Ich bin Zug gefahren. Durch den Schnee und richtig lang. Weiße Wiesen, Kopfweiden an Feldsäumen, Strom und Bäche vereist. Schräg hinter mir sitzt ein altes Ehepaar und liest eine Tageszeitung. Sie einen Teil. Er einen Teil. Er: “Oh, schau mal, das Gedicht des Tages ist von Hölty.” Und er liest es ihr vor. Sie blickt von ihrem Teil der Zeitung auf. Sie hört zu, sie sprechen kurz darüber. Dann lesen sie weiter, jeder für sich. Es wirkt wie eine Zeremonie. Rührend. Und schön. Ein älteres Paar zwei Sitzreihen weiter praktiziert magischerweise dasselbe. Ein anderes Paar. Eine andere Zeitung. Ein anderes Gedicht.
Das ist Slow Media. Das ist so Slow Media, dass es kaum zu überbieten ist. Manchmal ist die Poesie des Alltags aber auch unscheinbarer. Zum Beipiel als ich neulich während einer Namenssuche auf den Wikipedia-Eintrag zu dem “Okapi” stieß. Da heißt es: “Das Okapi trägt ein schokoladenfarbenes Fell, das in einem rötlichen Glanz schimmert.” Voller Poesie. Mit Hingabe geschrieben von einem wahren Liebhaber. Das Okapi “hat” kein Fell, nein: Es “trägt” eines. Welche Grazie. Es ist ein Wesen, eine Kreatur, eine Dame im Pelz.
Was mache ich mit so einem Fund? Ich freue mich. Ich lese es vor: “Oh, schau mal!” Und noch mehr: Ich twittere es. Ich zitiere daraus. Ich verlinke darauf. Und freue mich, dass das schokoladenfarbenschimmernde Okapi seinen Pelz vor größerem Publikum tragen darf. Auch das ist Slow Media. Etwas entdecken und es mit anderen teilen.
Noch ein Beispiel. Auch aus der von Löschdiskussionen geplagten Wikipedia. Ich möchte wissen, ob es in der Wikipedia einen Eintrag über den “Tellerrand” gibt (gibt es nicht) und bleibe bei dem Eintrag für “Teller” hängen. Wieder: Pure Poesie. Diesmal: Bildpoesie. Ich öffne den Artikel und sehe dieses:

Dieses Bild. Dieses Wort. Geradezu subversiv. Liebevoll. Hat es Augen? Lacht es? Lebt es?
Das Bild strahlt etwas aus, was über die reine Sachinformation hinausgeht. Vielleicht Aura? Ich sitze mit anderen Kongressteilnehmern zusammen. Ich lese es vor, ich zeige es. Wir freuen uns daran. Und: Ich twittere das Teebeuteltellerchen. Ich gebe es weiter. Wer einen Sinn dafür hat, der nehme es in Empfang und freue sich daran. Vielleicht zeigt jemand es seinen Freunden, oder seiner Frau. Oder es bringt jemanden auf die Idee, mal wieder ganz in Ruhe einen Tee zu trinken und über die schönen Dinge des Lebens nachzudenken. Wie das alte Ehepaar im Zug. Das einen Tee trinkt und sich dabei Gedichte vorliest.
6 replies on “Ein Ehepaar im Zug”
Das Teebeutellellerchen würde übrigens auch schon in dem esperantistischen Beitrag zum Thema “Tellero” in Empfang genommen. Dort heißt es dann “Tesaketteleretoj”.
Das Teebeuteltellerchen auf Reisen: http://twitter.com/khStannies/status/7704499583 quod erat demonstrandum 🙂
[…] This post was mentioned on Twitter by Benedikt Koehler, Joerg Blumtritt, S. David, Stefan Koelle, Wolfgang Hamm and others. Wolfgang Hamm said: RT @furukama Heute auf dem Slow Media Blog: Wie das Internet unser Zugfahren verändert http://www.slow-media.net/ein-ehepaar-im-zug/ <-gut! […]
Moin,
ich lese deinen Blog schon seit einiger Zeit mit der Frage im Kopf ob eine Slow- Media Bewegung eine ähnliche Wichtigkeit (gern auch erstma nur für mich) haben kann wie die Slow- Food Bewegung?
Bei diesem, übrigens sehr schönen Blogpost finde ich es teilweise für mich beantwortet: eher Nein. Denn ich weiß nicht wie ich ein schönes Gedicht zu einer ruhigen Stunde meiner Frau in 37 Jahren vortrage. Es wird voraussichtlich nicht zwingend auf Papier sein. Muss es das um in der Haltung von Achtsamkeit und mit entsprechender Würdigung wahrgenommen zu werden?
@jörn hendrik ast
Es ist nicht wichtig, ob Sie Ihrer Frau das Gedicht in 37 Jahren auf Papier, digital oder mittels Buschtrommel vortragen. Entscheidend ist, dass Sie etwas entdecken und es mit jemandem teilen möchten. Das Bedürfnis nach Kommunikation wird bleiben, egal in welchem Medium.
@Sabria Absolut! Und ganz ehrlich das kann ich um ein so vieles aufregender, spannender und besser Online, dass ich die Zeitung als Medium nicht vermissen werde.
Um es weiter zu führen, die Slow-Food Bewegung richtet sich meiner Meinung nach gegen denaturierte “Lebens”mittel und dem Wahnsinn von Massenproduktion und Haltung. Auch wenn ich ab und an gerne Fast Food esse, finde ich es richtig und wichtig das man grundsätzlich die hedonistischen Werte echter Kochkunst hochhält und sie erhält.
Worauf spielt ihr genau an mit dem doch artverwandten Wortspiel, ist das Fastmedia Konsumieren eurer Meinung ähnlich schädlich wie Fastfood? Woran macht ihr das fest?
Lieben Gruß
Jörn Hendrik
(gerne per Du! 🙂