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Metaphysik, Spekulation und die “Dritte Kultur”

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Der Wissenschaftler blickt durch das Objektiv – macht das seine Forschung objektiv?

Anlass für diesen Post ist eine ziemlich beharrlich geführte Debatte auf Twitter, aus der ich meine eigenen Punkte etwas erweitern möchte. Diese berühren nur einen Teil dieser, über weite Strecken, wie ich finde, kurzweiligen Diskussion in der ein viel weiterer Bogen gespannt worden war.

Das Grundmotiv des Gesprächs stellten “die zwei Kulturen”, wie der Komplex – Naturwissenschaft gegen Geistes- oder Humanwissenschaften – seit dem berühmten Text von Ch. P. Snow genannt wird. Ich möchte zwei Aspekten anreißen, die ich im Zusammenhang von Slow Media für erwähnenswert finde: die Frage nach dem Wert von Metaphysik für die Wissenschaft. Der zweite: meine Hoffnung, dass in der durch das Web mit Plattformen wie Wikipedia und durch die Blogs mit ihren Kommentaren veränderten Öffentlichkeit für Wissenschaften die “dritte Kultur” möglich wird.

Von den Protagonisten der Twitter-Diskussion waren schnell die entsprechenden Rollen im Spiel von Snows zwei Kulturen eingenommen; ich – trotz meines Werdegangs – auf Seite der Humanities. Am Ende hätte sich alles fast in Konsens aufgelöst, wären nicht ein paar Punkte aufgetaucht, bei denen der tiefe Graben zwischen den zwei Kulturen plötzlich wieder sichtbar wurde: zunächst die Frage, ob der Skeptizismus der naturwissenschaftlichen Methode auf deren Grundlagen selbst anzuwenden sei, und dann, und das kam vollkommen unerwartet für mich, durch ein Zitat, das ich zur Illustration dieser Frage getwittert hatte.

Ehlers: ‘ … die Entscheidung [ob man eine neue Theorie akzeptiert] fällt auf Grund von Argumenten, denen schließlich beide zustimmen: die Vertreter der älteren und die der jüngeren Generation.’
Stichweh: ‘Ob das immer so ist? Ich kenne keinen einzigen Gegner Darwins, der je überzeugt worden wäre.’

Aus Die Wahrheit in der Wissenschaft.
Interview mit Jürgen Ehlers und Rudolf Stichweh. Spekturm 7 2001

Christian Huygens, “der eleganteste Mathematiker seiner Zeit”, eine der herausragensten Gestalten der Aufklärung, hatte im Kontext der Verteidigung Galileos gesagt: “Die Welt ist mein Heimatland und Wissenschaft ist meine Religion”. Dieses Zitat fand ich passend für die Unterhaltung. Danach war der Konsens bis zum Ende nicht wieder herzustellen, es kam ein scharfer Ton in die Rhetorik und – ich habe es so empfunden, da ich ja die Gegenposition vertrat – die “Partei der Naturwissenschaften” verfiel in Figuren der Eigentlichkeit, ja die Bilder wurden schließlich geradezu martialisch. Die Barschheit mit der eine Gemeinmachung, aus dem Zitat abgeleitet, von Wissenschaft mit Religion, bekämpft wurde, überraschte mich, noch mehr, dass ich damit die naturwissenschaftliche Seite beleidigen würde. Umgekehrt sah ich mich als gläubiger Katholik plötzlich mit Kreationisten und anderen esotherischen Spinnern auf eine Stufe gesetzt.

“Was an Kraft gewonnen wird, geht an Weg verloren.” Auch wenn es verlockend ist – die Übertragung physikalischer Bilder auf die Gesellschaft des Menschen, wie sie noch Francis Bacon gefordert hatte, funktioniert so einfach nicht …

Nach meinem Abitur hatte es für mich keinen Zweifel gegeben, dass ich eine naturwissenschaftliche Laufbahn einschlagen würde. Ich fing an, Mathematik und Informatik zu studieren. Wie viele meiner Zeitgenossen hatte mich vor allem die Freude an der Visualisierung von Daten ergriffen: es war die Zeit der “fraktalen Geometrie der Natur” von Mandelbrot und der Erfindung des Grafik-Prozessors. Aufgrund dieser Kenntnisse in elektronischer Datenanalyse bekam ich einen Job in der Forschungsstelle für Humanethologie in der Max-Planck-Gesellschaft in Andechs.

Das besondere an dem Team in diesem Institut bestand in der außergewöhnlichen, überdisziplinären Zusammensetzung: neben den Zoologen (vorwiegend Ornitologen und Primatenforscher) arbeiteten dort Mediziner, Psychologen, Sprachwissenschaftler und sogar Kunsthistoriker. Der Grund für diese ungewöhnliche Zusammensetzung bestand im Forschungsgegenstand: dem menschlichen Verhalten – von der nonverbalen Kommunikation (wo ich gelandet war) zu Sprache und Proxemik (das Verhalten in der Gruppe) bis zum ganzen Repertoire der Kultur, der Kunst, der Architektur und vor allem der Musik – gesucht wurde, was die Menschen eint, universal gültig, egal, welche Kultur der Welt betrachtet wird, und was spezifisch ist, wie Menschen ihr Verhalten an unterschiedliche Umweltbedingungen anpassen. Von der Methodik der Ethologie, der vergleichenden Verhaltensforschung, profitiere ich bis heute – eine Vielzahl von Forschungsprojekten haben Christiane Tramitz und ich seither verwirklicht – auch wenn unsere Trennung vom Max-Planck-Institut damals ziemlich unsanft verlief.

Zu jener Zeit waren einige der bereits zum Proseminar-Stoff abgesunkenen, der Postmoderne entlehnte Argumentationsfiguren sehr en vogue. Hatten der humanwissenschaftliche Mainstream während der zehn Jahre zuvor die biologische Erforschung des Menschen noch alles Teil bürgerlicher Herrschaftsverteidigung massiv angegriffen, so wurde jetzt jeder Reduktionismus, der die klassische naturwissenschaftliche Methode gerade ausmacht, als Konstrukt geschmäht. Die Streitgespräche dieser Zeit waren im Grund recht harmlos und – anders als die Klassenkampf-Rhetorik der früheren Jahre – kaum angetan, die Forschungsarbeit ernsthaft zu stören. Mich – als mitlerweilen diplomierten Statistiker konnte die Postmoderne ohnehin kaum schrecken, hatte ich mir schließlich ein Fach gesucht, das sich mit dem Problem der Erkenntnisgewinnung und -überprüfung aus zufallsbehafteten Daten oder noch besser: aus unvollständigen Modellen beschäftigte.

“Naturwissenschaftler scheinen – dies sei hier einmal unterstellt – nicht allzu oft darüber nachudenken, was eigenlicht das Wesen ihrer Tötigkeit ausmacht, welcher Sinn darin zu sehen ist … kurz, welchen Platz ihre Disziplin in unserer Kultur einnimmt.” Michael Groß: Naturwissenschaftler gegen Wissenschaftstheoretiker: ein Krieg zwischen den Kulturen? (Spekturm 9 1997)

Manche Kollegen traf die Kritik offenbar sehr hart, und zwar, weil sie im Kern auf einen eigentümlichen Aspekt vieler Projekte der Humanbiologie zielte: dass sie nämlich aus den vorgeblich wissenschaftlichen Hypothesen ethische Normen ableiteten. Gerade die Soziobiologie, die das Verhalten des Menschen unter seinen Artgenossen unter biologischen Aspekten untersucht, ist extrem anfällig dafür, ihre Reduktionismen (“Gruppe”, “Sippe”, “Volk”, “Kultur” etc.) als wirkliche Gegenstände zu verabsolutieren. Ich will an dieser Stelle gar nicht auf die Probleme postmoderner Anthropologie und Ethnologie eingehen. Etwas anderes musste ich nämlich am eigenen Leib lernen: diese Normen waren nicht zu kritisieren, wie ich mir sagen lassen musste, da sie ja mit wissenschaftlicher Methode abgeleitet wurden. Damit das etwas klarer wird: es handelte sich um ein Moral-Gerüst, das man im weiteren Sinne als darwinistisch bezeichnen könnte. Darwinismus – das sei hier betont – ist nicht die Evolutionslehre, sondern eine daraus abgeleitete Sozialethik. Diese bewertet das Verhalten moralisch gut oder schlecht, inwieweit es Menschen hilft, einzeln oder als eng verwandte Sippe, ihre Gene an eine möglichst zahlreiche, nächste Generation weiterzugeben; zu Ende gedacht ist hier die “grausame Königin Natur” in ihrem Reich – deutlicher muss ich wohl nicht werden; für mich war damals jedenfalls Schluss mit der Biologie.

Es gibt aus dieser Argumentation keinen Ausweg, wenn man in der positivistischen Logik der Biologie verharrt; das ist es, was man seit dem zweiten Weltkrieg allgemein die “Dialektik der Aufklärung” nennt. Es gibt aber eine Chance, mit aufgeklärtem Denken nicht in die Barbarei zu rutschen, nämlich einen Schritt hinaus zu machen.


Euklids Elemente. Indem man einzelne der scheinbar für unsere Anschauung evidenten Axiome verändert, gelangt man nicht zu Widersprüchen, sondern zu neuen Welten: der nichteuklidischen Geometrie.

Meta bedeutet hinter, jenseits, und Metaphysik ist seit der Antike der andere Raum des Denkens, inden wir zurücktreten können, um auf die Physis, die Natur zu blicken und darüber nachzudenken, was nach der Betrachtung der Natur daraus folgt.

Stichweh: ‘Wenn ich Wissenschaft von außen betratet mit Kunst oder Religion vergleiche, dann unterscheidet sie sich dadurch, dass sie für ihre Aussagen Wahrheit beansprucht. […] Niklas Luhmann hat gesagt, Wahrheiten sind Erschöpfungszustände der Wissenschaft.’
Aus Die Wahrheit in der Wissenschaft. Interview mit Jörgen Ehlers und Rudolf Stichweh. Spekturm 7 2001

Metaphysik, das habe ich gestern wieder erfahren, steht nicht hoch im Kurs. Die Frage nach der Bedeutung, nach dem Wesen der zutage geförderten wissenschaftlichen Erkenntnis kann aber nicht im System selbst beantwortet werden. Ob das Restrisiko der zivilen Nutzung von Atomkraft, das von ihren Befürwortern für alle Menschen eingegangen wird (ob die wollen oder nicht), ob Gentechnik voranzutreiben ist, ob der Klimawandel ein notwendiges Übel unserer Zivilisation oder ein Verbrechen ist – das alles sind keine wissenschaftlichen Fragen. Gerne wurde in der Vergangenheit von Politikern jede Skepsis an der Forschung abgewiegelt. “Diskutieren ohne Scheuklappen” war das Mantra des sogenannten Ethikrates, im Klartext: lasst uns bloß mit eurer Moral in Ruhe!

“Die Beschränkung auf herausgeschnittene, scharf isolierte Gegenstände […], die aus dem Bedürfnis nach Exaktheit laboratoriumsähnliche Bedingungen zu schaffen trachtet – verwehrt nicht bloß temporär, sondern prinzipiell die Behandlung der Totalität der Gessellschaft. Das bring mit sich, dass die Aussagen der empirischen Sozialforschung häufig den Charakter des Unergibigen, Peripheren […] tragen. Unverkennbar ist die Gefahr einer Stoffhuberei […] Durchs Bestreben, sich an hieb- und stichfeste Daten zu halten und jede Frage nach dem Wesen als Metaphysik zu diskreditieren, droht der empirischen Sozialforschung die Beschränkung aufs Unwesentliche im Namen unbezweifelbarer Richtigkeit. Oft genug werden ihr die Gegenstände durch die verfügbaren Methoden vorgeschrieben, … ” twa 9.2 S. 356

Die Spekulation ist das zweite metaphysisches Feld, dass meiner Ansicht nach fest mit den Wissenschaften verbunden ist. Spekulation bedeutet, sich nicht gleich von der normativen Kraft des angeblich Faktischen festnageln zu lassen. Durch Spekulation “schauen wir in einen Spiegel und sehen rätselhafte Umrisse”. Nur wenn es gelingt, sich aus der unmittelbaren Erfahrung, den schon eingesammelten Daten, zu erheben und davon abgehoben nachzudenken, kann es zu Paradigmenwechseln kommen.

“Kein Unterschied soll sein zwisschen dem Totemtier, den Träumen des Geistersehers und der absoluten Idee. Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit.” twa (dda)

Indem wir in den Naturwissenschaften eine Theoriediskussion ablehnen, wenn sie außerhalb der Wissenschaft selbst steht, wird aber Wissenschaft zur Dogmatik. Ich will ja gar nicht so weit gehen, wie Adorno seinerzeit, und der Wissenschaft vorwerfen, sie sei in Wahrheit der Mythos im neuen Gewand. Indem Metaphysik, Spekulation, durch Glauben begründete Ethik mit Esoterik und Götzenglaube verächtlich auf eine Stufe der Irrationalität den Wissenschaften gegenübergesetzt werden, vergibt die Wissenschaft sich die Chance zur Reflektion über sich selbst, zur kritischen Distanz.
***

Allerdings tut sich einiges im Bezug auf die beiden Kulturen. Auf Plattformen wie Wikipedia treffen Vertreter beider Lager häufig zusammen und müssen einen Konsens führen, wenn es nicht zum endlosen Edit-War kommen soll. Die Argumente liegen nachvollziehbar auf der Diskussionsseite dokumentiert. Es gibt eine ansehnliche Zahl bloggender Natur- und Geisteswissenschaftler. In den Kommentaren können die Positionen in einer Weise transparent verhandelt werden, wie es in der Vergangenheit nie möglich war. Meinungen, die man nicht teilt, kann man hier kritisieren, kann beitragen und über Links Querverbindungen herstellen. Diese Partizipation an wissenschaftlicher Publizistik war früher ausschließlich den Peer-Reviews vorbehalten.

Das gute an dieser Öffentlichkeit: unverständliche und arkane Terminologie hat schlechte Chancen, die Diskussion zu überstehen; schlechte Zeiten, sich einzuigeln und sein Süppchen vor sich hin zu kochen. Ein offenes System, das schon allein durch die Art der Veröffentlichung – für jedermann zugänglich – einlädt, mitzumachen. Ich glaube, dass sich vielleicht so die “dritte Kultur” entwickeln wird, wie es Snow 1959 gehofft hatte.


Die Quadratur des Kreises: tritt man einen Schritt heraus, aus dem flachen Ring der Brüche, in den erhabenen Körper der Reellen Zahlen (was für eine Metapher!), so ist der Umfang schnell zum Radius ins Verhältnis gesetzt.

16 replies on “Metaphysik, Spekulation und die “Dritte Kultur””

Verdammte Tat, zu spät zur Party! Dabei ist Wissenschaftstheorie eines meiner liebsten Themen. Ich hätte in diesem Wespennest aber vermutlich nur für weitere Zornesausbrüche gesorgt, wenn ich da mit popperschen Anforderungen an Wissenschaft oder Grenzen der Erkenntnis angekommen wäre.

In aller Kürze: Ich glaube, dass die Dichotomie zwischen Geistes- und Naturwissenschaften keineswegs aus dem Betrachtungsgegenstand heraus paradigmatisch, sondern historisch dummerweise gewachsener Unfug ist. Diese Extremposition kann ich ohne Probleme auch auf die Dichotomie zwischen “Wissenschaft” (ja, die Anführungseichen stehen für: so genannt) und “Religion” ausweiten. Sowohl historisch ist die Spaltung erst spät nach der Aufklärung (nach Darwin!) konstruiert worden (der Konflikt um das aristotelische Weltbild war einer zwischen Metaphysikern und Empirikern, nicht zwischen Religion und WIssenschaft) als auch inhaltlich ist die Spaltung keine notwendige. Die Wissenschaft ist im Endeffekt nur eine Weltanschauung wie jede andere und hat inhärente Defizite, die sie aus eigener Kraft nicht überwinden kann: Wo über Fragen von subjektivem Gerechtigkeitsempfinden gestritten wird, hilft die szientistische Methode der Frage von wahr oder falsch keinen Deut weiter.

“dass sie nämlich aus den vorgeblich wissenschaftlichen Hypothesen ethische Normen ableiteten”

Sie haben sich also von der Biologie abgewandt, nur weil ein paar Humanbiologen dem naturalistischen Fehlschluss zum Opfer gefallen sind?

@ulrich wenn es denn ein Fehlschluss ist, dann sind dem schon ganz andere Kaliber aufgesessen, z. B. der Vater der Ethologie Konrad Lorenz. Und auch beim Menschenbild von Douglas Hofstatter kommt mir das Grauen, wenn er seine Hierarchie von Menschen mit “kleineren und größeren Sehlen” aufstellt. Das zeigt mir, wie aktuell es geblieben ist, über die Bedeutung der Wissenschaft außerhalb des Systems nachzudenken.

Ja, die diesbezügliche Einstellung von Lorenz ist bedauerlich, aber ist es zielführend, seine Einstellung gleichsam der gesamten Soziobiologie überzustülpen um diese daraufhin zu verurteilen?

Hofstadter wiederum ist gar kein Biologe, aber sei’s drum. Ihre Deutung seines Bildes von “kleinen und großen Seelen” ist offenbar eine Fehlinterpretation, gegen die er sich bereits vorbeugend gewehrt hat, wie Sie auf S. 49 der deutschen Ausgabe nachlesen können. Umsonst, wie es scheint, aber warum sollte es ihm in dieser Hinsicht auch besser gehen als E. O. Wilson?

Es geht in meinem Post auch nicht um Biologie, sondern um die Frage nach dem Wert oder gar der Notwendigkeit von Wissenschaftstheorie und Ethik außerhalb des naturwissenschaftlichen Kanon.

Das Buch von Hofstatter habe ich nur im original gelesen. Hofstatter stellt explizit (sogar in Form einer Grafik) eine Hierarchie von Menschen auf, bei der an der Spitze die Gesunden und darunter die Behinderten stehen. Eine halbherzige Relativierung dieses zynischen Menschenbildes, um die – für solche Dinge zugegebenermaßen empfindlichen Deutschen – zu beruhigen, hilft da auch nicht mehr.

Die Achse der fraglichen Grafik läuft von “viel Bewusstsein” (normale erwachsene Menschen) zu “sehr wenig oder kein Bewusstsein” (Viren, Atome). Hofstadter meint also, “geistig zurückgeblieben Menschen, senile Menschen und Menschen mit Hirnschaden” hätten weniger “Bewusstsein” als normale erwachsene Menschen. Dasselbe sagt er später über Kleinkinder im Vergleich zu Erwachsenen. Dass das Ausmaß des Bewusstseins nicht mit der “Wertigkeit” eines Menschen gleichzusetzen ist, betont er mehrmals ausdrücklich.

Es bedarf m.E. schon einer gehörigen Portion Voreingenommenheit, um hierin ein “zynisches Menschenbild” zu erkennen, das nur “halbherzig relativiert” wird.

Und wenn “erz” oben meint, “Die Wissenschaft ist im Endeffekt nur eine Weltanschauung wie jede andere”, dann kann ich den Beißreflex der Naturwissenschaftler ob solch absurder Behauptungen nachvollziehen. Denn begründet wird das mit der Binsenweisheit des moralischen Relativismus, dem sich ohnehin der Großteil der Naturwissenschaftler (meist ohne es zu wissen) verschrieben hat.

Soso, absurd sagt der “Ulrich”, ohne dass ich überhaupt davon anfing, dass die Soziobiologie in der nature vs nurture Debatte dermaßen verbrannt wurde, dass sie sich unter dem Namen Evolutionspsychologie einen Neuanfang gestattet hat. Ob es absolute Wahrheiten gibt oder nicht ist für meine Bewertung vom Verhältnis zwischen Wissenschaft und Ethik irrelevant.

Begründet habe ich zumindest meine Pauschalattacke nicht mit moralischem Relativismus, vielmehr argumentiere ich aus einer der Humeschen oder meinetwegen Popperschen Tradition verwandten Position der Erkenntnistheorie: Nach dieser Definition von Wissenschaft, die sich ausschließlich mittels Falsifikation theoretisch fundierter Hypothesen in der Empirie verwirklichen lässt, bleiben nicht-empirische oder gar epistemische Fragestellungen einem Wahr/Falsch-Paradigma grundsätzlich verschlossen. Mit der wissenschaftlichen Methode lassen sich keine Aussagen zur Moral begründen, weil das dortige Paradigma ein anderes ist.

Das gilt umgekehrt für Fragen der Moral, wo gängige Weltanschauungen der vergangenen Jahrtausende (sprich Religionen) traditionell aus ihren Bewertungen von gut und böse Aussagen über richtig (bzw wahr) und falsch ableiten wollen. Diesen Fehlschluss (wollen wir ihn analog zum naturalistischen Fehlschluss etwas unsauber den metaphysischen Fehlschluss nennen?) kreidet “die Wissenschaft” oder vielmehr die Vertreter eines szientistischen Weltbildes nach der Aufklärung zu recht an, will aber die eigenen Defizite selten wahr haben. Dabei wäre eine solide wissenschaftstheoretische Ausbildung der Qualität der wissenschaftlichen Arbeit so mancher Naturwissenschaftler sicher nicht zum Schaden – so manche “Wahrheit” würde dann nämlich als unvereinbar mit der wissenschaftlichen Methode offenbart. Wenn ich schon in so manchem paper gelesen habe, was alles bewiesen wurde. Bewiesen!

Und dann erst der Krempel der teilweise in der Soziobiologie geschrieben wurde, um ex post den eigenen Vorurteilen noch ein Deckmäntelchen vermeintlicher Wissenschaftlichkeit umzuhängen. Korrelation, Kausalität, was ist da schon der Unterschied. Bis heute hält sich so ein Kram und wird sogar in A-Journals veröffentlicht. Kleines Beispiel: http://www.morelightmorelight.com/2009/09/30/satoshi-kanazawa-cannot-think/

Wer nach diesem etwas wirren, spontanen Ausbruch meinerseits einen noch längeren rant gegen die unangenehmen Seiten des Wissenschaftsbetriebes lesen mag, darf sein Mütchen hier kühlen http://kontextschmiede.de/emmet-brown-und-bullshit-science-journalismus/
Junge, Junge, dass ich mich von diesem Internetz so provozieren lasse, das muss mit diesen Beißreflexen ob absurder Behauptungen zu tun haben…

@ erz:

Mein Prädikat “absurd” bezog sich unzweideutig auf die Behauptung, Wissenschaft sei auch nur eine Weltanschauung.

Ansonsten scheinen wir eigentlich weitgehend übereinzustimmen. Denn das Hume’sche Diktum, dass aus dem Sein kein Sollen abgeleitet werden kann, auf das Sie sich im wesentlichen berufen, ist dasselbe, auf das auch ich mich berufe. Nur kenne ich es unter dem Begriff “moralischer Relativismus”.

Die Soziobiologie hat ein gewisses Problem mit den Qualitätsstandards mancher ihrer Vertreter, das ist wahr. Ihr Fascho-Image hat sie m.E. trotzdem sehr zu Unrecht verpasst bekommen. Was Kanazawa betrifft: Der hat schon einige Publikationen, wo man sich fragt ob die reviewer geschlafen haben. Ihr “Beispiel” gehört aber kaum dazu. Dort geht es nicht um einen Fachartikel in einem “A-Journal”, sondern um einen überspitzten und wohl “launig” gemeinten Kommentar auf der Webseite eines populärwissenschaftlichen Psychologie-Magazins.

Wie dem auch sei: Kanazawa steht sicher nicht stellvertretend für die evolutionäre Psychologie insgesamt. Seine Fachartikel kann man sehr gut wissenschaftlich kritisieren, dazu bedarf es keines metawissenschaftlichen Arguments. (Es schadet aber sicher auch nichts…)

@Ulrich Dass die Wissenschaft “nur” eine Weltanschauung sei ist vielleicht eine zugespitzte Aussage, ich bin aber der Meinung sie erkenntnistheoretisch sehr wohl argumentativ vertreten zu können, wobei ich gleichzeitig eine Trennung von Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft ähnlich wie Popper ablehne. Sie haben aber wohl recht, dass wir uns ohnehin sehr Nahe sind, deswegen möchte ich da nicht unbedingt das letzte Wort behalten und akzeptiere gerne, dass die Aussage zu polemisch ist.

Was Kanazawa als Negativbeispiel angeht: Ich meine mich zu erinnern, dass Kanazawa es mit einem Artikel bis in eine top APA-Publikation geschafft hat, aber selbst wenn nicht, ist die Tatsache, dass er überhaupt mehrfach an den Reviewern vorbei gekommen ist angesichts seiner doch ziemlich offensichtlichen wissenschaftlichen Defizite ein Armutszeugnis für die gesamte Branche – deswegen habe ich auf den anschaulichen Verriss verwiesen. Immerhin hat er diverse Aufsätze mit gleicher Stoßrichtung in wissenschaftlichen Magazinen veröffentlicht. Klar, Fehler können immer passieren, sowas sollte aber nicht durchgehen.

Gerade weil viele Leute, die im Wissenschaftsbetrieb arbeiten, sich über die Wissenschaftlichkeit ihres Tuns wenig Gedanken machen, ist eine metawissenschaftliche Debatte dringend nötig. Kürzlich habe ich mitbekommen, dass es in manchen naturwissenschaftlichen Instituten völlig üblich ist, dass “vorläufige” Untersuchungsergebnisse komplett erfunden werden, um sich noch fristgemäß bei Konferenzen anzumelden. Falls die dann durchgeführten Studien die erfundenen Daten nicht bestätigen, sagt man halt ab. Um das mal deutlich zu machen: Das ist wie bei der Tour de France, wo einfach alle bescheißen!

Von den grundsätzlichen Defiziten eines peer review Verfahrens mit etablierten Machtzirkeln und normativer Kraft des Veröffentlichten, statt des Faktischen, mal ganz zu schweigen. Versuchen sie mal, nature davon zu überzeugen, dass der Versuchsaufbau eines bereits veröffentlichten papers defizitär ist und wissenschaftliche “Wahrheiten” sich in erneuten Versuchen nicht bestätigen lassen. Mit dem paper dazu schaffen Sie es nicht in den top tier, weil “das ja schon behandelt wurde”. Diese Probleme sind beileibe nicht auf die Soziobiologie beschränkt, deswegen halte ich eine Debatte nicht nur für sinnvoll, sondern für dringend nötig.

Hallo Jörg,

ich teile viel von dem, was Du schreibst, aber ich glaube, Deine Wortwahl lädt mitunter zu Missverständnissen ein.

Die wissenschaftliche Methode ist eine Form der Erkenntnis, eine sehr erfolgreiche, aber ihrem Wesen nach begrenzte. Glauben (im Sinne von “faith”, nicht “belief”) ist eine andere Form der Erkenntnis. Es gibt weitere, die mathematische, vielleicht die hermeneutische, etc.

Welche Formen der Erkenntnis man akzeptiert, wie man sie gewichtet, und wie sie sich zueinander verhalten, sind tiefe Fragen. Was mich stört, sind Leute, die sich Skeptiker nennen, und tatsächlich wissenschaftliche Dogmatiker sind.

Hallo Tobias,

die Unterscheidung im Englischen von belief und faith ist ja leider im Deutschen nicht so klar. Man kann glauben lesen als “für wahr halten mit gewisserer Unsicherheit” und “vertrauen schenken”.

Die Pseudo-Wissenschaftskritiker vermischen das gerne und tun so, als ob jede noch so absurde Behauptung ohne Bezug zur, von anderen Menschen wahrgenommenen Wirklichkeit genauso gültig wäre, wie z. B. die Evolutionslehre.

Wie du auch sagst, halte ich es aber für dogmatisch, den zweiten Aspekt von glauben aus der Erkenntnis auszuschließen.

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