte, war nach Berlin ausgewandert, um dort seine NOME Gallery zu gründen, und Bruce Sterling war an seine Stelle als künstlerischer Leiter getreten, um das Festival in Turin gemeinsam mit dessen Co-Gründerin Chiara Garibaldi zu leiten. Dabei sollten sie illustre Unterstützung erhalten, wie etwa von Paola Antonelli, Kuratorin am New Yorker MoMA oder Astronauten-Star Samantha Cristoforetti. Und passend zum Ort legte Bruce fokussierte Bruce die Ausstellung auf “Kunst und Technologie für zu hause”.

Die ‘Casa’ und ihre Bewohner sind ausgesprochen gastfreundlich, und das Willkommen, das wir dieses Mal erleben durften, stand vergangenen Besuchen in nichts nach. Moderne Kunst hatte von Anfang an mit dem Häuslichen zu kämpfen – die meisten zeitgenössischen Kunstwerke sind schlichtweg ungeeignet für normale häusliche Verhältnisse. Diese Eigenschaft hat die Kunst mit Digitaltechnik gemein. Obwohl die meisten Leute “Computer”, ehedem PCs, heute Smartphones und Tablets auch zu hause nutzen, sind diese Geräte nie zu einem integrierten Teil der Haushaltsausstattung geworden. Unsere Digitaltechnik ist unverändert eher Teil unseres Outfits, mehr Accessoir als Haushaltsgerät. Es ist teilweise der überheblichen Anmaßung geschuldet, in der beide – Tech und Kunst – alle Aufmerksamkeit verlangen, ihre apodiktische Moral verkünden, wodurch meiner Ansicht nach beide so schwer erträglich sind, wenn wir sie in den beschränkten Platz unserer vier Wände zwängen. Jasmina Tešanović hat ihre Klage darüber in ihrem flammenden Manifest “Die sieben Wege des Internet of Women Things” zum Ausdruck gebracht, dessen Übersetzung wir ebenfalls auf diesem Blog veröffentlicht haben.

“House Guests” ist der Titel der Ausstellung, und entsprechend geht es hier mehr um das bequeme Zusammenleben von Kunst, Technologie und Menschen, als um Kunst an sich. (Daher möchte ich eine Kritik der Kunstwerke auch auf einen späteren Artikel vertagen).

Video art from seditionart.com displayed on iPads in a frame. Here: Rose Throb by Claudia Hart.
Video-Kunst von seditionart.com auf iPads in einem Ramen. Hier: Rose Throb von Claudia Hart.

In der Ausstellung finden sich zweierlei unterschiedliche Formen von Kunstwerken: Physische Objekte und Videos. Acht Videos, die aus der Online-Kunstplattform seditionart.com stammen, laufen auf weißen iPads, die an der Wand hängen. Diese acht Videos sind nicht interaktiv, lediglich Bewegtbild. Es wäre also genauso gut möglich gewesen, sie einfach der Reihe nach auf einem Laptop laufen zu lassen, an die Wand zu beamen, oder sie auf irgendeinem digitalen Bildschirm zu zeigen. Stattdessen waren die einzelnen iPads in schwarze Halskrausen gerahmt, die Größe etwa die doppelte Bildschrimdiagonale, ähnlich dem bürgerlichen Tafelbild. Die Schwierigkeit mit Video-Bildschrimen, und speziell mit den Bildschirmen von Mobilgeräten wie den iPads ist die totale Beherrschung des Inhalts darauf durch das Medium. McLuhans Beobachtung gilt unverändert, dass Dinge im Fernsehen zu allererst TV sind, und erst in zweiter Linie, wenn überhaupt, der Inhalt, wie etwa ein Spielfilm oder Nachrichten. Diese mediale Festgelegtheit gilt in viel geringerem Maße für Gemälde, Zeichnungen, Drucke oder Skulptur, für die ihr Materia lediglich ein Aspekt eines größeren Ganzen darstellt. Und trotz ihrer voluminösen Krägen haben auch die iPads in der Casa Jasmina nicht viel von ihrer hypnotischen Qualität verloren. Die Kunst darauf verblasste unter dem wunderschönen Flimmern ihrer brillianten Technologie. Diese pornografische Dominanz des Mediums ist auf jeden Fall ein Thema, mit wir uns bei Kunst im digitalen Zeitalter auseinandersetzen müssen.

Catharina Tiazzoldi, Algorithmic Domesticities
Catharina Tiazzoldi, Algorithmic Domesticities
Verglichen mit dem Solipsismus der Videos ging es bei den physischen Objekten sehr viel mehr um wirkliches Zusammenleben. Tischtücher mit algorithmischem Design, Teller mit Dekor, vom Quantified Self inspiriert, Musikinstrumente auf Basis von Microsoft Kinect: Alle möglichen Formen von “zahmer Technologie”, die sich unter die bereits in der Casa vorhanden Gegenständen aus dem Maker Space im Nachbarhaus mischten. Der Anspruch der Kunst in der Casa Jasmina ist nicht hoch, und wir bekommen keine Kunstrevolution verkauft. Während etwa die kürzlich verstorbene Zaha Hadid und ihr Partner Patrik Schumacher den Parametrizismus als das zukünftige Paradigma von Architektur, Design und der ganzen Menschheitskultur schlechthin erklären, gehen die Objekte in der Casa Jasmina eher spielerisch mit den neuen, kreativen Möglichkeiten um, als die nächste Große Erzählung abzuliefern.

AL.TIP slr, Semaforo.A night lamp in maker design.
AL.TIP slr, Semaforo.
Eine Nachttischlampe im Maker Design.
Bei der Kunst in der Casa Jasmina geht es also nciht so sehr um Kunst, sondern um das heimische Haus. Das eigentliche Kunstprojekt ist die ganze Casa selbst, mit allem, das dort von Anfang an stattgefunden hatte. Wie Bruce damals gefordert hatte: Es geht darum, menschliche Werte in technische Gegenstände einzubetten. Gemeinsam mit dem Schöpfer des Arduino Massimo Banzi kämpft Bruce für eine ethische Technologie, die er vor kurzem in einem “IoT Manifest” zusammengefasst hatte: Dinge sollen offen bleiben und einfach zusammenarbeiten. Auch wenn die Sstandardisierung der Benutzeroberfläche der Smartphones einen klarer Vorteil der Produkte von Apple darstellt, so möchte doch wohl kaum jemand erleben, dass die Vielfalt der Kunst durch bevormundende Sterilität eines iTunes Store planiert wird. Eng damit ist die zweite Forderung verbunden, die Nachhaltigkeit. Was nützt eine LED-Lampe zwanzig, die Jahre lang brennen könnte, wenn die Software darauf, die sie “Smart” machen soll, nach zwei Jahren veraltet ist und die Lampe vielleicht sogar unbenutzbar macht? Die geplante verkürzung der Lebensdauer von Hard- und Software war von Anfang an ein Geschäftsprinzip in Silicon Valley. Dabei geht es hier nicht einfach nur um Öko-Lamento, wie neulich erst eindrucksvoll von Google bewiesen wurde, als ältere Gerate der Marke ‘Nest’ ferngesteuert unbenutzbar gemacht wurden, um deren Besitzer zu zwingen, sich neue zu kaufen. Die dritte Forderung ist Fairness. Technologie darf die Menschen nicht ausspionieren. Ich glaube, diese Forderung kann nur verwirklicht werden, wenn wir zentralistische Strukturen für die vernetzte Technik verhindern. Nur wenn wir es schaffen, Netze aus dezentralen, verteilten und autonom funktionierenden Geräten zu spannen, werden wir unsere Privatsphäre zu hause verteidigen können.

Für viele Menschen hat sich zeitgenössische Kunst schon längst aus ihrem Leben verabschiedet – intellektuell abgehoben, einzig der hermetische Ausdruck der Künstlerpersönlichkeit, abgeschlossen und geschützt durch Urheberrecht und geistiges Eigentum – Bitte nicht berühren! Digitaltechnologie entzieht sich ebenfalls unseres Zugriffs. Wen wir die glänzenden Gehäuse der digitalen Geräte öffnen, verwirken wir die Garantie. Die Kunst und Technik in der Casa Jasmina ist offen, freundlich, eine einfache Hausgenossin. Man könnte sagen, dass es ihr an der großen Geste fehlt; sie ist nur komfortabel. Vielleicht ist das aber genau der Punkt. Wir werden wieder interessant gestaltete häusliche Gegenstände bekommen, die nicht einfach nur designte Markenprodukte sind, sondern maßgefertigt an ihre Besitzer angepasst, die ihre Gemachtheit sehen lassen, statt sie ellegant zu verschleiern. Was wir erleben, ist der Aufstieg einer neuen Arts&Crafts-Bewegung. Wie ihr Vorläufer vor 120 Jahren, steht auch Neo-Arts&Crafts gegen den glatten Perfektionismus der industriellen Massenfertigung, und ebenso wie damals, nicht in einem Rückschritt zu vorindustrieller Handwerklichkeit, sondern unter Ausnutzung der neuen Methoden und Werkzeuge unserer Zeit. Und im Gegensatz zum Maker Movement, aus dem sie hervorgegangen war, wird es bei Neo-Arts&Crafts weniger um Technolgie gehen, und viel mehr um Handwerkskunst. Diese Art Nouveau heißt auf deutsch Jugenstil oder Reformstil. Bei der Reform ging es darum, wieder eine bewohnbare Umwelt zu schaffen, in der Menschen ein glückliches und gesundes Leben führen konnten. Wenn Neo-Art-Nouveau ähnlichen Zielen folgen sollte, indem sie offen, nachhaltig und fair ist, bin ich überzeugt, dass sie sich durchsetzen wird. Weit mehr als der Parametrizismus und andere akademische Konzepte, die Kunst wieder zu erfinden, hat diese Kunst das Potenzial ein wesentliches Paradigma der Post-Internet Kunst zu werden.

Und jetzt will ich mehr davon sehen!

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Philosophie Politik Soziologie

Die sieben Wege des IoWT

Gastbeitrag von Jasmina Tešanović[1],
übersetzt von Joerg Blumtritt. [Original Blog Post]


Es war meine Idee, ein “Open Source Connected Home der Zukunft” zu bauen. Mein Plot wurde von den Geeks unserer schönen neuen Welt angenommen, von brillianten Leuten, die aber fast alles Männer sind. Sie nannten das Haus “Casa Jasmina”, nach meinem Namen: Ich bin dankbar dafür, aber das Haus ist alles andere als gemütlich.

Menschen sind unterschiedlich und leben in unterschiedlichen Blasen von begrenztem menschlichen Verstand. Männer und Frauen, Dichter, Philosophen, Musiker, Architekten, Designer, Ingenieure – wir könnten sie versuchen in Idealisten und Realisten einzuteilen – die Menschen in den Wolken-Blasen und die Menschen in den Blasen des Erdreichs.

Ist nun ein Projekt wie Casa Jasmina “hands-on”, praktisch, ein Projekt der Maker, die ihren Idealen aufwärts entgegen streben, oder sind es ein paar Ideale, die nach Erdung streben, um zu zeigen, dass die hochfliegenden Konzepte tatsächlich möglichich sind?

Ist es ein Haus für die Wolken-Blasen-Leute, jene, die ihre Wolken-Welt erfinden, bevor sie am Boden aufschlagen (oder zumindest am Boden landen, um ab und zu Vorräte aufzunehmen)? Oder ist es eine erdverbundene Startrampe für die Sehnsucht, auf der die Erd-Blasen-Leute Werkzeuge bauen, um den Himmen zu erreichen?

Wie kann eine Traumblase ein wirkliches Haus werden? Wie kann eine Wolke ein Fundament bilden? Spielt der Kronleuchter, das Lieblingsstück deiner Großmutter, eine Rolle in einer Raumstation? Welche Objekte gehören – nicht zu der Welt wie sie ist, sondern in die Welt, wie sie sein sollte?

Wenn Designer davon sprechen, dass sie “Out of the box” denken – welche Box stellen sie sich unbewußt dabei vor? Eine antike, geschnitzte, altbackene Holztruhe, oder irgendeine durchscheinende, minimalistische Schachtel aus durchscheinendem Plastik? Wir haben alle unsere Seifenblasen und Gehäuse, aber auf welche Art ist die Kiste einer Frau die einer Frau?

Das “Internet of Things” ist eine Wolkenplattform, und gleichzeitig ein konzeptuelles Gehäuse. Dies ist das Wesen des “IoT”: Es ist eine digitale Plattform für Software, wireless, mit Rechenleistung und daten-zentriert. Ebenso ist es ein Paradigma.

So erschien mir auf meiner Suche nach einer Art drittem Weg zwischen Feminismus und Design, ein “Internet of Women Things” – das Internet der Frauen-Dinge. Könnte dieses “IoWT” großzügig Raum schaffen für konzeptuelle Projekte, für Ideen und Rat, für den Sinn nach Schönheit und erfülltem Leben? Solche Konzepte geben nicht häufig ersten Anstoß für Technolgie-Projekte, aber sie halten gemeinhin am längsten.

Das IoWT ist etwas, dass ich im Nebel erkannte, als eine “Wolke”, dennoch bodenständig. Die IoWT-Wolke mag auf ihre Weise sogar ein Stück weit unter die Erde reichen, geprägt nicht nur von luftigen Idealen, sondern auch von unterdrückter, weiblicher Energie.

Das “Internet of Things” kann nicht einfach nur von und für Web-Technologen bestehen, da es nicht nur die Dinge umfasst und sich darauf erstreckt, sondern auch auf Frauen und Kinder oder Tiere, oder Pflanzen, oder Roboter … Im Augenblick sehe ich das IoT in gefährlicher Weise außerhalb der Weltsicht der Frauen. Das IoT ist so entfremdend und so eng begrenzt auf die heutigen technischen und wirtschaftlichen Erfordernisse, dass es sehr wohl ganz und gar scheitern kann. Es wäre ein Jammer, wenn seine weitreichenden Fähigkeiten für diese Generation verloren gingen, unter einem Haufen von gescheiterten, über-ambitionierten Spielzeugs begraben, wie es ähnlichen technologischen Visionen erging, wie etwa Virtueller Realtät oder Künstlicher Intelligenz.

Frauen sind ebenso verantwortlich für Technologie, wie Männer, und in der Internet Revolution spielten wir die tragende Rolle – im Guten wie im Bösen. Nur durch Verweis auf unsere Chromosomen können Frauen nicht von der Moderne ausgeschlossen bleiben.

Selbst unter der Bedingung eines Entscheidungskampfes um das Internet of Things – und sei es um gerechter und hoher Gründe willen – sollten wir nicht dulden, dass Missbrauch, Verbrechen und Unfälle die Regeln setzen. “Dinge” waren immer mühsam, während das “Neuland Internet” des zwanzigsten Jahrhundert seine häßliche Seite zeigt, in schäbigen Geschäftspraktiken, Cyberwar und repressiven Verhalten.

Ja, Frauen wissen, wie man überlebt, und – zumindest nach meinem dafürhalten – auch, wie man bestehen bleibt. Ich habe erlebt, wie Frauen mit Kriegen, humanitären Notlagen und mit politischen und wirtschaftlichen Katastrophen zurecht gekommen sind. Ich selbst habe das Atom- wie das Weltraumzeitalter durchlebt, also werden mich digitale Maschen und Moden nicht aus der Ruhe bringen. Das Internet of Things, diese Schublade, diese Wolke, diese Plattform, liegt nicht außerhalb meiner Auffassungsgabe. Im Gegenteil; ich habe daran Hand angelegt und habe dafür sogar so etwas ähnliches wie Prinzipien zu bieten.

Und hier kommen ein paar davon …

1. Kritisches Denken

Wenn Frauen schon aktiv in einer Männerwelt leben, wird eine kritische Revision der bereits bestehenden Verhältnisse notwendig, um das IoT zum IoWT aufzuwerten. Wann immer Menschen mit Werkzeug zusammenstoßen, das für die Ambitionen von weißen, jungen, männlichen Hight-Tech-Kommerz-Unternehmern aus Silicon Valley entwickelt wurde, ist das Ergebnis oft klobig, unschön, tragisch oder grotesk.

Frauen sollten nicht fehlerhaftes Design mit Gender-Problemen verwechseln. Frauen werden immer als “schlechte Autofahrer” abgekanzelt werden, solange sie übergroße und übermotorisierte Panzer und Traktoren fahren müssen, und genau diese ungleichheit umangelhafte Anpassung ist in Heerscharen von historischen Objekten und Diensten eingebacken, die lediglich nicht frauenfreundlich sind. Der Teufel sitzt in den Details, aber kritisches Bewusstsein über die Werke des Teufels zu besitzen, ist ein Kunststück, dessen nur wenige Teufel fähig sind.

2. Positive Inklusion

Das Internet of Things ist das Unternehmen einer technischen Elite, das Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt; daher sollte das Projekt eine wesentlich breitere Vielfalt von Menschen als Teilhaber einbeziehen, statt nur als Kunden. Frauen müssen präsent und sichtbar sein, wobei die jüngste Geschichte die durchaus gemischte politsche und soziale Wirkung des Internet auf Sprachkulturen, Nationalitäten, ethnische Gruppen, Regionen und Völker gezeigt hat.

Die Welt in diesem Jahrzehnt wimmelt von angsterfüllten Flüchtlingen, denen wohl das Internet, aber kaum noch irgendwelche “Dinge” geblieben sind. Flüchtlinge brauchen zu allererst Brot und eine Unterkunft, aber diese elementaren Bedürfnisse, die es auch für uns alle nach Flutkatastrophen oder Erdbeben zu befriedigen gälte, scheinen kaum je von größerer Bedeutung für diejenigen zu sein, die an einer einträglichen IoT-Zukunft arbeiten, inklusive geschlossener Tech-Ökosysteme und marketing-getriebener Ausspähung der Kunden, sogenannter Marketing Surveillance.

Im Gegenteil konzentriert sich ein Großteil der Arbeit am IoT intensiv auf Sicherheit, feindselige Exklusion und Communities, die mit physischen wie psychologischen Zäunen abgegrenzt werden – Strukturen und Systeme, die entwickelt werden, um all die Unerwünschten, die Ausländer, die Vertriebenen und Entwurzelten schön ausßerhalb der IoT-Schranken zu halten.

Menschen brauchen mehr als Dach und Brot, mehr als Clicks und Sammelpunkte, um nicht nur gesund, sondern auch munter zu bleiben. Wo sind die IoT-Formate, die Menschen positiv einschließen, die ein schreiendes zweijähriges Mädchen und ihre Mutter auf einer kaputten Straße vor Schaden bewahren? Tatsächlich “Out of the Box” leben Frauen, deren “Boxen” ausgebombt wurden. Wie können deren Stimmen hörbar werden, und wie ihre Vorstellungen zur Umsetzung kommen?

3. Positive Abgrenzung

Das IoWT braucht einen Freiraum, wo sich Frauen treffen und voneinander lernen können. Frauen können nicht alles, was es über ihre eigenen Interessensgebiete zu wissen gibt in Hörsälen der Ingenieursdisziplinen lernen, wo schon so lange die Regeln der männlichen Welt vorgeherrscht haben.

Wenn Frauen sich ohne männliche Aufsicht treffen, haben sie ihr Coming-Out. Die Regeln ändern sich, ihr Verhalten ändert sich; Frauen finden sich in der veränderten Anmuting wieder wieder, in moralischen Regeln, die in Jahrhunderten weiblichen Überlebens überliefert wurden, die davon handeln, für Nahrung zu sorgen, Kinder zu kleiden, gegen Krankheiten zu kämpfen, das Heim vor Verall und Zerstörung zu bewahren. Viel davon entfaltet sich nicht in Lehrbüchern und Algorithmen, sondern eher in Sticheleien, in Witzen, im Sermon; häufig im Ratschen – denn die Gemeinschaftlichkeit der Frau-zu-Frau-Welt ist nicht politisch korrekt, nicht mal notwendiger Weise gut.

Es gibt keine Parlamente, die der Begegnung von Frauen vorbehalten wären. A-historische Versammlungen, um es kurz zu sagen. Wann immer in den historischen Archiven von Staatsaffären und Politik zu lesen ist, können wir grundsätzlich davon ausgehen, dass es darum geht zu beschreiben und zu erklären, was alles nicht von Frauen getan wurde. Aber Aufzeichnungen, was Frauen taten, haben wir nicht!

Sogar die Frauen, die als Expertinnen in der Kreativwirtschaft bekannt sind, werden in der Regel nur in Zusammenhang mit Männern aus dem selben Fach genannt. Unsere Vorgängerinnen in der Geschichte sind meist Töchter, Ehefrauen oder Mütter von irgendeinem berühmten Kerl, nur en passant von dessen Prominenz gestreift, wenn sie für ein gemeinsames Werk bekannt sind. Aber diese Geschichten sind nicht die weibliche Geschichte der weiblichen Schöpferkraft, es ist mehr eine geräumige Leere, in der Frauen für ewig Gefangene bleiben, stets als unerwartete Eindringlinge in den offiziellen Affären der Welt, Dissidenten, oft sogar Hexen.

Diese Kategorien verschwinden allerdings, sobald nur Frauen im Raum sind. Ich habe die Kraft und den Reiz dessen erfahren, in mir selbst und bei anderen Frauen in kleinen Gruppen, in denen ich aktiv wurde, manchmal sogar aktiv gegen meinen eigenen Willen. Gruppen wie “Die Mütter von Srebrenica”, die Überlebenden eines Völkermordes, die einen alternativen Strafgerichtshof der Frauen geschaffen hatten. Frauen, die im Jugoslawienkrieg vergewaltigt worden waren, die durch ihre tapfere Aussage Vergewaltigung im Krieg zu einem weltweit geächteten Kriegsverbrechen machten, statt Vergewaltigung dabei zu belassen, wie sie in der Kriegsgeschichte bislang betrachtet worden war, bestenfalls als eine Fußnote, eine “natürliche Folge”, selbstverständlich wohl bekannt und gefürchtet von allen Frauen im Krieg, vom Gesetz und den Männern ignoriert.

Das Internet of Things hat viele Aspekte, die Frauen betreffen, die nie explizit gemacht werden – einige davon werden grauenvoll werden, andere vielleicht wunderbar. Ethik ist Ästhetik, Inhalt ist die Form, daher ist “positive Abgrenzung” nicht nur ein Experiment, sie bringt schon gute Ergebnisse hervor.

4. Politik und Strategie

Frauen, das Mehrheits-Geschlecht, stellen die größte unterdrückte Menschengruppe der Welt. Sie haben viele und unterschiedlichste Systeme der Unterdrückung erlebt, und sie wissen, dass das Internet of Things schlicht ein weiteres davon sein könnte.

Frauen haben im Internet seit langem Erfahrung mit Stalking, aufdringlicher Beobachtung, Ausspähung, Doxxing, organisierter Schikane und andere Übergriffe in die Privatsphäre mit technischen Hilfsmitteln. Die unsichere Position derer, die sich online öffentlich zu Wort melden oder sich einsetzen, ist ihnen sehr genau bewusst, und somit sind Privatsphäre und Sicherheit grundlegende Themen für das IoWT, nicht nur als Funktionen der Hardware, sondern als ein Recht an sich: Das Menschen Recht für Frauen.

Das Internet of Things breitet sich in einer politischen Ära aus, die einen Edward Snowden, Advanced Persistent Threat Hacking aus China, geleakte Offshore Banken, Terror Militias, Geheimdienste und die gigantische, weltumspannende Marketing-Überwachungsmaschinerie von Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft einschließt. Wenn wir also über “Connected Things” im IoT sprechen, meint dies notwendiger Weise, Dinge, die mit diesen Gebilden verbunden sind und nicht nur mit irgend einer idealisierten und abstrakten IoT “Cloud”.

Frauen sind einigen Formen von Überwachung unterworfen, weil sie Frauen sind, zum Beispiel an der Tür zu einer Abtreibungsklinik oder weil sie es wagen, unverschleidert auszugehen. Sie müssen für die Kontrolle über ihren eigenen Körper kämpfen: Unserer Körper. Für eine weibliche Prominente kann selbst eine neue Frisur oder die Wahl des Lippenstifts einen viralen Aufruhr provozieren, eine zunehmend verbreitete Situation, da jedes kleine Detail in irgend einem Selfie teil einer permanenten Datenbank werden kann.

Orwell hatte uns schon vor der herabwürdigenden Sprache und dem Abrutschen in eine Dystopie des Verfalls gewarnt. Totalitarismus is eine lebendige Erinnerung, und wir alle sind uns paranoisch bewusst, wie schlecht die Dinge möglicherweise werden können. Die Hände zum Himmel zu strecken ist nicht genug. Wie kann das Internet of Things das Privatleben von Frauen wirklich verbessern und als Frauen in mehr Sicherheit erleben lassen, statt weniger?

5. Just do it

Es gibt Zeiten, die nach Wagnis und Tollkühnheit verlangen. Frauen haben nicht immer schon nach Prinzipien der Vorbeuge gelebt; anderenfalls gäbe es keine Anti-Baby-Pille.

IN Zeiten des Tumult sind die letzten vielleicht die ersten. Meine Mutter war als Teenager ein antifaschistischer Partisan im von den Achsenmächten besetzten Jugoslawien. Sie prahlte stets damit, dass Frauen in der Kriegszeit nicht empfindliche Püppchen waren, sondern zu allererst Revolutionskämpfer. Warum, so hätte sie argumentiert, sollte eine Frau, die sich selbst ins Bein schießt, dabei voller Selbstzweifel lamentieren, während Nazis gleichzeitig versuchen sie umzubringen? Selbstverständlich kannst du als Kämpferin im Feuer versehrt werden, aber der Feind kann genauso gut daneben schießen. Und die Befreiung wird nicht von selbst kommen.

Frauen treten nicht aus dem Mutterleib heraus, und beginnen Befreiung einzufordern. Sie werden Feministinnen, nach erlebter Frustration und Diskriminierung. Eine Frau muss nicht um Sorgen bitten, um viel davon serviert zu bekommen, aber dasselbe gilt für die Chancen.

Wir leben tatsächlich in einem Zeitalter der Technologie, in dem Frauen nicht länger zu Hofstatt, Küche, Kirche und ewigen Schwangerschaften verdammt sind. Technologie und die Gleichberechtigung der Frauen sind nicht dasselbe, aber sie sind auch nicht ihr gerades Gegenteil. Technologie und Empfängnisverhügung stehen hinter der revolutionären Emanzipation der Frau im zwanzigsten Jahrhundert. Körperkraft legt nicht länger die Rollenteilung fest, und der “Naturzustand” der Frau ist nicht mehr die Schwangerschaft während ihres ganzen, mittlerweise verlängerten Lebens.

Das Internet of Things schmeckt nach den Internet-Konzernen die heutzutage tonangebend sind, aber dar Geist des älteren Internet ist nicht vergessen. Die Wurzeln des IoT sind so alt, wie die Netze von Stromversorgung und Telefon, in denen Frauen stets Nutzer und Teilnehmer waren. Telefonistinnen sind heute überflüssig, aber es gab Heerscharen davon.

Das Internet of Things wird eines Tages ebenfalls vergehen. Neue Kulturräume können niemals vollständig alte Benachteiligung reproduzieren; wenn wir “aus der Box” treten, bauen wir uns vielleicht eine neue, niemals aber wieder dieselbe alte Box.

Warum wollen wir uns nicht einfach in kleinen Gruppen treffen und mutig tausend kleine Schachteln bauen und uns ansehen, was passiert? Ein attraktiver Ansatz!

6. Design Fiction

Wir können uns Dinge vorstellen, die wir noch nicht verwirklichen können. Auch wenn es zum Beispiel den Weltfrieden miot Sicherheit nicht gibt, können Frauen pazifistische Bewegungen ins Leben rufen und anführen und die ersten sein, die die Trümmer wegräumen, wenn jemals der Krieg enden sollte. Sie tun das nicht nach dem männlichen Lehrbuch-Stil abstrakter Effizienz, aber Männer haben auch schon oft ihren Hintern dadurch gerettet, auf Frauen zu hören und ihnen zu folgen.

Die Gleichheit der Geschlächter und allgemeine Gerechtigkeit sind ebenfalls Visionen, aber das gilt auch für ein reibungsloses Internet und perfekt designte und funktionale Dinge. Jeder Ingenieur kennt die Unterscheidung “AM/FM”, “Actual Machines”, die man wirklich gebaut hat, und “Fantastic Magic”; das sollte also auch für schöpferische Erlaubnis für Frauen auf technologische Träume ausreichen.

Warum also nicht spekulative und konzeptuelle Objekte aus einer Frauen-Perspektive erfinden? Stellt euch Dinge und ihre Verbindungen vor, die es noch nie gegeben hat und beschreibt sie. Mögen sie seltsam sein, oder hübsch, nützlich oder nutzlos, Luxus der zum Gebrauchsgut wird, oder umgekehrt.

Design fiction, ‘fantasia al potere’, hebt Ungläubigkeit auf und holt das Unglaubwürdige zurück ins Mögliche. Selbst traditionelle Künstler und Kunsthandwerker können ihre Arbeit wiederbeleben, indem sie sich neue Rollen für ihre Werke in vermuteten Welten ausdenken.

Meine Lieblingsform von Design Fiction ist nicht das Ausdenken völlig neuer Dinge – nur sehr wenige wirkliche Dinge entbehren der Vorläufer – sondern im Neuentwurf der Objekte, die wir bereits in unserem Erbe mitführen. Ich liebe alte Sachen aus der Vergangenheit, da ich empfänglich für ihre emotionalen und ästhetischen Werte jenseits der Ladenregale und Webseiten von heute bin.

“Dinge” sind nur Sachen, vor allem, wenn es zu viele sind, zu alte, kaputte, eine nutzlose Last, überflüssig, gefährlich, dysfunktional und teuer. Aber diejenigen, die ihre Sachen kennen und lieben sollten die Macht haben, sie zu erhalten.

Eine Lampe ist ein Ding für das Stromnetz, aber es ist ebenso die Lampe meiner Großmama, die sie leuchten hatte, während sie meiner Mutter die Brust gab. Die Wanduhr meines Großvatersist eine genaue, schwerkraftgetriebene Maschine, aber es ist auch ihre Gegenwart im Hause, die alle fünfzehn Minuten eine Melodie in meines Vaters Kindheit spielen lies.

Wiedergefunden auf dem Dachboden, wiederverwendet mit etwas Hilfe der freundlichen Geeks. Frauen denken unterschiedlich, und wann immer die Box der Technologie bröckelt und bricht, tröpfeln Märchen von Zauberstöcken, selbstfahrenden Kürbiskutschen und gläsernen Schuhen heraus. Warum sollten wir die Asche fegen, warum auf den fernen Prinzen der Technologie warten, der diesen Apparat deinem zierliches Füschen anzieht?

Design Fiction Workshops können den Standpunkt einer Frau sichtbar machen: Warum in der Asche am schmutzigen Herd warten, statt Liebe zu finden und ein Königreich zu erobern. Freude und Hoffnung bringt es uns, Träume besser zu machen.

Die Atombombe war eine Ausgeburt der Märchenwelt – ein Monster, “der Tot, der Weltenzerstörer” – aber auch wenn wir unter der Wirklichkeit unserer eigenen Erfindungen leiden, so träumen wir doch. “Technolgie ist neutral”, das sagen sie, als ob Technologie unabhängig von unserer Vorstellung davon wäre, von unseren Modellen davon, unseren Wolken und Schachteln. Aber Technolgie ist niemals neutral, da Technolgie – anders als die menschliche Natur aus dem Stoff der Träume sich erhebt, und es gibt keine neutralen Träume.

7. Vielfalt

Ein Haus ist ein Habitat, ein Heim, eine kleine Welt, ein Element im gesellschaftlichen Kosmos, eine Krippe und eine Zufluchtsstätte. Ein Haus ist zu allererst die Zufluchtsstätte von Frauen mit kleinen Kindern, und der Greise. Diejenigen, die das Haus am meisten nutzen und des Hauses am stärksten bedürfen, sollten eine Rolle spielen, es zu gestalten und zu unterhalten.

Haushaltstechnik, “Domotik”, soll die Selbstbestimmtheit der Menschen erweitern, die in dem Haus wohnen, und nicht im Namen von lockenden Profiten ihre Schöpferkraft beschneiden. Senioren stellen eine ständig wachsenden Teil der weltweiten Zivilisation, eine Entwicklung, die keine Anzeichen von Schwäche zeigt, während die Armen wie üblich überall zu finden sind, oder besser gesagt, die Armen sind überall zu finden, wo sie hingehen dürfen. Kinder, die große, neue Minderheit der Welt, sind weniger in der Zahl, ausgegrenzt von den Machtressourcen der Erwachsenen, oder sogar missbraucht in den lieblosen, befehlsgesteuerten Systemen.

Das sind die Bedürftigen des IoWT: Deren Würde und Fähigkeit müssen wir schützen, sie ermächtigen, und ihnen Anteil verschaffen, während sie zu ihrem verlängerten Erwachsenenleben heranwachsen. Die Wirtschaftskrise hat die alten Modelle von Immobilien und Behausung in Gefahr gebracht und die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, die zuvor ihre verborgenen Überlebensnischen besetzen konnten, sehen diese Orte zunehmend vollständig auf den Markt geworfen und globalisiert.

Wir sollten die extremistischen Geschäftsmodelle nicht gewähren lassen, den Charakter der Viertel und Städte niederzureißen. Das ist der Lauf in Entfremdung und ein Weg ins Nirgends, während es Not täte, den Umgang gesitteter zu gestalten und die Lebensqualität zu verbessern. Kulturelle Stärken und Unterschiede werden die zukünftige Überlebensfähigkeit der Städte festlegen, und nicht abgehobene Vektoren von Geld und Macht, diej gelegentlich an die Oberfläche zucken und wieder versinken.

Städte rund um den Erdball unterscheiden sich grundlegend, und auch ein standardisiertes elektronisches Daten-Protokoll wird die Welt nicht zu einer Scheibe machen. Die Art und Weise, auf die ein Italiener seinen Kaffe macht, ist ein geheiligtes Ritual, das bekräftigt werden sollte, statt es weg zu optimieren; und wir sollten die Unterschiede Loben und Preisen, in denen die Briten ihren Tee bereiten. Wie eine Serbin ihr Brot eigenhändig backt, vermittelt einen Stolz, den eine Desktop-basierte Brotbackmaschine ihr niemals schenken könnte.

Home Automation ist Jahrzehnte alt und oftmals gescheitert, oft genug, ein Science-Fiction Museum mit archaischen, stromlinienförmigen Druckknöpfen zu füllen. Aber ein Mangel an Engagement ist keine Bequemlichkeit und Trägheit kein Wohlstand, und zu viele Mouse-Klicks, genauso wie zu viele Diener, können das Leben seiner Intimität und Würde berauben. Netze und Systeme, die in undurchsichtiger Weise verbunden sind, welche die digitalen Entscheidungen tarnen, können auf spektakuläre Weise ausbrennen. tausend vernetzte Computer, die sich in einander verworren in den Absturz ziehen, während sie wie kletten aneinander hängen, wie kein einzelstehender Computer es jemals tun würde. Wenn jedes Ding ungeordnet and hundert anderen hängt, wie werden wir aufhalten, was unsere Fehler verursachen, wie werden wir unser Bedauern zum Ausdruck bringen und Verbesserungen vorsehen? Wenn wir uns vor unseren Bedürfnissen und Wünschen hinter Ketten aus Software verstecken, wie können wir dann überhaupt wissen, ob wir erfolgreich waren?

Und jetzt habe ich eine letzte Frage, eine offene Frage, die ewige Frage, keine Frage für eine einzelne Antwort, für mein Casa Jasmina Brainstorming.

Fühlt ihr diesen Gender-Graben, so wie ich? Es fehlt mir nicht an Unterstützung fähiger, männlicher “Jasminer”, aber ich brauche Frauen, die zu mir kommen, mit mior sprechen. Danke!

Jasmina Tesanovic in der CasaJasmina
Torino im April 2016


[1] Jasmina Tešanović ist Feministin und politische Aktivistin (Women in Black; CodePink). Sie ist Schriftstellerin, Journalistin, Musikerin, Übersetzerin und Regiseurin. 1978 brachte sie die erste feministische Konferenz in Osteuropa nach vorne, “Drug-ca Zena” (in Belgrad). Gemeinsam mit Slavica Stojanovic entwickelte und entwarf sie das erste feministische öffentliche Haus auf dem Balkan, “Femeinist 94”, das zehn Jahre bestehen blieb. Sie verfasste das “Diary of a Political Idiot”, das in zwölf Sprachen übersetzt wurde: Ein Kriegstagebuch in Echtzeit, dass sie während der Kosovo-Krise 1999 niederschrieb. Seit dieser Zeit veröffentlicht sie ihre Arbeiten auf Blogs und anderen Medien, stets verbunden mit dem Internet.

Mehr dazu: ‘Casa Jasmina‘.

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Slow theory

Alles fließt – Konstanten einer liquiden Gesellschaft

[read post in english]

Gleich mit jedem Regengusse
Ändert sich dein holdes Tal,
Ach, und in dem selben Flusse
Schwimmst du nicht zum zweitenmal.

Johann Wolfgang von Goethe:
Dauer im Wechsel

 

In der Physik – und das ist die Wissenschaft, bei der im Gegensatz zu einer Geisteswissenschaft alles an seinem rechten Platz ist – unterscheidet man feste, flüssige und gasförmige Stoffe. Diese Aggregatzustände sind jedoch nicht konstant, sondern können sich unter dem Einfluss der Rahmenbedingungen wie Druck und Temperatur verändern. Aus fest wird flüssig, aus flüssig wird gasförmig oder umgekehrt.

Wir stellen uns die Welt gerne als etwas Statisches vor. Das macht sie berechenbar und vorhersehbar. Wir können sie dann stapeln und sortieren und behalten den Überblick. In Phasen des Übergangs aber lösen sich die festen erstarrten Strukturen auf, verrutschen, geraten ins Schwimmen. Und das muss so sein, denn erst aus dem Fließen der Strukturen und Teile können neue Muster, neue Verknüpfungen und damit neue Antworten sichtbar werden.

Wir brauchen diese Phasen der Verflüssigung von Strukturen also, um uns weiterzuentwickeln – aber so recht mögen tun wir sie nicht, sie sind uns unheimlich.

Die Abwehr vieler Menschen gegen eine ihnen beunruhigend erscheinende digitale Kultur liegt genau darin begründet: Jetzt hatte man grade alles an seinem Platz und nun gerät alles ins Wanken.  Festgeglaubtes zerrinnt durch unsere Finger.

Digitale Kultur ist fluid, liquid, thixotrop

Die weltweite Vernetzung durch digitale Medien bringt tatsächlich sehr viel in Bewegung. Wissensmonopole schmelzen, die Kommunikation ist nicht mehr so leicht lenkbar und kanalisierbar (nun ja: durch Überwachung instrumentalisierbar). Das Teilen und Tauschen (von Wissen, von Haushaltsgeräten, von Wohnungen und Autos) gewinnt gegenüber dem Haben und Behalten an Bedeutung. Digitale Plattformen wie WikiLeaks, LobbyPlag und VroniPlag sammeln dezentrales Wissen und machen Brüche und Fehler im System sichtbar und transparent. Bücher, Bilder und Musik sind kopierbar und können endlos weiterverbreitet werden. Ja, da gerät einiges in Bewegung. Es verflüssigt sich etwas, was vorher fest war. Und das ist interessant.

In der Physik bezeichnet man die Eigenschaft eines Stoffes, sich durch Bewegung verflüssigen zu können, als Thixotropie. Bekannt ist dieser Effekt zum Beispiel bei Ketchup, der erst geschüttelt werden muss, damit er aus der Flasche fließt. Das Phänomen war schon im Mittelalter bekannt – auch einige der sogenannten „Blutwunder“, bei denen sich geronnenes Reliqiuenblut durch Schütteln wieder verflüssigt, lassen sich so erklären.

Wissen, Kultur und Gesellschaft haben auch thixotrope Eigenschaften: Sie lassen sich in Bewegung bringen, sie verändern ihren Aggregatzustand, ihre Form und ihre Kontur. Digitale Medien haben hier eine wichtige Rolle. Sie sind es, die derzeit die Dinge in Bewegung bringen. Durch die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft ihren Aggregatzustand. Die Verflüssigung macht den Weg frei für eine Reorganisation, für die Herausbildung neuer, angemessener Strukturen und für neue Kulturtechniken.

„Ach“, klagt Goethe in dem eingangs zitierten Gedicht, „und in dem selben Flusse schwimmst du kein zweites Mal“. Das „Ach“ kommt von Herzen und ist nachvollziehbar. In einer liquiden Gesellschaft verlieren wir an Sicherheit und Planbarkeit.

Und doch: Schauen wir auf das, was wir gewinnen.

Schauen wir auf das, was dadurch frei wird: Welche Räume eröffnet es uns, was gewinnen wir, womit können wir gestalten? Wir verlieren Kontrolle und gewinnen Überraschungen. Wir verlieren Gewissheit und erschließen uns Potentiale im Unerwarteten. Oft ist grade unsere Improvisation viel besser als der Plan, den wir hatten, und führt uns weiter.

Reoralisierung der Kultur: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Digitalen

In der kulturhistorisch kurzen Phase des Buchdrucks ist unsere Kultur „statisch“ geworden. Zuvor war sie noch offen, beweglich und hatte flexible Strukturen: Kulturgut, geschichtliche, religiöse und gesellschaftliche Informationen wurden von Mund zu Mund tradiert. Sagen, Mythen, Märchen, Gesänge und rituelle Handlungen schufen Identität und transportierten, was zu wissen und kennen wichtig war. In der mündlichen Wieder- und Weitergabe wurde das zu Tradierende gefiltert, angereichert, verändert und angepasst von jedem, der an der großen Erzählung der Welt mitwirkte.

Später versuchte man, das allzu Ephemere, das Flüchtige und Vergängliche dieser Tradition festzuhalten und ein auch sichtbares Zeugnis zu schaffen. Die Bibel zeugt davon, wie verschiedene Erzählkränze miteinander verwoben und in Schriftform kondensiert werden. Wenn Geschichten nicht mehr von Generation zu Generation weitererzählt werden, versiegt der Traditionsstrang, weil das Wissen nicht materialisiert ist. In einer oralen Tradition ohne Erzähler droht das Wissen zu sterben. Die Brüder Grimm sorgten sich um den Untergang der Volkspoesie und hielten sie mit ihrer weltberühmten Märchensammlung fest: „Es war vielleicht grade Zeit, diese Märchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewahren sollen, immer weniger werden“. So rettet die Schrift die Erzählung – und beerdigt sie zugleich, indem sie sie festschreibt.

Mit dem Buchdruck wurde Wissen festhaltbar: Es wurde in Materialform aus dem Menschen ausgelagert. Kultur ist dadurch zeit- und ortsunabhängig geworden. Festgehalten zwischen zwei Buchdeckeln konnte das Wissen wandern, von Hand zu Hand, von Bibliothek zu Lesern, von Land zu Leuten. Es konnte sich verbreiten, ohne dass Erzähler und Zuhörer wie in tribalen Strukturen einander gegenübersitzen müssen.

Der Preis dafür war zweierlei: Die Festschreibung des Inhalts in eine unveränderliche Schriftgestalt. Und die Trennung von Produktion und Rezeption. Fortan gab es auf der einen Seite die Autoren, die den Inhalt lieferten, und auf der anderen Seite die Leser, die ihn konsumierten – zwischen ihnen das statische Werk in seiner endgültigen Form.

Rauslesen und Reinschreiben: Atemzüge des Web

Digitale Medien nun verändern das Wesen der Schriftkultur nachhaltig: Der digitale Schriftraum ist im Internet für jeden erreichbar. Viele Menschen können nun zeitgleich auf denselben Inhalt zugreifen. Sie lesen, rezipieren, konsumieren ihn. Aber eben nicht nur: Sie verändern ihn auch, sie greifen ein, sie hinterlassen Spuren. Sie lesen raus, sie schreiben rein. Der Internetnutzer ist nicht nur Leser, er produziert auch mit. Das ist der Mechanismus von Open Source Software, wo jeder Nutzer den Quellcode verändern und seinen eigenen Bedürfnissen anpassen kann. So funktioniert die Online-Enzyklopädie Wikipedia,  wo Leser auch potentielle Autoren sind. Marshall McLuhan brachte “the electronic revolution” auf die Formel: „Do it yourself“ und „You are the poet“. Alle Sprengkraft der digitalen Kultur liegt in diesen beiden Sätzen.

Die Entstehungsprozesse bilden sich jetzt direkt im digitalen Schriftraum ab. Das Schreiben wird in kollaborativen Plattformen zur sozialen Handlung, der Text selbst sein Abbild. Der Prozess der Entstehung, das, was in einer statischen Druckkultur nur in den Tiefen der Archive und Magazine als Notizen und Vorstufen der Autoren verborgen liegt, ist in der digitalen Schriftkultur von Anfang an sichtbar.

Diese Dynamik war bisher nur in der mündlichen Tradition möglich. Die Formel dafür lautet:

Das Internet ist ein Schriftmedium, das nach den Regeln der Mündlichkeit funktioniert.

Kultur will zirkulieren

Digitale Medien haben die Kultur aus ihrem statischen Dasein zwischen den Buchdeckeln herausgelockt. Das geht, weil wir nun eine technische Infrastruktur haben, die das ermöglicht. Und weil es das Wesen der Kultur ist, zirkulieren zu wollen. Das Zirkulieren geht im digitalen Zeitalter viel leichter als in einer statischen Druckkultur. Die Kultur gerät in Bewegung.

Neu ist das natürlich nicht. Umberto Eco hat schon 1962 in seinem Essay „Das offene Kunstwerk“ diese Tendenz festgestellt: Die Kultur will raus, sie ist unterwegs, sie will sich nicht festschreiben lassen. Erst in der Rezeption vollendet sich das Werk und mit jedem Rezipienten aufs Neue. Kunst hat keine feste Kontur, sie ist immer Aufforderung zum Gespräch und zur Auseinandersetzung. Für den Dichter Paul Celan war – lange vor dem digitalen Zeitalter – das Gedicht „Gespräch“, ein „Händedruck“, es „hält auf jemanden zu“, es sucht ein Gegenüber.

Wer Kultur auf eine starre Form festlegt, beraubt sie ihres eigentlichen Wesens. Eine kulturfeindliche Gesellschaft reduziert Kultur auf ihren Warencharakter. Sie versucht, sie festzuschreiben, ihr einen materiellen Wert zu geben statt eines diskursiven. Kulturschaffende sehen sich gezwungen, eine verkaufbare, stapelbare Ware zu produzieren und müssen ihre Kunst damit einsperren. Aber Kultur ist keine Ware, Kultur ist ein Prozess.

Die digitale Kultur besteht in ihrem Wesen aus Diskursivität, dem Wunsch nach Bindung, Bezug und Kontaktaufnahme, dem Wunsch nach Teilen, Tauschen und Mitteilen. Ja, da fließt und zirkuliert einiges. Alle mit dem digitalen Wandel verbundenen Fragen des Urheberrechts, der Mash-Up-Culture, die Nöte der Gatekeeper, sind damit verbunden: Wie können wir eine dynamische, nicht-statische Kultur würdigen, wertschätzen und honorieren? Kultur ist ein Prozess gesellschaftlicher Wertschöpfung.

Die digitale Kultur gestalten

Wie alles, was funktioniert, ist auch das Wesen der digitalen Kultur zum Gegenstand wirtschaftlicher Interessen geworden. Konzerne mit Talent zur Strömungsforschung schauen genau hin und verstehen, welche Bedürfnisse hinter dem Fließen stehen: Bindung, Teilhabe, Austausch, Sichtbarwerden. Sie leiten die Ströme um und kanalisieren das Fließen gewinnbringend. Der Wunsch, mit Freunden und Menschen aus aller Welt die eigene Wohnung zu teilen oder andere im Auto mitzunehmen, wird so zum Geschäftsmodell, das den ursprünglich sozialen Impuls mehr und mehr zurückdrängt. Uns sollte aber immer bewusst sein, dass digitale Kultur viel mehr ist als Internetwirtschaft.

Der digitale Raum ist ein kulturschaffender sozialer Interaktionsraum. Ein Raum, geschaffen von all den Menschen, die sich darin bewegen, Kontakt zu einander aufnehmen, sich zeigen und miteinander zu neuen Gemeinschaften verbinden. Offene Strukturen und Systeme sind immer angreifbar. Wir werden überwacht, instrumentalisiert und monetarisiert. Und dennoch: Es ist unser Raum und wir sollten ihn mit Mut, Kreativität und Experimentierfreude füllen und uns zu eigen machen. Lasst uns den digitalen Kulturraum zu unserem machen!

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Read more:

Slow Media Manifest http://www.slow-media.net/manifest
Declaration of Liquid Culture http://memeticturn.com/declaration-of-liquid-culture

[Dieser Essay erschien auch in: NEW Forum Magazin 1, 2015]

 

 

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Casa Jasmina

[Read this post in English]

“We must put human values into things, we must beware of the clashes among things. A smart house can clash with a happy house. The thoughtless convenience of seamless design can clash with the need for control and dignity. The users clash with the people. Our geek hood clashes with our personhood.”
Bruce Sterling

Casa Jasmina

Casa Jasmina wurde am 6. Juni feierlich in Turin eröffnet. Es ist das erste “Connected Home”, das vollständig Open Source laufen wird.

The Internet of Things

Smart Home -vernetzte Haushaltsgeräte und computergesteuerte, vernetzte Haustechnik, Connected Car – Autos, die als kybernetische Systeme teilweise oder demnächst sogar vollständig automatisch fahren, Wearable Technologie – Messtechnik, die wir direkt am Körper tragen, als Smartwatch, Armband oder als Smart Textile, und schließlich die Smart City, eine weitgehend vernetzte, datengesteuerte Stadtverwaltung – das alles ist das Internet der Dinge, das IoT. Beim Internet der Dinge geht es keineswegs nur um Maschinen – “Data is made of people”, die wichtigsten Daten liefern ein detailliertes Bild des täglichen Lebens von Menschen. Daher bekommen Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung durch das IoT nochmals mehr Bedeutung. Das Internet of Things wird unser Leben noch stärker durchdringen und vielleicht noch stärker verändern, als das World Wide Web oder das Smartphone es schon getan haben.

Smart Home
Smart Home

Wie ist es, tatsächlich mit Connected Technology zu leben? Mehr als zwei Milliarden Menschen sind bereits über ihr Smartphone mit dem Internet verbunden. Ein Smartphone ist aber tatsächlich ein Plattform, die mehr als zwanzig unterschiedliche Sensoren trägt, Messinstrumente, die ununterbrochen unsere Bewegungen, unseren Aufenthaltsort, die Funkverbindung und viele andere Dimensionen unserer Umwelt aufzeichnen. Diese technologischen Eigenschaften sind allerdings kaum das, was die Menschen tatsächlich erleben, wenn sie ihr Smartphone nutzen. Telefone und Tablets sind in ihrer Erscheinungsform vielmehr ziemlich ähnlich zu Büchern, lediglich mit etwas mehr Funktionen. Wir nutzen unsere Mobiltelefone als Medien, und wir sehen sie dabei kaum jemals als Teil eines “Internet of Things”. Daher ist es alles andere als trivial, den wahrhaftig vernetzten Lebensstil sichtbar zu machen. Und das ist eines der Themen, um das es bei der Casa Jasmina geht: Ein Musterhaus für das heimische Leben unter “Connected Technology”.

Digitaltechnologie hat bereits nahezu alle Bereiche unseres Geschäftslebens wie auch unseres Altags verändert. Und obwohl ich oft gesehen habe, wohin bestimmte Entwicklungen führen würder, war es mir kaum möglich, andere Leute von den Konsequenzen zu überzeugen, die nach meiner Meinung bereits unvermeidlich geworden waren. Und dann schlug der Wandel zu, hinterließ seine Opfer blutend auf dem Feld zurück, oft tötlich verwundet. Ich liebe digitale Technik. Ich liebe Social Media, Suchmaschinen und Wikis. Aber ich beklage, wie einfach wir unseren öffenltichen Raum aufgeben, den so viele Menschen für uns so hart erkämpft hatten. Ich beklage, wie schnell wir den gesellschaftlichen und politischen Einfluss an rein wirtschaftliche Berechnung verlieren. Ich möchte kein einziges bischen mehr hergeben, von unseren öffentlichen Gütern. Das ist der Grund, warum wir vor fünf Jahren das Slow Media Manifest geschrieben haben, und warum wir für Slow Startups eintreten, statt für “Disruptive Technology”. Casa Jasmina zeigt eine Alternative zu proprietären Plattformen im IoT; das ist ihr zweites Standbein.

Casa Jasmina

Auf dem Wired Nextfest 2013 hörte ich Bruce Sterling, eine mögliche Strategie erklären, mit der sich die Technologie-Kultur des Silicon Valley, nicht umsonst als “Plattform-Kapitalismus” kritisiert, kontern ließe: Open Source Luxus. Statt Netzwerkeffekte auszubeuten, über Skalierbarkeit und “Winner-Takes-It-All”-Ökonomie Monopole aufzubauen, spracht er sich für wertebasierte Wirtschaft aus, deren Grundlage die Kunstfertigkeit wäre. Open Source wäre dabei kein Widerspruch zu Luxus. Vielmehr fördert Open Source die Kunstfertigkeit als Merkmal der Differenzierung. Anstatt Menschen in die Nutzung eines Betriebssystems zu zwingen, anstatt sie in Abonnements zu sperren, würde Open Source Luxus sowohl Bequemlichkeit als auch die Wahlfreiheit der Nutzer fördern. Und seit September 2014 verkündet Bruce, wie diese Idee greifbar gemacht werden kann: Durch die Casa Jasmina. Benannt nach Jasmina Tešanović, von der die ursprüngliche Projektidee stammt, fußt dieses erste Open Source Connected Home im Turiner Fab Lab und seinem Arduino-Ökosystem. Es ist ein Feldversuch für den Einsatz jener Technologie, die bald auf die eine oder andere Weise unsere Wohnungen durchdringen wird.

Casa Jasmina wird ein Connected Home mit echten Menschen, die darin wohnen. Es wird nicht einfach ein weiterer Ausstellungsraum eines Technologie-Herstellers oder eines Energieversorgers mit Hochglanz-Ausstellungsstücken, die niemand je benutzen wird. Keine Düsenrucksäche, keine fliegenden Autos, keine sprechenden Kühlschränke mit lächerlicher Unterhaltungselektronik, um die keiner gebeten hat.

Casa Jasmina fußt auf zwei Fundamenten. Als erstes der Arduino, Open Source Hardware die zur führenden Steuer-Plattform für das Internet of Things geworden ist. Der Arduino ist eine echtes Kind des Piemont. Nach seinem Start am Interaction Design Institute in Ivrea, wird der Arduino heute von einem Team um Massimo Banzi in einem kleinen Büro über dem Fab Lab in Turin entwickelt. Und obwohl Open Source ist der Arduino Partner von Elektronikkonzernen wie Intel oder Samsung. Eine große Gemeinschaft trägt zur Entwicklung von Anwendungen bei, die auf den Arduino aufgebaut sind. Gemeinsam mit seinem englischen Gegenstück, dem Raspberry Pi Mikrocomputer, liefert der Arduino eine überaus starke Basis für das Internet of Things.

Die zweite Säule der Casa Jasmina ist Design. Wie Dinge aussehen, wie Dinge mit uns und mit anderen Dingeninteragieren, welche Materialien zum Einsatz kommen, und welche Geschichte die Dinge erzählen -für das, was ein Ding ausmacht, sind diese Aspekte ebenso wichtig, wie ihre technische Funktionalität. Casa jasmina ist auf eine Art auch Design Fiction, das heißt Design, das uns vorführt, wie sich anfühlt, was möglicher Weise kommen wird. Aber im Gegensatz zu normaler Design Fiction wird die Casa Jasmina Objekte beherbergen, die tatsächlich benutzt werden sollen, oder die Ausgetascht werden müssen, falls sie sich nicht gut nutzen lassen. Dinge zu entwerfen, die tatsächlich funktionieren ist etwas ganz anderes, als nur ein beeindruckendes Ausstellungsstück abzuliefern. Auch wenn die Dinge, die es in der Casa Jasmina zu sehen gibt, ausgefallen daher kommen, müssen sie dennoch für die Bewohnern des Hauses funktionieren, und nicht nur gerade solange halten, bis sich die Tore einer Industriemesse wieder schließen.

In der Casa Jasmina

Die Gebäude in der Via Egeo, in denen sich das Fab Lab und die Casa Jasmina befinden, sind Überreste von Turins ruhmreicher Vergangenheit als Zentrum der Schwerindustrie.

Und jetzt gibt es sie, dort, in der Via Egeo Nummer 16. Die Architektur der Casa Jasmina ist echter italienischer Futurismus: Erbaut in den 1920er Jahren, diente das erste Stockwerk, in dem die Casa sich befindet, als Appartment für Manager bei FIAT, und zwar direkt über einer Stahlgießerei, die sich im Erdgeschoss darunter befand; geplant, um die Trennwände zwischen Privatleben und Industrie einzureißen; was könnte es für das Thema unserer Zeit für eine bessere Metapher geben! Wie von den Futuristen gefordert, aber nie wirklich erreicht, wird das Internet of Things unsere Privatsphäre einschrumpfen, unsere bürgerliche Vorstellung einer unverletzlichen, privaten Wohnung. Aber anstatt diese Entwicklung einfach in den Faschismus münden zu lassen, wir wir den Futurismus in den 1930er Jahren haben enden sehen, haben wir heute die Chance, den Futurismus unserer Zeit auf eine wohltätigere, demokratische Bahn zu stoßen. “Wir müssen menschliche Werte in die Dinge bauen”, wie Bruce Sterling es ausdrückt.

Bruce Sterling and Lorenzo Romagnioli in Casa Jasmina's kitchen.
Bruce Sterling und Lorenzo Romagnoli in der Küche der Casa Jasmina.

Das Äußere der Casa Jasmina sieht für Turiner Verhältnisse immernoch etwas heruntergekommen aus, würde aber sehr wohl für ein durchschnittliches Wohnhaus etwa in Neapel durchgehen. Das Treppenhaus, das zum Piano Nobile des Gebäudes hinauf führt, ist ziemlich eng, und ich schätze, es war ursprünglich eher für Dienstboten und Lieferanten gedacht. Wir betreten die Wohnung durch einen kleinen Vorraum, in Dunkelgrau gestrichen, an dessen einer Wand sich ein programmatischer Text von Bruce Sterling befindet, der die Besucher in das Projekt einführt – ganz so, wie man es in einer Museumsausstellung erwarten würde. Gegenüber davon liegt ein einfaches Badezimmer.

Bookcase by Caterina Tiazzoldi
Bücherregal von Caterina Tiazzoldi

Gerade aus öffnet sich ein geräumiger Korridor mit weißen Wänden, der nach rechts durch hohe Fenster den Blick auf einen Dachgarten freigibt. Links kommt ein kleines Wohnzimmer, das nicht durch eine Wand oder eine Schwelle vom Korridor getrennt ist, sondern durch ein Bücherregal, eine Designstudie von Caterina Tiazzoldi. Eine geräumige Küche öffnet sich dahinter ebenfalls zum Korridor, vom Wohnzimmer durch eine Wand getrennt. Dahinter folgen zwei Räume mit Türen, die als Schlafzimmer dienen werden, wenn die Casa Jasmina schließlich bewohnt werden wird. Am Ende des Korridors führen ein paar Stufen zu einer Wand, an dem ein A0-Poster hängt, das die Allegorie eines ” Internet der Frauen Sachen”.

"IoWT - the Internet of Women Things
“IoWT – the Internet of Women Things

Dahinter mag sich für eine Doppeltüre befunden haben, die vermutlich einst der Haupteingang war. Der Boden in den Schlafzimmern, der Küche und dem Wohnzimmer ist mit wertvollem, kunstvollen Eichenparkett belegt, das irgendwie die langen Jahrzehnte überstanden hat, in denen das Gebäude verlassen und seinem Zerfall anheim gegeben war.

Great confidence in the durability of Open Desk's furniture (also used as makeshift stairs)
Großes Vertrauen in die Haltbarkeit der Möbel von Open Desk (hier als Behelfstreppen im Einsatz).

Die meisten Möbel sind von Open Desk designt, einem Londoner Design Studio, das seine Entwürfe als Open Source veröffentlicht, die sich leicht aus Sperrholz ausschneiden lassen. Die Art, in der Open Desk seine Entwürfe frei verteilt, ist weniger ungewöhnlich, als wir naiv annehmen könnten. Es ist sogar etwas, dass bis vor kurzem völlig alltäglich war. Wenn wir früher zu einem Schreiner gegangen sind, bekamen wir vom Handwerker unterschiedliche Beispileentwürfe gezeigt, die aus Musterbüchern und Katalogen entnommen wurden. Davon hätten wir ein Design ausgewählt und beauftragt, nachdem das Möbelstück schließlich gefertigt worden wäre. Gute Qualität bei Möbeln hängt in keiner Weise davon ab, ob irgendwelches geistiges Eigentum abgesichert wurde. Vielmehr im Gegenteil: Nur massenproduzierte Ware braucht diesen Schutz, da sie nie das handwerkliche Niveau erreichen kann.

Die nicht ganz so smarten Dinge

Marco Biranza's '9 Random Spots' is nice piece of calm technology as art. The color pattern changes, whenever the connected Geiger counter registers an accidental decay.
‘9 Random Spots’ von Marco Biranza ist ein schönes Werk sogenannter ‘Calm Technology’. Die Farbmuster verändern sich dann, wenn ein angeschlossener Geigerzähler einen radioaktiven Zerfall misst.

Die “Smart Things” in der Casa Jasmina sind bisher hauptsächlich Kunstwerke, die mit dem Konzept der Calm Technology spielen. Ein wenig Technik hat auch seinen Weg in die Casa direkt aus dem Regal der Elektronik Supermärkte gefunden. Ein Roomb, ein selbsttätiger Staubsauger, ist zwar nicht vernetzt, aber doch auf seine robotische Weise “smart”. Und dann ist da noch ein Smart-TV Fernseher von Samsung. Just an dem Abend der Eröffnung der Casa Jasmina stand Juventus Turin im Finale der Champions League dem FC Barcelona gegenüber – ein Spiel, dass kein Turiner versäumen durfte. Aber trotz all der Nerds und Geeks, die anwesend waren, gelang es uns nicht, ein TV-Signal auf das Smart-TV zu bekommen. Zu guter Letzt stöpselte ich den Samsung Fernseher an meinen Laptop und degradierte ihn damit zu einem völlig “dummen” Bildschirm für das eigentlich smarte und vernetzte Gerät, das allerdings noch so ganz im 20. Jahrhundert verhaftet ist. Als das erledigt war, gingen die Schwierigkeiten aber weiter. Wir mussten feststellen, dass Mediaset, Italiens dunkle Fernsehmacht, den Stream nur über das Silverlight-Plugin ausspielt – einer Video-Technologie, die so veraltet ist, dass sogar ihre Erfinderin Microsoft den Support schon vor Jahren eingestellt hat. Auf meinem Rechner installierten wir also eine Virtual Machine mit einem zehn Jahre alten Windows, damit wir eine entsprechend antike Version des Internet Explorers darin zum laufen bringen konnten.

My laptop, running Windows XP in a VirtualBox, attached to the "Smart TV" ...
Mein Laptop, auf dem Windows XP in einer VirtualBox läuft, angeschlossen an das “Smart TV” …

Diese lustige Anekdote illustriert, was am “Smart Home” Business falsch läuft, so wie es sich die Unternehmen der traditionellen Unterhaltungselektronik ausmalen. Das Design von Fernsehgeräten ist unverändert seit der Zeit, als es nur ein paar Kanäle gab, zwischen denen man hin und herschalten konnte, und die keinen Bedarf an einer Tastatur hatten, auf der man komplexere Befehle eingeben kann. Noch schlimmer ist das Online-Video Angebot von Mediaset. Getrieben durch den Wunsch nach Kontrolle über die “digitalen Rechte” an den Inhalten, haben sie einfach ihr proprietäres Distributionssystem auf einer lebensunfähigen Technologie aufgesetzt. Falls kritische Infrastrutkur auf so veralteter Software läuft, wird sie leicht zum Sicherheitsrisiko. Man sollte nicht einmal seine Waschmaschine darüber laufen lassen.

Unterhaltungselektronik steht unter dem Ruf, die Industrie mit den schlechtesten Benutzerschnittstellen zu sein, mit dem geringsten Verständnis davon, wie sich Menschen verhalten. Wer jemals versucht hat, die Uhr am Küchenherd zu stellen, weiß, dass die Ingenieure der Elektronikbranche genau auf der anderen Seite des Universums zuhause sein müssen, wie ihre Kunden. Haushaltsgeräte waren schon immer veraltet, Reste übriggebliebener Elektronik, zusammengelötet um ein letztes Mal Geld zu erwirtschaften. Das ist wirklich nicht die Branche, in deren Obhut man gerne seine privaten Daten anvertrauen möchte. Ebensowenig gelten die Versorgungsunternehmen, die schließlich zu den wichtigsten Antriebern des Smart Home zählen, als besonders kundenfreundlich.

Andererseits sind wir mehr und mehr gewöhnt, alle dinge mobil, das heißt auf dem Smartphone zu erledigen. Dienste, die nicht via App auf dem Mobiltleefon erreichbar sind, fühlen sich veraltet und unpraktisch an. Leute, die einmal die Bequemlichkeit der mobilen Welt erfahren haben, werden alle elektronischen Dinge fortan daran benchmarken. Und warum auch nicht? Nur weil die alten Lieferanten unserer Dienstleistungen und Produkte sich nicht nach unserer Nachfrage richten, heißt doch nicht, dass wir darauf verzichten müssen! Sollten wir einfach aufgeben und die altmodischen, ineffizienten Produkte weiter nutzen, die nur unsere Zeit, die Energie und weitere Ressourcen vergeuden?

Open Source

Soll mein Haus von Google Nest oder von Apple Home betrieben werden? Man stelle sich die lächerliche Situation vor, in der man, hat man sich einmal für einen Anbieter entschieden, künftig alle seine Sachen nur noch dort und nirgends anders kaufen kann, weil die proprietären Betriebssysteme sich nicht gegenseitig vertragen. Wir müssten entweder die Smart-Home-Funktionalität aufgeben, oder alle Dinge im Haus auf das eine System abstellen. Es mag einige Marken-Puristen geben, die gedankenlos tatsächlich in so einer Monokultur leben wollen. Für die meisten Leute scheit das aber wenig praktikabel.

cj9Um erfolgreich zu werden, müssen die smarten Geräte nahtlos miteinander zusammenwirken, egal, wer der Hersteller ist. Das ist nicht das Geschäftsmodell von Unternehmen wie Google oder Apple. Offene Standards zur Interoperabilität ist genau das, wofür Open Source steht. Und der Arduino ist ohnehin die ausgereifteste und stabilste Technik für das IoT. Aber Open Source Technologie ist nicht nur besser darin, Dinge zusammenarbeiten zu lassen. Open Source bedeutet, dass man die Dinge hacken kann. Hacken, das heißt, die Dinge zerlegen, auseinanderbauen, verstehen, wie die Dinge und noch wichtiger, wie ihre Software funktionieren. Das ist, soweit ich weiß, der einzige Weg, Dinge wirklich sicher zu machen. Nur was gehackt werden kann, wird wirklich getestet. Nur wenn es eine lebhafte Diskussion über mögliche Sicherheitslücken gibt, und darüber, wie man diese flicken kann, wird diese Technologie für uns sicher werden. Diese Lektion sollten wir inzwischen gelernt haben.

The Internet of Everything

“As Warren Ellis said at ThingsCon, we may be living in the last days when nobody knows where we are — when the home is still like an aristocrat’s castle, distinct from the rest of the world.”
Bruce Sterling

Beim Internet of Things geht es nicht nur um Maschinen, die miteinander sprechen. Die Sensoren in unseren Geräten erzeugen und sammeln Daten, die direkt mit unserem Privatleben verbunden sind, mit unserem Verhalten und der Umwelt, die uns umgibt: “Data is made of people”

Datenschutz, informationelle Selbstbestimmung und Algorithmenethik werden nocheinmal wesentlich wichtiger, da das IoT in Wahrheit eher ein “Internet of Things and Humans” ist, wie Tim O’Reilly es nennt, oder vielleicht noch deutlicher: das “Internet of Everything”. Konzepte wie Big Data oder IoT tragendas Risiko, zum Schlagwort und zur leeren Marketingphrase zu verkommen. Das Marketing- und Techno-Blabla verdeckt dabei, wie alldurchdringend der Einfluss der digitalen Technologie in unserem Leben tatsächlich schon geworden ist. Ein Modell des Smart Home nach menschlichen Maßstäben wird uns helfen, dies wieder sichtbar zu machen. Es wird uns in die Lage versetzen, zu erforschen, wie wir das beste aus dieser wirklich bemerkenswerten Entwicklung gewinnen können, die uns helfen kann, nicht nur unseren Alltag bequemer zu gestalten, sondern auch, ihn sogar erfüllter zu machen, sozialer, und nachhaltiger.
Und darum bin ich überzeugt, dass Casa Jasmina ein so wichtiges Projekt ist.

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Bruce Sterling über die Casa Jasmina
Video: Introducing Casa Jasmina
Transmedia 2015
Casa Jasmina (this was at least my first encounter with the idea)

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Slow Startups
Algorithm Ethics
Ethics for the Quantified Self
My socialist post-liberal techno-determinism

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Slow theory

Wir trauern um Hans Georg Stolz

Hans Georg Stolz (mit dem Rücken zu uns)Das Slow Media Manifest greift zu kurz. Es ist geschrieben aus der Perspektive der Medien, der Verlage, der Medienmacher. Wäre es nicht an der Zeit, die Lebenswirklichkeit der Menschen zu betrachten, zu erforschen, wie Menschen mit Medien umgehen, welche Bedeutung Medien für sie haben, und zwar nicht allgemein, sondern in unserem Sinne, als Slow Media? Statt im Esseyistischen zu verharren – sollten wir nicht lieber Werkzeuge entwickeln, um Slow Media praktisch umzusetzen?

Hans Georg Stolz, Professor für Publizistik in Mainz, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Mediaanalyse, Geschäftsführer der Organisation der Mediaagenturen, war auch Mitglied in unserem Slow Media Institut. Er hatte darauf bestanden, dass wir aus unserem Elfenbeinturm herabsteigen sollten, um uns dem Tagesgeschäft der Medien und Medienforschung zu stellen. Gemeinsam haben wir daran gearbeitet. Am vergangenen Donnerstag habe ich endlich unsere gemeinsame Forschungsstudie Slow Types auf dem Slow Media Symposium der Universität Bath Spa in Westengland zum ersten Mal öffentlich vorgestellt. Zwei Tage später ist Georg gestorben.

Seit seinen Tagen bei Sat.1 in den 90ern war Werbung, speziell Media sein Thema. Werbung war für ihn wesentlicher Teil der Publizistik. Als Geschäftsführer bei Carat in Wiesbaden baute er den Content-Monitor auf, ein durchdachtes Forschungskonzept, dass die Inhalte der Publikationen quantitativ auswertbar machte – lange bevor es Volltextsuche im Web gab. 2000, als er sich mit einer eigenen Agentur in Mainz selbständig gemacht hatte, wurde er der Vorseitzende der agma, damit sozusagen der “leitende Medienforscher” in Deutschland. Während der Verteilungskampf um die Aufmerksamkeit der Zuschauer und die damit verbundenen Werbebudgets keinen Platz für Zusammenarbeit zwischen den Mediengattungen lassen sollte, ist es Hans Georg Stolz dennoch gelungen, alle am Tisch zu behalten. Ich glaube, sein Trick war, den Unwillen der Kontrahenden schnell auf sich zu ziehen und die eigentlichen Konflikte dadurch zu entschärfen. Auf der 50-Jahr-Feier der agma in Dresden konnte er ankündigen, dass Online als weitere Mediengattung zur agma hinzustoßen würde. Beim Festakt auf der Bühne der Semper Oper blieb allerdings unsichtbar, was sich an Diplomatie, an Kabale und persönlichen Dramen hinter den Kulissen abgespielt hatte und auch zukünftig abspielen sollte. Und immer neue Gräben brachen auf. Mit jedem Prozentpunkt, den Print verlor, mit jedem Zuschauer, der von TV zu Online Video wechselte, wurde die Diskussion schwieriger, wurden die Gemeinsamkeiten, die die Mediengattungen zusammen an die agma banden, immer dünner. Georg nahm das stets mit Humor (was viele Leute in den Gremien umso mehr gegen ihn aufbringen konnte) und nahm die Gegner unermüdlich an der Hand, gerne in Form von “konspirativen Treffen” in Weinlokalen in Mainz oder Rheinhessen.

Sein Ziel, die agma zu reformieren, von den Silos der Mediengattungen zu befreien, die Medienforschung daran auszurichten, wie die Menschen ihre Medien rezipieren, statt wie sie produziert werden, hat Georg nicht mehr erreicht. Ich bin sehr skeptisch, ob es ohne ihn noch eine Chance zu dieser Reform gibt. Ich fürchte, dass der frühe Tod von Hans Georg Stolz ein gewaltiger Verlust für die deutsche Medienwirtschaft ist. Wie groß, werden wir erst in Jahren erkennen.

Jeder Besuch in Mainz war etwas ganz besonderes. Georg holte mich vom Bahnhof ab; wir fuhren zu seinem Büro, von wo wir meist schon nach kurzer Zeit wieder aufbrachen, in die portugisische Sportgaststätte neben an, irgendwo nach außerhalb, auf ein Weingut, oder einfach nur zum Café am Ballplatz. Mit Georg (ehemaliger Handballer, Mainz05-Fan) musste ich sogar Fußball ertragen. Bei der WM 2006 zum Beispiel saßen wir im Biergarten des Hofbräukellers in München, weil wir ein Spiel ansehen “wollten” (also er wollte, ich wäre auch einfach so irgendwo ein Bier trinken gegangen). Jetzt hatten sowohl Georg als auch ich schon damals nicht mehr sehr viel Haare auf dem Kopf, daher hatte er Sonnenmilch mitgebracht. Lichtschutzfaktor 50. Blau, damit man sieht, wo man die Kinder schon eingecremt hat. So saßen wir mit blau glänzenden Glatzen im Biergarten in der vollen Sonne, vom Spiel konnte man nichts erkennen, dafür war es viel zu hell, aber das Bier war kühl.

Georgs Art zu lachen war ganz bemerkenswert. Er lachte viel, laut, sehr tief, richtig “Hahahaha”. Ich glaube, ich habe nie mit einem Menschen mehr gelacht, als mit Georg.

Sabria, Benedikt und ich haben vor etwa einem Jahr angefangen, mit Georg gemeinsam ein Konzept zu entwickeln, um die Werte, Lebensstile, die Einstellungen, Markenpräferenzen und die Mediennutzung von Menschen im Hinblick auf Slow Media in Zusammenhang zu setzen. Unserer Modell aus psychographischen und soziokulturellen Merkmalen haben wir dann in Polaritäten und Fragen übersetzt. Daraus hat das münchner Marktforschungsinstitut d.core dann eine Studie entwickelt und mit 2.500 Teilnehmern und jeweils 450 Fragen tatsächlich durchgeführt. Die Ergebnisse sind vor wenigen Tagen fertig geworden. Auf der re:publica wollten wir darüber sprechen. Georg wird uns dabei fehlen. Er wird mir fehlen, weil er mein Antrieb war, überhaupt so weit zu gehen, Slow Media nicht einfach als Blog mit netten Texten stehen zu lassen, sondern weiter zu arbeiten, zu forschen und unser Manifest zu etwas weiter zu entwickeln, mit dem Medienschaffende tatsächlich arbeiten können. Georg wird mir fehlen, weil er mich so oft dazu ermutigt hat, Dinge zu tun, oder anders zu tun. Er wird mir fehlen, weil er mein Freund war.
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