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Die Grenzen der Beschleunigung

Eine Kurzversion dieses Essays erschien in dem Wirtschaftsmagazin “brand eins” (brand eins, 15. Jahrgang, Heft 03 März 2013, S. 110 – 113)

 

Wie verändert sich unsere Arbeitswelt? Die digitalen Technologien haben uns neue Möglichkeiten der Kollaboration und Flexibilität gebracht, agile Strukturen und weltweite Vernetzung. Zugleich steigt der Anforderungsdruck der globalen Märkte. Die ständige Suche nach Einsparmöglichkeiten, Steigerung der Effizienz, von Jahr zu Jahr steigende Umsatzziele werden von vielen Menschen als Beschleunigung empfunden. Sind dies Einzelfälle oder stehen sie für eine strukturelle Veränderung der Arbeitswelt? Sind wir eine Gesellschaft am Limit? Woran würden wir es merken, wenn wir uns der Grenze nähern? Eine Spurensuche.

„Jeder gibt immer sein Bestes.“ Diesem Satz, einem Leitsatz der neuen Arbeitswelt und Mitarbeiter-Motivation, möchte man spontan beipflichten. Natürlich, denkt man. Was sonst. Jeder gibt immer sein Bestes.

Bei genauerer Betrachtung aber enthüllt der harmlose Satz in seiner Grammatik einen fragwürdigen Anspruch: Das Subjekt „Jeder“ bezeichnet die maximale Anzahl von Subjekten. Das Temporaladverb „immer“ ist der Ausdruck des zeitlichen Maximums. Das „Beste“ wiederum ist ein Superlativ der Qualität, mit dem Possesivpronomen „sein“ an das Subjekt gebunden und Objekt zum Verb „geben“. Der Satz steht im erzieherischen Imperativ, der keinen Widerspruch duldet: „Jeder gibt immer sein Bestes.“ Er besteht in allen sprachlichen Bestandteilen aus Maximierung. Der Satz ist eng und dicht, da ist kein Raum. Er ist totalitär.

Digitale Technologie als Katalysator

Vor dem Hintergrund derzeitiger technologischer Möglichkeiten entfaltet dieser Satz eine besondere Brisanz. Es ist inzwischen tatsächlich möglich, dass jeder immer erreichbar, ansprechbar, verfügbar ist. Informationen und Kommunikationswege sind nicht mehr an Raum und Zeit gebunden, auch Datengrenzen gibt es praktisch keine mehr. Kein Arbeitnehmer kann sich inzwischen darauf zurückziehen, dass ihn eine Nachricht nicht erreicht hat. Jeder gibt immer sein Bestes. Es ist klar, dass es nicht die Technologie ist, die hier eine Grenze setzt. Die Technik kann immer ihr Bestes geben. Aber kann der Mensch das auch? Und wenn ja: Zu welchem Preis?

Beobachtungen

Eine Freundin hat in einem Unternehmen in Berlin gearbeitet. Eine qualifizierte, kompetente Frau, die auch bereit ist, Führungsverantwortung zu übernehmen. Für einen Langzeitkunden musste plötzlich kurzfristig ein Projekt über die Bühne gebracht werden, in eigentlich viel zu kurzer Zeit, mit eigentlich zu vielen Aufgaben und zu wenigen Leuten. Sie haben es trotzdem geschafft. Sie haben für ihren Langzeitkunden die Ärmel hochgekrempelt und es hinbekommen. Sie waren erschöpft und stolz, und das mit Recht. Herausforderungen gehören zum Berufsleben. Sie geben einem die Gelegenheit, über sich hinauszuwachsen. Es tut gut, wenn man etwas Unmögliches dann doch geschafft hat. „Positiver Stress“ nennt man es. Er ist die Würze eines Arbeitslebens. Er treibt uns an, im positiven Sinne.

Das Unternehmen, für das sie gearbeitet hat, hat dann aber dieses Projekt als Benchmark gesetzt. Der Zeit- und Personalaufwand für alle zukünftigen Projekte, die Jahresziele wurden von nun an nach diesem Ausnahmeprojekt kalkuliert. Es geht doch, hieß es. Das hatten sie ja eindeutig bewiesen.

„Ich habe nette Kollegen, ich liebe meine Arbeit, ich will das nicht aufgeben“, sagte meine Freundin noch letztes Jahr. Es muss irgendwie anders gehen, hat sie gedacht. Sie hat Gespräche geführt, ihrem Team den Rücken freigehalten, Verbesserungen vorgeschlagen, versucht, die Arbeitsprozesse umzustrukturieren und realisierbare Wege zu finden.

Schließlich hat sie doch gekündigt. Es geht nicht mehr, sagte sie. Am Ende hieß es: Sie oder ihre Arbeit. Es war ein trauriger Abschied, es flossen Tränen, auch bei ihr. Das Unternehmen wollte sie mit Geld zurückgewinnen. „Aber was nützt mir das Geld, wenn ich nicht mehr kann?“, sagt sie.

Gesellschaft am Limit

Sie ist – man kann es sich denken – nicht die einzige in ihrem Unternehmen. Andere werden bald folgen. Die Ursache liegt nicht in ihrer persönlichen Art, mit Anforderungen umzugehen. Die Ursache ist struktureller Natur. Das positive Leistungsklima des Unternehmens kippte in dem Moment, als die Maximalbelastung zum Durchschnitt gemacht wurde. Wenn der Ausnahmezustand die Benchmark ist, erzielt das kurzfristige Erfolge. Langfristig aber geht es auf die Substanz. Erst auf die Substanz der Mitarbeiter, dann auf die des Unternehmens.

Es kann nicht im unternehmerischen Interesse sein, wenn motivierte, kompetente, teamfähige und leistungsbereite Mitarbeiter das Unternehmen verlassen, obwohl sie eigentlich bleiben wollen. Es kann auch nicht im Sinne eines Unternehmens sein, wenn andere gute, kompetente Fachleute gar nicht erst bei ihnen als Arbeitgeber zu arbeiten anfangen, weil sie sonst befürchten müssen, dass sie sich eines Tages zwischen ihrer Gesundheit und ihrer Arbeit entscheiden müssen.

Ein neues Phänomen: Die präventive Kündigung

Ich beobachte das zunehmend, wenn Menschen von ihrer Arbeit erzählen. „Mit jedem Kollegen, der kündigt, muss ich noch mehr Projekte übernehmen“, sagt ein Freund, der in der Energiebranche arbeitet. Die Stellen werden nicht neu besetzt, die Arbeit wird verteilt, Kundenanfragen kann er nun erst nach Wochen bearbeiten. Die Kunden fangen an, unzufrieden zu werden, wer kann es ihnen verdenken. Sein Arbeitsalltag besteht daraus, Feuer auszutreten. Nur die größten, für die kleinen Feuer hat er keine Zeit.

Die Freundin einer Freundin arbeitet seit Jahren in Hamburg bei führenden Werbeagenturen mit großen Markenkunden. Sie berichtet dasselbe. Immer schneller, immer mehr musste sie arbeiten, von Pitch zu Pitch. Sie war eine zeitlang krank. Sie erholte sich und kam wieder. Befasste sich mit Gesundheitsmanagement, schlug Verbesserungen vor. Versuchte, ob es nicht doch geht. Es ging nicht. Auch sie hat gekündigt.

Die Geschichten ähneln sich. Ist es Zufall? In den gängigen Burnout-Statistiken der Krankenkassen, die seit Jahren einen zunehmenden Anstieg langer Ausfallzeiten beklagen, tauchen diese Fälle präventiver Kündigungen nicht einmal auf. Sind das alles Low-Performer? Ich bezweifle das. Es ist nicht hohe Leistung an sich, die fähige Leute belastet. Es ist die immerwährend erwartete weitere Leistungssteigerung.

Dass Unternehmen von ihren Mitarbeitern hohe Leistungen erwarten, ist richtig und sinnvoll. Eine strukturell implementierte kontinuierliche Leistungssteigerung aber ist ein Experiment. Wir wissen nicht, ob das auf Dauer funktioniert und wohin es uns führt. Wie reagiert die Ressource Mensch unter diesen Bedingungen? Welche Auswirkungen wird es auf die Gesellschaft haben, auf Unternehmen, auf die Wirtschaft?

Spurensuche

2012 geriet ein Mitarbeiter-Bewertungssystem in den Fokus der Medien, das die Leistungssteigerung für die Mitarbeiter zum Grundprinzip macht. Thomas Radermacher, Betriebsrat bei dem Unternehmen Microsoft, spricht im August 2012 im ZDF im Rahmen eines Frontal21-Berichtes über das microsoftinterne Mitarbeiter-Bewertungssystem [s. Update*]: An das klassische Schulnotensystem angelehnt, müssten in jedem Jahr ein vordefinierter Prozentsatz der Mitarbeiter mit schlechten Noten bewertet werden, unabhängig von ihrer tatsächlichen Leistung. Dieses führe, so sagt er, zu einer starken Belastung der Mitarbeiter und zu einem hohen Anstieg langer burnout-assoziierter Ausfallzeiten. Warum belastet dieses Bewertungssystem auch leistungsbereite und an sich belastbare Menschen? Weil eine weitere Steigerung ihrer Leistung von Jahr zu Jahr erwartet wird. Weil sie niemals das Gefühl haben können, gut genug zu sein.

Rank and yank, up or out

„Stack ranking“ heißt diese Methode. Auch im Bankenwesen wird sie beispielsweise angewandt. Der Amerikaner Jack Welch, der über 20 Jahre lang CEO von General Electric war, machte die Methode populär. Jährlich entließ er je 10 % seines Managements. Mitarbeiter wurden nach einem vorab festgelegten Proporz in top, good und poor Performer eingeteilt und entsprechend aussortiert, „rank and yank“. Man kann auch sagen: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Das System soll eine kontinuierliche Verbesserung der Performance erzielen, eine Art survival of the best Performer auslösen. Es ist fraglich, ob das auf lange Sicht gelingt. Denn die damit verbundenen Kollateralschäden können zum negativen Kostenfaktor für das Unternehmen werden. Der amerikanische Autor Kurt Eichenwald nennt das Stack Ranking das destruktivste Element der Managementkultur von Microsoft. Darin waren sich alle ehemaligen und gegenwärtigen Mitarbeiter des Konzerns einig gewesen, die er für eine Dokumentation für Vanity Fair interviewt hatte.

Gemeint war dabei nicht einmal die negative Auswirkung auf die Gesundheit der Mitarbeiter, sondern die destruktive Wirkung auf das Unternehmen selbst: Der interne Konkurrenzkampf behindere eine kooperative, konstruktive Zusammenarbeit. Je besser das Team, umso schlechter das eigene Ranking. Projekte von Kollegen würden sabotiert anstatt unterstützt, Informationen zurückgehalten. Der Anreiz, mit anderen brillanten Programmierern zusammenzuarbeiten und brillante Ideen zu realisieren, gehe verloren. Sein Fazit: „In the end, the stack-ranking system crippled the ability to innovate at Microsoft“.

Eine verwandte Management-Technik ist „up or out“, auch bekannt als „grow or go“. Sie wird vor allem bei großen Unternehmensberatungen praktiziert. Wer in einer festgelegten Zeit nicht befördert worden ist, soll das Unternehmen verlassen. Auch Zielleistungsverträge schreiben oft eine Leistungssteigerung vor. Sie setzen sich zunehmend auch im Gesundheitswesen durch. Jeder zweite Chefarzt arbeitet laut der ARD-Filmdokumentation „Vorsicht Operation“ unter einem Zielleistungsvertrag, zum Teil mit vereinbarten Fallzahlsteigerungen. Zeitgleich gibt es immer mehr Ärzte, deren Verträge befristet sind.

Die Steigerung als Grundzustand

Diesen Management-Techniken liegt derselbe Mechanismus zu Grunde: Eine Steigerung wird als Grundzustand definiert, um eine immerwährende Optimierung der Performance zu erzielen – ohne Regeln für das mögliche Erreichen der Optimierungsgrenze zu definieren. Dies aber wäre nötig, um Folgekosten vom Unternehmen fernzuhalten. De facto wird dem Problem derzeit mit immer neuem Nachschub an Mitarbeitern begegnet. Zynisch könnte man sagen, ein gewisser Verschleiß ist einkalkuliert. Das ist bei einem Technologie-Unternehmen nicht anders als im Agentur-Gewerbe.

Kollateralschäden

Eine zeitlang funktioniert dies. Überspannt man den Bogen aber, fangen die Kosten an, den Nutzen zu überwiegen. Während in die von allen avisierte Richtung immer weiter optimiert wird, reißt an anderen Stellen das Gewebe des Organismus auf und es bilden sich im Unternehmen unberechenbare Brüche und Risse. Zum Beispiel ein Unternehmen, das Arbeitsabläufe zu sehr strafft und dies auf der anderen Seite mit Unzufriedenheit, Fluktuation und hohen Ausfallzeiten des Personals zahlen muss. Oder der Betrieb, der Abteilungen auslagert, die Verwaltung und die Beauftragung externer Firmen aber die Einsparung wieder auffrisst. Oder das Logistikunternehmen, das die Reviere der Kuriere über den neuralgischen Punkt hinaus vergrößert. Die feinen Risse im System, die das an anderer Stelle produzieren kann, bekam meine Nachbarin zu spüren: Der Kurier hatte kurzerhand ihre Unterschrift gefälscht, um das Paket zu quittieren und seine Auslieferungsziele zu erreichen. Wer weiß, was dort im Schatten noch passiert? Folgekosten wie diese, die an anderer Stelle des Unternehmens auftreten, müssen sinnvollerweise beachtet und mitkalkuliert werden.

Fragwürdige Unternehmenskultur

Die Filmemacherin Carmen Losmann hat in ihrer Dokumentation „Work hard play hard“ die Mechanismen dieser neuen Arbeitswelt dokumentiert, mit unerbittlicher, unkommentierter und nüchterner Kamera. Auch die hier dokumentierten Unternehmen stehen stellvertretend für eine allgemeine Entwicklung. Im Gespräch sagt sie, es sei ihr nicht darum gegangen, einzelne Unternehmen an den Pranger zu stellen, sondern es gehe ihr um die generelle Entwicklung der Arbeitswelt, für die sie exemplarisch sind.

In ihrer Dokumentation klagt niemand. Keiner der gefilmten Mitarbeiter oder Führungskräfte spricht über Belastung oder gar Burnout. Und doch zeigt die Dokumentation deutlich den Nährboden, auf dem so etwas gedeihen kann. Im Mitarbeiter-Training in den Bäumen gelobt ein Mitarbeiter, von jetzt ab Prozesse und Aufgaben schneller und zielführender zu erledigen, um für sein Unternehmen mehr Umsatz zu generieren. Eine „Mega-Wachstums-Mentalität“ gibt ein Konzernleiter in der Neujahrsansprache unter Applaus seiner Konzernmitarbeiter als Devise aus und es wird einem merkwürdig unwohl dabei. Es ist die Rede von operationalen Spitzenleistungen, die – „täglich“ – angestrebt werden. Eine Change Management Expertin erklärt ihre Vision der ständigen Verbesserung, die sie für das Unternehmen hege und dass sie diese „wirklich nachhaltig in die DNA jeden Mitarbeiters verpflanzen“ möchte.

Jemand liest ein Beispiel für einen Teamkodex vor und verspricht sich an signifikanter Stelle. Der O-Ton ist aussagekräftiger als jeder Kommentar es sein könnte: „Jeder ist verpflichtet, sein Bestes zu geben. Jeder übernimmt sich…“ (hier stockt er und setzt neu an): „übernimmt für sich und andere Verantwortung und sucht nach Schwachstellen und Verbesserungsmöglichkeiten“. Der Versprecher ist tatsächlich so passiert, die Regisseurin hat ihn nicht herausgeschnitten und im Film gelassen.

Growing Faster in a Fast-Growth Economy?

Ständige Verbesserung klingt gut. Doch ganz so einfach ist es bei näherer Betrachtung nicht. Gerade das Qualitätsmanagement zeigt dies: Aus jedem Einzelnen das Maximum herauszuholen bedeutet nicht automatisch, dass sich in der Summe auch das Optimum für das ganze Unternehmen ergibt. Es ist zum Beispiel nur bedingt sinnvoll, in einem Prozesschritt mehr Bauteile zu produzieren als im nächsten weiterverarbeitet werden können. Wichtiger als die maximale Einzelleistung ist, dass die Taktung der Prozesschritte sauber koordiniert ist. Wenn der Prozess nicht stimmt, kann der Einzelne dies mit seiner eigenen Leistung nicht auffangen, so sehr er sich auch anstrengt. Es gibt dann nichts Richtiges im Falschen.

Der amerikanische Physiker und Statistiker William Edwards Deming gilt als Pionier des prozessorientierten Qualitätsmanagements und hatte nach 1950 großen Einfluss auf Japans Automobilindustrie. Ausgerechnet er identifiziert als zwei der „sieben tödlichen Krankheiten eines Managementsystems“: performanceorientierte Mitarbeiter-Rankings wie das Stack Ranking und die Fixierung auf kurzfristigen Gewinn. Es ging Deming also um eine Verbesserung der Qualität, aber nicht um jeden Preis. Das Management sollte ebenso darauf achten, dass die Bodenhaftung und der Bezug nicht verloren gehen. Denn wenn die Gesamtkosten einer Maßnahme steigen, sinkt auch die Qualität.

Der Amerikaner Jack Welch, der das Stack Ranking populär gemacht hat, gilt auch als der Vater des Prinzips des Shareholdervalue als Unternehmensziel. Der Anfang des Shareholdervalue-Gedankens wird in einer Rede gesehen, die Jack Welch 1981 in New York hielt. Sie hieß „Growing Fast in a Slow-Growth Economy”. 2009 gab Jack Welch, inzwischen über 70-jährig, in einem Interview gegenüber der Financial Times und angesichts der Finanzkrise folgendes zu Protokoll: “On the face of it, shareholder value is the dumbest idea in the world. Shareholder value is a result, not a strategy… Your main constituencies are your employees, your customers and your products.” Er rät den Unternehmen nun – ob aus Altersweisheit oder aus feinem Gespür für Humor – statt auf „quarterly profit“ auf eine Zunahme der „longterm values“ der Unternehmen zu achten.

Was ist in der Zwischenzeit passiert? Vielleicht ist es genau das, was den Eindruck der Beschleunigung hervorruft: Was 1981 noch „Growing Fast in a Slow-Growth Economy” war, ist inzwischen zu einem “Growing even Faster in a Fast-Growth Economy“ geworden. Das eine geht. Das andere offenbar nicht.

Grenze und Schwelle

Es scheint tatsächlich so, dass wir an die Grenze von etwas geraten. Die Beobachtungen gleichen sich in allen Branchen. Was Kollegen und Freunde erzählen, wovon die Controllingabteilungen der Unternehmen berichten, was die Studien der Krankenkassen ermitteln, der Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin – dies alles ergibt ein sich wiederholendes Muster. Es ist das Muster einer Steigerung, die an ihre Grenzen gerät. Aber was sollen wir tun mit dieser Erkenntnis?

Es hilft, sich diese Grenze, die möglicherweise bald erreicht wird, als Schwelle vorzustellen. Es hebt den Blick für das, was danach kommt. Zwar funktionieren bestimmte Mechanismen nicht mehr, die uns über 20, 30 Jahre begleitet haben, aber es werden sich neue entwickeln. Methoden und Mechanismen, die sich sinnvoll einer sich ständig wandelnden Welt anpassen können.

Was uns bevorsteht, ist kein quantitativer, sondern ein qualitativer Wechsel. Es kann nicht mehr darum gehen, dasselbe schneller, öfter und mehr zu machen, sondern wir müssen etwas Anderes machen. Wie dieses neue Andere aussehen kann, das ist die Grundfrage des von uns entwickelten Slow Media Ansatzes. Er lässt sich auch auf die Arbeitswelt und Unternehmen übertragen: Wie nutzen wir den technologischen Fortschritt sinnvoll? Wie lässt sich ein positives Leistungsklima schaffen und erhalten? Wo lassen sich Dehnungsfugen einbauen, die das Gewebe des Unternehmens vor einem Zerreißen schützen? Welche Perspektive müssen wir einnehmen, um das Ganze sehen und langfristig sinnvoll handeln zu können?

Ein wachsender Organismus mit positivem Leistungsklima

Die Aufgabe für die Zukunft wird sein, sich differenziert mit Wachstum zu befassen. Dazu gehört, die feinen Unterschiede zwischen einem positiven und nährenden Wachstum und einem Wachstum, das verzehrend und zerstörerisch wirkt, zu analysieren. Beispiele für ein ständiges Wachsen hin zum Besseren gibt es: Aus dem Bereich der digitalen Welt ist es der Permanent-Beta-Gedanke von Open Source Software, die sich in der Nutzung und ständigen Rückkopplung kontinuierlich immer weiter verbessert und anpasst. Kulturhistorisch lassen sich Erzeugnisse mündlicher Tradition wie Volksmärchen als eine ständige Optimierung und Anpassung an Bedürfnisse und Erwartungen von Erzählern und Zuhörern verstehen. Der Mensch selbst ist mit seinem lebenslangen Lernen und Wachsen ein gutes Vorbild. Ebenso die menschliche Sprache als System, das sich der verändernden Welt anpasst. Immer sind solche Anpassungs- und Wachstumsprozesse mit der Gratwanderung zwischen Anpassung und Wahrung von Identität und Bezug verbunden.

Auch Unternehmen können sich als wachsenden und lernenden Organismus verstehen und jeden Tag besser werden, ohne sich selbst aufzuzehren. Gefordert ist dabei eine aufmerksame Fehlerkultur, eine Optimierung, die die eigenen Grundannahmen an der Wirklichkeit überprüft und rückkoppelt. Verbesserung heißt: Aufmerksam werden, wenn die Fluktuation unter der Belegschaft steigt, die Resignation, die Ausfallzeiten. Hinhören, wenn gute Mitarbeiter signalisieren: So geht es nicht mehr, wir müssen andere Wege finden. Die Steigerung absolut zu setzen, ohne die Folgen für das Gesamtsystem im Blick zu halten, ist mit zu hohen Kosten verbunden. Wer wachsen will, muss für Dehnungsfugen sorgen. Soll Leistungssteigerung dem Unternehmen langfristigen Erfolg sichern, muss sie im Unternehmen als Ganzes funktionieren.

Was bedeutet das für unseren Satz am Anfang, „Jeder gibt immer sein Bestes“? Ich möchte den Satz gerne modifizieren: „Jeder handelt so, wie es für das Gesamte am besten ist“. Die ständige Maximalleistung des Einzelnen ist dann nicht mehr nötig. Stellen wir uns also für die Zukunft jenseits der Schwelle Unternehmen vor, denen es gelingt, auf dem Weg des Wachstums auch die mitzunehmen, die sie dort brauchen: ihre Kunden, die Qualität ihrer Leistungen, ihre eigene Identität und ihre Mitarbeiter.

 

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[Update*]:
Inzwischen (seit November 2013) hat das Unternehmen Microsoft das umstrittene Mitarbeiterbewertungssystem Stack Ranking abgeschafft: http://www.theverge.com/2013/11/12/5094864/microsoft-kills-stack-ranking-internal-structure

 

Wie lässt sich ein produktives, effizientes und gesundes Leistungsklima in einer digitalen Arbeitswelt etablieren? Lesen Sie hier mehr zum “Interaktionsmdell Digitaler Arbeitsschutz”: http://slow-media-institut.net/digitaler-arbeitsschutz

 

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Tatorte, Gräben und drei Fragezeichen

Unterstellungen, Beschimpfungen, Verleumdungen. Man könnte meinen, der Begriff  “Strohmann-Argument” sei geradezu für die Debatten um den digtalen Wandel und das Urheberrecht, für den Kampf zwischen “alten” und “neuen” Medien erfunden worden. Unser Slow Media Manifest ist damals aus Unmut über diese unkonstruktiven Debatten zwischen Print und Online, zwischen traditionellen und neu entstehenden Kulturtechniken, entstanden.

Zwei Jahre und eine stattliche Anzahl an Beiträgen über den medialen Kultur- und Grabenkampf später sitzen wir hier immer noch, und das Säbelrasseln geht munter weiter. Keine sachliche Auseinandersetzung in Sicht, stattdessen flattern und blinken in zunehmendem Crescendo täglich weitere Beispiele für diesen Grabenkampf ins Haus. Dabei sind es nicht nur Verwerter, Verlage, Plattenfirmen und andere Gatekeeper, die sich zu Wort melden, um ihr Werk vor dem gierigen Schlund des Digitalen zu retten, sondern auch Urheber, also Autoren und Musiker selbst.

So redete sich der eigentlich zurückhaltende Musiker und Autor Sven Regener kürzlich in Rage, spricht in Bezug auf das Urheberrecht und digitale Verfügbarkeit von “asozialen” Leuten, “Deppen” und gibt einige überraschende Derbheiten (“ins Gesicht pinkeln”) zu Protokoll. Tatort-Drehbuch-Autoren wetzen in einem offenen Brief ihre Federkiele. Sie verwenden dabei in Bezug auf ihre vermeintlichen Gegner (auch hier die nicht näher definierte “Netzgemeinde”) fünfmal das wenig sachliche Wort “Lebenslüge” (sowie zweimal das Adjektiv “demagogisch”), um dann darauf zu verweisen, dass sie für “konstruktive Gespräche” jederzeit bereit stehen.

Dabei wird munter alles durcheinander in einen Topf geworfen, musikdownloadende Kinder und milliardenschwere Konzerne, Grüne, Linke, Kim Schmitz, Piraten, Freibeuter, Hacker, Musik, Filme, Blogger, Eigentum, Leistung, Schöpfungshöhe, ja nicht einmal Urheberrecht und Nutzungsrecht schaffen es die meisten Beteiligten auseinanderzuhalten, selbst wenn sie Juristen sind.  Man muss sich ernsthaft fragen, in welcher Phase der Debatte wir angekommen sind.

Ein funktionierendes Geschäftsmodell für Urheber gibt es schon jetzt nicht

“Ein Geschäftsmodell, das darauf beruht, dass der, der den Inhalt liefert, nichts bekommt, ist kein Geschäftsmodell. Das ist Scheiße”, sagt Sven Regener in seinem Hörfunkinterview. Da stimme ich ihm zu.

Allerdings bezieht er dieses Argument nur auf das, was er mit dem digitalen Wandel heraufziehen sieht. Aber viele der herkömmlichen und von ihm so vehement verteidigten Geschäftmodelle wie z.B. im Verlagswesen basieren genau darauf. Bei einer akademischen Publikation muss dem Autor als Bezahlung die Ehre genügen, dass er den Peerreview-Prozess passiert hat und überhaupt in einem renommierten Verlag publizieren darf. Akademische Forscher sind auf eine lange Publikationsliste angewiesen. Fertig. In or Out. Kennen Sie einen Doktoranden, der seine Doktorarbeit ohne Druckkostenzuschuss hat in einem Verlag drucken lassen können? Das Publizieren ist Voraussetzung für die Promotion, also müssen die meisten selbst dazuzahlen. Um einen Beitrag unter Open-Access-Bedingungen veröffentlichen zu lassen, kann es sein, dass Autoren mehrere tausend Euro zahlen müssen (zahlen, nicht bekommen): Verwaltungskosten, damit der Verlag das Werk des Autors allen Lesern frei zur Verfügung stellen kann. Das ist kein Scherz, das Modell hat sogar einen Namen: “Author-pays“-Modell.

Die Gratiskultur in Verlagen anzuprangern wäre also genauso angebracht wie die Kostenloskultur im Internet. Ich bin Autorin, ich weiß wovon ich rede. Und: Nein, das ist nicht nur bei wissenschaftlichen Publikationen der Fall. Fragen Sie einen freien Journalisten, wieviel Zeilenhonorar er bekommt und ob er sich durch die derzeit bei Verlagen üblichen Total-Buyout-Verträge gut vertreten sieht. Der Unterschied zwischen freiem Journalismus und kostenlos Bloggen ist vielleicht gar nicht so groß, wie Sie denken. In den belletristischen und anderen Buchveröffentlichungen bekommen die Autoren ca. 10 % des Nettoladenverkaufspreises. Rechnen Sie sich aus, ab welcher verkauften Auflage das bei einem Buch von 15 Euro als Geschäftsmodell für den Autor taugt. Verstehen Sie mich richtig. Ich weiß, dass vor allem kleine Verlage, die gute Arbeit machen, nicht anders wirtschaften können. Aber ein Geschäftsmodell für Autoren ist es eben schon jetzt nicht. Und auch bei Künstlern, Musikern und Filmemachern sieht es nicht viel anders aus (wenn sie nicht zu den lucky few wie Sven Regener gehören).

Die Wahrheit ist: Wir haben kein gut funktionierendes Geschäftsmodell für Urheber. Genauer: Wir hatten auch schon vor dem Internet kein gut funktionierendes Geschäftsmodell für Urheber. Für die Verwerter vielleicht, aber nicht für die Urheber selbst.

Digitale Kultur jenseits von Internet-Konzernen

Ein weiteres Missverständnis ist es, die digitale Kultur mit den Wirtschaftsinteressen von Unternehmen wie Google, Facebook und Amazon gleichzusetzen. Auch wenn es offenbar für viele schwer vorstellbar ist: Es gibt eine digitale Kultur jenseits von Facebook. Nicht jeder, der eine Kultur des Teilens und Mitteilens pflegt, ist ein Lobbist von Google. Man kan für digitale Kultur und gegen ihre Vereinnahmung durch Google, Amazon und Facebook sein. Dieses Blog ist mit Beiträgen wie “Die Illusion vom freien Internet“, “Virtueller Rundfunk” und “Ohne Google” das beste Beispiel dafür.

Die richtigen Fragen stellen und beantworten

Deswegen haben Leute wie Sven Regener und die Tatort-Drehbuchschreiber zwar irgendwie recht, aber auch nur, weil sie alles durcheinander werfen. In der Summe treffen sie nicht den Kern des Problems und sie stellen auch nicht die richtigen Fragen.

Ich schlage also vor, das Potpourri der liebsten Feindbilder, das Netzgemeindesüppchen, vor sich hinköcheln zu lassen und sich stattdessen mit der Beantwortung der zugrundeliegenden eigentlichen Fragen zu befassen. Ich denke, auch Sven Regener und alle Tatort-Drehbuch-Autoren können sich ohne Gesichtsverlust meinen drei Fragen anschließen:

Die richtige Frage Nummer 1 lautet: Wie verhindern wir die systemische Ausbeutung von Urhebern?

Die richtige Frage Nummer 2 lautet: Wie schaffen wir es, die digitale Kultur jenseits der Interessen von wirtschaftlichen Unternehmen wie Google, Facebook und Co. zu fördern und zu etablieren?

Und die richtige Frage Nummer 3 lautet: Wann fangen wir endlich damit an?

 

 

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Als Nachtrag zum Thema der Beitrag von Autorin und Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig: “Und dann ist da noch mein T-Shirt-Shop. Wovon ich lebe: Ein Beitrag zur Debatte über Urheberrechte

 

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Die Stasi und die Meme: Was ist politisch an Slow?

Was ist politisch an Slow? Neben den ästhetischen und medientheoretischen Aspekten in dem von uns entwickelten Slow-Media-Ansatz gibt es eine immer stärker zutage tretende politische Dimension. Die Sprengkraft liegt meines Erachtens in der These 6 “Slow Media sind diskursiv und dialogisch”, sekundiert von These 5 “Slow Media fördern Prosumenten”. An die Stelle des klassischen Medienkonsums, der auf der einen Seite einen Produzenten von Inhalten und auf der gegenüberliegenden Seite einen passiv-rezipierenden Aufnehmer von Informationen hat, tritt eine neue Form der Mediennutzung. Sie nähert sich der Form der Kommunikation und dem mündlichen Gespräch an. Die Rollen des Gebens und Nehmens vermischen sich, jeder kann Informationen aufnehmen und weitergeben, kann Sender und Empfänger zugleich sein.

Das ist die Voraussetzung für das, was Jörg Blumtritt den Memetic Turn nennt – die Entstehung memetischer Gemeinschaften durch den Austausch identitätsstiftender Meme, seien es die Idee der Freiheit, das Bekenntnis zu “We all are Khaled Said”, Laufenten oder die vielzitierten Katzenfotos. Diese Gemeinschaften sind nicht mehr lokal oder ethnisch begründet, sie entstehen durch Kommunikation und Austausch, ja sie untergraben bestehende gesellschaftliche Strukturen.

Pfingstmontag auf der Autobahn habe ich das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung gelesen. Dort findet sich der Beitrag “Die Akte “Tänzer”” von Renate Meinhof (Süddeutsche Zeitung Nr. 134, Pfingsten 11./12./13. Juni 2011, S. 15). Der hier geschildete Fall zeigt genau, was an Slow politisch ist.

Es geht in dem Beitrag um die Stasi-Akten über eine Gruppe junger Breakdance-Tänzer in den 80er Jahren in Neubrandenburg. Sie gerieten durch ihre eigenartig geformten Frisuren und die “ruckartige[n], tanzähnliche[n] Bewegungen” ins Visier der Staatssicherheit. Man darf annehmen, dass die Stasi ein feines Gespür für Staatsgefährdung hatte. Wie kann es sein, dass ein Staat sich durch Frisuren und tanzähnliche Bewegungen bedroht sieht?  “Der Tanz stellt keine Beeinträchtigung von bestehenden Norm- und Moralauffassungen dar. Von der Gestaltung des Tanzes ist dieser nicht geeignet, dass ihn Massen nun auf der Tanzfläche ausüben können”, schlussfolgert die Staatssicherheit Neubrandenburgs erleichtert nach eingehender Inspektion und dem Anwerben mehrerer Spitzel.

Und damit benennt sie im Umkehrschluss, wonach sie gesucht und was sie befürchtet hat: Es ist die gesellschaftszersetzende Kraft einer memetischen Gemeinschaft. Frisuren und Tanzstile sind Meme, die Identität stiften, Menschen miteinander verbinden und sich staatlicher Kontrolle entziehen können.

Die Staatssicherheit der DDR hat Meme bekämpft. Sie hat mögliche Herde nicht gesellschaftlich verankerter Gemeinschaften aufgespürt und entschärft: entweder durch die Auflösung der Gruppe oder durch ihre gesellschaftliche Integrierung durch die Einstufung als ein “anerkanntes Volkskunstkollektiv”. Die Gemeinschaft sind wir – so lautet die sozialistische Variante des “l’état c’est moi”.

Die Stasi und mit ihr die Geheimdienste und Staatssicherheitsabteilungen aller autokratischen Regierungen sind Experten im Aufspüren und Entschärfen von Memen. Die Unterbindung und Sabotage von Kommunikation (durch Spitzelei oder durch das Abschalten des Internet) ist früher und bis heute ihre Königsdisziplin. Sie fürchten nichts mehr als Benedikt Köhlers Satz “Meme zersetzen Gesellschaft“. Völlig konsequent ließ die chinesische Regierung wegen Ansteckungsgefahr sofort Suchbegriffe wie “Ägypten” oder “Tunesien” sperren, als die dortigen Dikatoren ihre Meme nicht mehr im Griff hatten.

Doch die Kommunikationswege haben ihre feste Kontur und damit ihre Kontrollierbarkeit verloren. Sie wandeln sich unter dem Zugriff, sie  verändern sich, passen sich an, umgehen Sperren, finden Umwege und neue Räume. Das ist das Potential von Kommunikation und von memetischen Gemeinschaften. Das ist politisch an Slow.

“Dringend empfohlen: TED-Gespräche über Ägypten” Von Ai Weiwei weitergeleitete chinesische Empfehlung des TED-Talks von Wael Ghonim, der Symbolfigur der ägyptischen Revolution

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Die memetische Geste: “Ich höre dir zu”

Der “memetic turn”: Ein  schönes Grundkonstrukt, ein neuer Gedanke, der sich in den Beiträgen der letzten Tagen auf diesem Blog aufgefächert hat. Wir nähern uns dem Begriff, wir kreisen ihn ein. Mischen Flüssigkeiten und Ingredienzen, lösen und fügen Festkörper und Schwebeteilchen. Wer weiß, was in einem solchen Kessel entsteht.

Was bedeutet es eigentlich, Meme auszutauschen? Das habe ich mich gestern morgen gefragt und die Antwort hat mich selbst überrascht, obwohl sie eigentlich ganz einfach klingt.

Meme auszutauschen bedeutet, sich gegenseitig zu signalisieren:  “Ich höre dir zu.” Eingedenk der Etymologie, die zwischen dem grch. “Mneme” (Erinnerung) und dem französischen “même” (gleich) changiert – auch: “Ich erinnere mich an dich”, “Es gibt etwas Gleiches zwischen uns” und “Ich verbinde mit dir etwas”.

Das ist der neue Kitt der Gemeinschaften, von dem auch bei Jörg die Rede war. Es ist die Kommunikation selbst, die Gemeinschaft und Identität stiftet. Natürlich wurden Gesellschaften immer schon über Kommunikation zusammengehalten. Aber jetzt schafft die Kommunikation Gemeinschaften. Ist es das, was an memetischen Gemeinschaften neu ist?

Meme zersetzen die Gesellschaft – so lautet die vielleicht zunächst irritierende Aussage von Benedikt. Jörg spricht von einer “Korrosion“. Das Zersetzende an Memen ist, dass sie über bestehende gesellschaftliche Strukturen hinweggehen und neue Zusammengehörigkeiten, Zusammenhänge und neue Strukturen schaffen. Dynamische, sich verändernde, wabernde Strukturen. Vielleicht sogar gar keine Strukturen, sondern nur noch Gewebe, wie Benedikt in seiner Antwort auf den Thixotropie-Beitrag gemutmaßt hat.

Das Ich-höre-dir-zu des memetischen Handelns hat eine zutiefst politische Dimension. Das Nichtgehörtwerden und Keinestimmehaben gehörte lange zum Los der gesellschaftlichen Mehrheit – in allen unterschiedlichen Ausprägungen, die zwischen Demokratien und autokratischen Systemen möglich sind. Es scheint, dass sich in diesem Punkt gerade etwas ändert.

Womit wir bei den maghrebinisch-maurisch-spanischen Revolutionen wären. Man kann diese nicht alle in einen Topf werfen – auch nicht in unseren Theorienkessel – aber seit einiger Zeit fällt mir ein Muster auf: Kurz vor Ausbruch der Unruhen gibt es einen Moment, an dem die jeweiligen Machthaber hätten das weitere Geschehen beeinflussen können – durch schlichtes Zuhören und Reagieren auf das Gehörte.

Die “Revolutionen” entstanden nicht aus dem Nichts, es braute sich der Unmut über Monate, manchmal Jahre hinweg zusammen, bis schließlich aus Unbehagen die vielzitierte Empörung wurde. Und es hätte durchaus Gelegenheiten gegeben, darauf zu reagieren.

Wael Ghonim, die Orientierungsfigur der ägyptischen Revolution, berichtet auf der TED-Konferenz 2011 von diesen Anfängen. Über die Facebookseite “We all are Khaled Said” fanden innerhalb weniger Tage Tausende von Ägyptern zusammen, die ihr Regime aufforderten, rechtstaatlich zu handeln und die Mörder des Bloggers Said zur Verantwortung zu ziehen. “Angry egyptians who were asking the ministry of interior affairs: It’s enough!” Zu diesem Zeitpunkt hätten das Regime noch reagieren und handeln können. “But of course they don’t listen”, fährt Ghonim nahtlos fort (min 4:20). Alte Strukturen sind nicht reaktionsfähig. Die Ägypter haben daraus ihre Konsequenzen gezogen.

Am 6. Februar, elf Tage vor Beginn des libyschen Aufstands, wurde eine Delegation von vier Intellektuellen in Gadhafis Zelt vorgeladen. Ben Ali war schon im Ausland, Mubarak sollte fünf Tage später aufgeben. “Ihr seid jetzt also auch mit den Facebook-Kids zusammen”, begrüßte Gaddafi sie, offenbar bemerkend, dass da etwas im Busche sein könnte. Doch obwohl er selbst der Meinung ist, Mubarak und Ben Ali hätten ihr Schicksal verdient, weil sie nicht auf ihr Volk gehört hätten, kann auch er nicht entsprechend handeln. Als die vier Juristen “Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und eine Verfassung” und mehr Beteilung der jungen Generation fordern, reagiert er “verwundert” und weist die Forderungen weit von sich. “Niemand in Libyen sei scharf auf derartigen Freiheiten, solche intellektuellen Diskussionen seien nicht gefragt.” Er hatte zwar zugehört, traute aber offenbar seinen Ohren nicht und ließ die Gelegenheit ungenutzt. Die Delegation fuhr schweigend nach Hause und beschloss für den 17. Februar den “Tag des Zorns” auszurufen (Quelle: ZEIT).

Bernardo Gutiérrez berichtet kürzlich im Tagesspiegel über die gesellschaftlichen Vorbeben in Spanien, die in direktem Zusammenhang mit der Banken- und Schuldenkrise des Landes steht. Auch hier gab es vorher Kontaktaufnahmen, Ermahnungen, Aufrufe. “Es braute sich etwas zusammen.” Doch offenbar wurden diese Anzeichen ignoriert, das alte Spiel in den alten Strukturen unverändert weiterbetrieben. “Die Arbeitslosigkeit stieg weiter, die Konzerne zahlten weiter astronomische Managergehälter. Dann präsentierten die Sozialisten und die Volkspartei ihre Kandidaten für die Regionalwahlen. Darunter: zahlreiche Politiker, die unter dem Verdacht standen, sich während des Immobilienbooms illegal bereichert zu haben.” Der Widerstand formierte sich. “Die Spanische Revolution klopfte laut an die Tür. Aber niemand schien sie hören zu wollen.” Noch hätte die spanische Regierung wohl reagieren können. Sie tat es nicht. Bis die Plattform „Democracia Real Ya“ zu Demonstrationen aufrief, mit bekanntem Ergebnis.

Einanderzuzuhören und Sich-Aufmerksamkeit-Schenken ist das, was memetische Gemeinschaften verbindet. Mich, die ich mich seit vielen Jahren mit den verschiedensten Ausprägungen der Kommunikation befasse, hat dieser Gedanke sehr berührt.

 

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Memetic Turn

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“Der Gehenkte” aus dem Tarot Karls VI., Paris, Anfang 15. Jhd.

Die Symbolik des Tarot – ähnlich wie die der Alchimie bildet ein vormodernes Mem-System. Eng verwoben mit anderen mehr oder weniger esotherischen Sinn-Programmen wie Kabbalah oder Astrologie sind die Bilder darin zum ersten illustrativ – sie stellen durchaus auch das dar, war darauf zu sehen ist, zum zweiten besitzen sie den willkürlich zugeordneten symbolischen Wert. Das Besondere an Memen wie an Metaphern ist, dass zwischen unterschiedlichen Menschen ein gemeinsamer Bedeutungsraum entsteht, über den sich diese Verschiedenen identifizieren

“Literacy, the visual technology, dissolved the tribal magic by means of its stress on fragmentation and specialization and created the individual.”

“The tribalizing power of the new electronic media, the way in which the return us th the unified fields of the old oral cultures, to tribal cohesion and pre-individualist paterns of thought, is little understood. Tribalism is the sense of the deep bind of family, the closed society as the norm of community.”
Herbert Marshall McLuhan

“Alles ist teilbar, und es kann kein Individuum geben.”

“Die Bedeutung solcher Symbole [der Buchstaben] ist von Farbe weitgehend unabhängig: ein rotes und ein schwarzes ‘A’ bedeuten denselben Laut. […] Daher deutet die gegenwärtige Farbexplosion […dass] eindimensionale Koden wie das Alphabet neigen, […] an Wichtigkeit zu verlieren.”

“Mit der Erfindung der Schrift beginnt die Geschichte, nicht, weil die Schrift Prozesse festhält, sondern weil sie Szenen in Prozesse verwandelt: Sie erzeugt das historische Bewusstsein.”
Vilém Flusser

ממטית המהפך

Schriftlichkeit und Gesellschaft hängen unmittelbar zusammen. Durch Texte, insbesondere die Zeitung, die im 19. Jahrhundert das erste echte Massenmedium wird, können Menschen über große Distanzen homogen informiert werden. Dies war auch erst seit Aufkommen der Eisenbahn und der Telegrafie wirklich von Bedeutung. Diese sind die Grundlage, auf der sich erstmals eine wirklich überregionale Volkswirtschaft – die Nationalökonomie – entwickeln kann. Die lokale Gemeinschaft, das Dorf, verliert im selben Maß ihre Eigenschaft als “Schicksalsgemeinschaft”, wie bereits Tönnies festgestellt hatte.

“Zeitungen sind der Kitt der Gesellschaft” ruft in diesem Sinne unlängst Zeitungsverleger-Präsident Helmut Heinen aus.

Aber irgendetwas scheint an dieser Aussage nicht (mehr) zu stimmen, wie auch Daniel Schulz als Replik dazu im Der Standard geschrieben hatte, indem er dem Zeitungsmann erwidert: “Nicht Zeitungen, sondern Katzenbilder sind der Kitt der Gesellschaft!”

Daniel hat nicht recht, obwohl er, davon bin ich überzeugt, das richtige meint. Katzenbilder sind nicht der Kitt der Gesellschaft, sondern von Gemeinschaften! Damit sind sie nichts weniger als der Kitt der Gesellschaft, sondern vielmehr bin ich überzeugt, wie ich im folgenden ausführen möchte, dass sie die Gesellschaft sogar korrodieren werden.

Diese Katzenbilder – im Fall meiner eigenen Community sind es Bilder von Geflügel, insbesondere von Laufenten – sind ganz besondere Zeichen, eng verwand mit Metaphern, Allegorien oder Emblemen. Obwohl nicht ganz im Sinne ihres Erfinders, hat sich eingebürgert, diese Art von Bild-Zeichen als Meme zu bezeichnen. Die Bedeutung der Meme ist oft hermetisch, außerhalb der Gemeinschaft, in der sie ausgetauscht werden, nicht zu verstehen.

In den Memen – also meist wenig ikonischen aber selten abstrakte Zeichen – konzentriert sich oft ein ganzes Universum von Bedeutungen und Verbindungen, die die Mitglieder einer Gemeinschaft mit dieser Gemeinschaft verbinden. Meme sind gemeinschaftliche Projektionsräume unseres Unbewussten: “Im Dunkel eines Äußerlichen finde ich, ohne es als solches zu erkennen, mein eigenes Innerliches oder Seelisches.” (C.G. Jung über die Allegorien der Alchimie).

Meme übernehmen dadurch eine Funktion, die in der Vormoderne Metapher und insbesondere der Allegorie innehatten:

Mit Metaphern lassen sich Dinge anschaulich machen, die nicht explizit gesagt werden könnten. “Metaphorik erweitert den Horizont des Denkbaren, indem sie die Grenzen der Verstandesrationalität sprengt und so der Darstellung spekulativer Gedanken unverzichtbare Räume möglicher Artikulation eröffnet.” schreibt Jörg Zimmer. Indem Metaphern nicht-identische Begriffe gleichsetzen, machen sie die verbindenden Eigenschaften deutlich; Metaphern stiften Identität zwischen ansonsten Verschiedenem. Dabei drücken Metaphern zunächst die Bilder aus, die ihr Sprecher (“Sender”) im Kopf hat; der Empfänger der Metapher wird zunächst vermutlich nicht das identische Bild im Kopf haben, sondern die Metapher mit seinen eigenen Bedeutungszusammenhängen füllen. In der Weise, in der die Bedeutung, die der Sender mit seiner Metapher verbindet, ähnlich zu der Bedeutung wird, die der Empfänger darein gibt, stiftet die Metapher auch Identität zwischen unterschiedlichen Personen; Metaphern stiften Gemeinschaftlichkeit.

Meme wirken wie ansteckend. Man ist infiziert, hat man sich erst einmal damit identifiziert.
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History of Turns

Der Linguistic Turn, wie oben beschrieben, war die Folge einer eng zusammenwachsenden, immer besser gebildeten Bevölkerung mit hoher Alphabetisierung und der technologischen Infrastruktur von Massenverkehr und Massenkommunikation über große Distanzen. Mit dem Linguistic Turn der Moderne lösen sich die alten Gemeinschaften auf; Gesellschaften – Nationen und Staaten formieren sich und die Zeitung bzw. die Massenmedien sind der Kitt dieser Gesellschaften. Die Metonymie löst die Metapher als Leit-Trope in der Rhetorik ab: “Berlin erklärt Paris den Krieg”.

Mit der Illustrierten und vor allem dem Fernsehen kommt im 20. Jahrhundert der Iconic Turn – massenmedial vermittelte Bilder. Parallel mit dem Zusammenwachsen der ehemals konkurrierenden nationalen Staats-Gesellschaften zu den supranationalen Blöcken der Nato, Warschauer Pakt oder Europäische Gemeinschaft liefern die bildstarken Medien einen international gültigen Bilderschatz. Diese technisch massenhaft verbreiteten Bilder sind fast völlig unmetaphorisch; die zeigen im Wesentlichen das, was darauf zu sehen ist.

Die Tagesschau wird das Lagerfeuer der Nation und die Utopie scheint Realität zu werden, dass es tatsächlich einen Zusammenhalt von Menschen weit über den engen Rahmen einer Gemeinschaft gibt. Für das grobe Raster der politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind diese Massenmedien in der Lage, ein Millionenpublikum täglich mit den wenigen relevanten Nachrichten zu versorgen, die zum nationalen Zusammenleben notwendig sind: die holzschnitthafte Parteipolitik in den Parlamenten, das Zusammenspiel der eigenen Nation mit den anderen Staaten, die groben Neuigkeiten einer relativ konstant wachsenden Wirtschaft, stets verständlich gehalten auch für “Menschen mit mittlerer Bildung”. Ironie ist das Stilmittel des Iconic Turn – häufig allerdings in Form von Zynismus.
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Seit den achziger Jahren des 20. Jahrhunderts gibt es deutliche Zeichen von Abnutzung an den Massenmedien, zunächst noch in vielen Ländern überdeckt durch den enormen Erfolg des Privatfernsehens bzw. nach dem Mauerfall durch den Nachholbedarf in der ehemaligen sowjetischen Einflusssphäre.

Auf einmal war es nicht mehr so wichtig, zu lesen, was auf nationaler oder internationaler Bühne am Vortag geschen war. Der Kitt der Gesellschaft begann, spröde zu werden. Und das Web kam dieser Entwicklung genau entgegen. Nicht mehr informiert werden – sich die Dinge, die man glaubt, wissen zu wollen, selbst zusammenstellen. Wie Renate Köcher aus den Langzeitstudien ihres Instituts für Demoskopie in Allensbach mit Schrecken erkannt hat: die Leute informieren sich nicht anders – sie informieren sich streng genommen gar nicht mehr! Die Massenmedien werden in ihrer Funktion nicht substituiert, sie verschwinden viel mehr. Und zwar nicht physisch – die Menschen sehen unverändert fern – sondern in ihrer Wirkung.

Unser Social Graph, das Netz unserer gemeinschaftlichen Beziehungen, versorgt uns ab jetzt mit den Dingen, die wir erfahren wollen. Das ist der Filter, den früher die Redaktionen der Medien gebildet hatten. Wir organisieren unsere Beziehungen durch das Netz, wie wir uns früher als Bürger im Staat über die Massenmedien orientiert hatten.

“Das Ende der Großen Erzählung”, mit dem oft die Postmoderne umschrieben wird, bedeutet, dass aus Geschichte lauter kleine Geschichten werden. Schnipsel, die zusammen mit persönlichen Erinnerungsstücken zu Sinnzusammenhängen kollagiert werden. Das ist das “Ende der Geschichte“, bei dem die “Literatur vor unseren Augen kollabiert“. Die massenmediale “Hochsprache” der moderne weicht den vernakularen Dialekten der Netzkultur. “New media are new archetypes, at first disguised as degradations of older media.” (McLuhan)

Die Zugehörigkeit zu diesen neuen, memetischen Gemeinschaften ist nicht vergleichbar mit dem “in die Gemeinschaft geboren werden” der Vormoderne. Es sind relativ lose, zum Teil nur über einige Zeit stabile Strukturen und wir sind selten exklusiv in nur einer davon beheimatet. Diese Gemeinschaften werden symbolisch zusammengehalten über Meme.

Dieser Memetic Turn markiert den Übergang in das nach-moderne Zeitalter. Der schwindende Einfluss der nationalen und die gleichzeitige Auflösung der internationalen, politischen Strukturen führt dazu, dass auch deren mediale Werkzeuge stumpf zu werden scheinen.

Damit wird auch klar, wie die revolutionäre Bewegung in Spanien mit den Umstürtzen in Tunesien und Ägypten zusammen hängt. Es ist faszinierend zu sehen, wie das scheinbare Fehlen von formulierten, gemeinsamen Zielen und jeder Form von verfasster Organisation die alten, gesellschaftlich denkenden Medien komplett überfordert. Es ist der Hash-Tag, der die Menschen zusammenbringt, das #spanishrevolution-Mem als Projektionsraum, über den die Menschen ihre Wünsche nach einer anderen Form von Zusammenleben in einer post-gesellschaftlichen, nicht mehr durch ineffektive Parteipolitik kontrollierten Gemeinschaftlichkeit synchronisieren.

Weiter lesen:
Die Moderne ist unsere Antike
Tribales Trommeln

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Zu Gast in der Märchenstunde

Neulich war ich in Berlin, und dort hatte ich die Ehre, von Björn Grau und Max Winde zu einer ihrer rituellen Märchenstunde eingeladen zu sein. Es ist die 13. Folge eines höchst interessanten Formats, das ich gerne als Beispiel für ein slowes Medium zitiere. Es entzieht sich den üblichen Gattungen: Es ist ein Podcast. Es geht um Märchen. Es ist verdammt lang – eine Stunde muss man sich dafür Zeit nehmen, und man kann nebenher nichts anderes erledigen außer Tee zu trinken und in die Sonne oder wahlweise in den Regen zu schauen.

Was ich an dem Format der Märchenstunde spannend finde, ist, dass es auf souveräne und zeitgemäße Weise die mündliche Tradition des Volksmärchens wiederbelebt. Es ist ein so schön diskursives Medium. Es übersetzt völlig selbstverständlich und ohne mit der Wimper zu zucken die Salonkultur in das digitale Zeilalter. Es verlangt Aufmerksamkeit von denen, die Sprechen und es verlangt Aufmerksamkeit, von denen, die es hören.

Und jetzt, wo ist dort war, kann ich sagen: Es ist sogar noch konsequenter als ich vorher vermutet habe. Es wird nichts geschnitten, sondern es wird gesendet, wie es gesprochen wird. Es wird nichts abgesprochen, außer um welches Märchen es geht (Max kannte nicht einmal das Märchen).Wir wussten nicht, wo unser Gespräch uns hinführen würde. Es war ein gemeinsames und improvisiertes close reading. Heinrich von Kleist hätte wahrlich seine Freude an uns gehabt.

Hier also zum Nachhören für alle Freunde der Slowness, die wir unter unseren Lesern vermuten dürfen:

Die Märchenstunde 13: Rapunzel

 

 

 

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Was empört uns?

Als ich vor fünf Wochen das Büchlein “Indignez vous!” aufschlug, um den Essay des 93Jährigen Stéphane Hessel zu lesen, passierte etwas Besonderes. Ich legte nach wenigen Zeilen das Buch beiseite, stand auf, holte mir einen Bleistift und setzte mich wieder zum Lesen. Mit dem Stift in der Hand, um Stellen anzustreichen und mir Notizen zu machen.  Das habe ich seit Jahren nicht mehr getan. Die letzten Anstreichungen in meinen Büchern stammen noch aus meiner Studienzeit.

Ich weiß nicht genau, wie diese Wirkung zustande kam. Vielleicht war es die Unumwundenheit, mit der ein Mensch geradeheraus und unumstößlich feststellt, dass wir Prinzipien und Werte brauchen. Das ist ungewöhnlich, obwohl doch die Menschrechte für uns alle eigentlich selbstverständlich sind.

Stéphane Hessel hat noch etwas zu sagen, bevor er geht. Er spricht von Verantwortung. “La responsabilité de l’homme qui ne peut s’en remettre ni à un pouvoir ni à un dieu” (p. 13). Er meint damit die Verantwortung als Mensch, die man an niemanden abgeben kann, die nicht delegierbar ist.  Hessel wünscht uns Nachgeborenen (und das sind wir in Anbetracht seines Alters wohl alle) Gründe zur Empörung, die uns an diese Veranwortung erinnern, an die Notwendigkeit für etwas einzustehen und zu handeln.

“Je vous souhaite à tous, à chacun d’entre vous, d’avoir votre motif d’indignation. C’est précieux.” (p.12)

Mehr noch fordert er, diese Gründe zur Empörung, die Dinge, die unerträglich und nicht akzeptabel sind, “les choses insurportables”, gezielt zu suchen: “Pour le voir, il faut bien regarder, chercher.” (p.14). Hessel rät, hinzusehen und sich der Differenz zwischen dem “wie es sein sollte” und dem “wie es ist”, auszusetzen, sie auszuhalten und Empörung zuzulassen. Erst aus der empfundenen Differenz zwischen Ideal und Realität entspringt Handeln. “L’indifférence: la pire des attitudes”, lautet der konsequente Umkehrschluss. Denn Indifferenz verhindert das Handeln.

Empörung, unsere Preziose. Das finde ich interessant. Was empört uns eigentlich? Was wäre in der Lage uns zu entrüsten?  Was würde uns auf die Barrikaden gehen lassen?

Zu meinem Beitrag, den ich über Hessels Buch schreiben wollte, bin im Januar nicht gekommen. Es passierte soviel anderes. Inzwischen gibt es eine deutsche Übersetzung von Michael Kogon. Ich nehme sie zum Anlass, dieses Büchlein mit seinen lesenwerten 20 Seiten hier doch noch zu empfehlen, und zwar nachdrücklich. Es ist ein Buch, das sich wunderbar teilen und verschenken läßt.

Zwischen meiner ersten Begegnung mit dem französischen Essay und seiner deutschen Übersetzung liegen nur wenige Wochen. Aber was für Wochen! Tunesien, Ägypten, Libyen liegen dazwischen. Wieviel gerechte Empörung liegt darin. Wieviel Erstaunen unsererseits, dass Menschenrechte tatsächlich etwas sind, wofür Menschen bereit sind, ihr Leben zu riskieren, vor unseren Augen.

Ja, Stéphane Hessel lächelt dieser Tage, wenn er im Fernsehen auf die Lage in der arabischen Welt angesprochen wird.

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Stéphane Hessel hier ab min 4:30 (ard, Beckmann)

Stéphane Hessel: Indignez-vous! Indigène éditions, Montpellier, décembre 2010. 6 €

Stéphane Hessel: Empört Euch! Aus dem Französischen von Michael Kogon. Ullstein, Berlin 2011. 3,99 €

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Nachtrag in eigener Sache:

Ganz am Ende, nachdem ich dem alten Herrn schon längst erlegen war, entdeckte ich diese Textstelle, die Stéphane Hessel als Slowmediavisten decouvriert:

“La pensée productiviste, portée par l’Occident, a entraîné le monde dans une crise dont il faut se sortir par une rupture radicale avec la fuite en avant du “toujours plus”, dans le domaine financier, mais aussi dans le domaine des sciences et des techniques. Il est grand temps que le souci d’éthique, de justice, d’équlibre durable devienne prévalent.” (p. 20)

Hier in deutscher Übersetzung:

“Das im Westen herrschende materialistische Maximierungsdenken hat die Welt in eine Krise gestürzt, aus der wir uns befreien müssen”, schreibt Hessel. “Wir müssen radikal mit dem Rausch des ‘Immer noch mehr’ brechen, in dem die Finanzwelt, aber auch Wissenschaft und Technik die Flucht nach vorn angetreten haben. Es ist höchste Zeit, dass Ethik, Gerechtigkeit, nachhaltiges Gleichgewicht unsere Anliegen werden.” (S. 19f.)

 

 

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Claus Kleber denkt Hajo Friedrichs neu

Das heute journal des 13. Februar wurde moderiert von Claus Kleber.  Es war eine denkwürdige Ausgabe des täglichen Nachrichtenjournals des ZDF. Hier ist die Aufzeichnung der Sendung, die nur noch wenige Tage im Internet nachzuschauen sein wird.

Es passiert dort ab min. 15.44 Folgendes: Nach den Nachrichten und dem Wetter kündigte der Moderator Claus Kleber einen Rückblick auf die historische Woche in Ägypten an. Es folgt ein gut einminütiger chronologischer Rückblick auf die bekannten Ereignisse, untermalt mit Musik. Wie um die Emotionalität der Bild- und Tonsprache zu rechtfertigen, sagt Claus Kleber in der Abmoderation: “Es war eine emotionale Woche”. Und schließt einen bemerkenswerten Satz an:

“Nehmen Sie es bitte als eine Verbeugung der Journalisten des Journals vor den Menschen, über die sie berichten durften.”

Der Satz klingt wie eine Gebrauchsanweisung für das ungewöhnliche Format. Vielleicht ist er auch eine Gebrauchanweisung für eine neue Art von Journalismus. Er markiert eine Wende im Selbstverständnis der konventionellen Medien. Zwar ist es formal recht moderat gelöst – der Rückblick lief nach dem offiziellen Nachrichtenformat und ist eher der Form des Kommentars zuzurechnen als der eines Berichts. Aber dennoch tut Claus Kleber hier nicht Geringeres als offen das Diktum des Hanns Joachim Friedrichs zu hinterfragen. Dieser hatte den bisher als unumstößliche Orientierungsmarke für Journalisten geltenden Satz gesagt:

“Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.”

Nun verneigt sich eine Redaktion in Respekt vor dem Sujet ihrer Berichterstattung – und hebt (wenn auch nur im Nachhinein) die Distanz zu der zu berichtenden Sache auf. Ich finde diesen Schritt des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preisträgers aus dem Jahr 2010 mutig und konsequent. Claus Kleber stößt damit eine Tür zu einem neuen Journalismus auf, der sich in Zukunft mit eben diesen Fragen befassen muss: Wie subjektiv darf Journalismus sein? Wieviel Mensch darf bzw. muss durch den Berichterstatter durchscheinen? Wie definieren wir Glaubwürdigkeit? Wie Objektivität? Gerade die Beteiligungsmedien des digitalen Raumes zwingen mit ihrer praktizierten (und zum Teil übers Ziel hinausschießenden) Teilhabe den Journalismus, sich diese Fragen neu zu stellen. Der Journalismus wird sich in Zukunft zwischen den Polen der Subjektivität und der Entfremdung neu verorten müssen. Ohne seine Ideale aufzugeben, aber diese vielleicht in neuem Licht betrachtend. “Rolle und Selbstverständnis des Journalismus” steht auf der Liste für unsere Forschungsvorhaben im Institut. Ich bin sehr gespannt darauf. Und es würde mich wirklich interessieren, welche Diskussionen der Entscheidung der heute journal-Redaktion vorausgegangen sind. Das waren bestimmt insgeheim Gespräche über die Zukunft des Journalismus.

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Mehr zum Thema Subjektivität und Entfremdung im Journalismus in dem Beitrag “Über Glaubwürdigkeit, Schreiben und Handeln“.