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Musik Slow theory

Slow in Oslo oder Das Wagen von Eigenartigkeit

Natürlich ist Authentizität eine Fiktion. Natürlich ist Lena nicht mehr wirklich “natürlich” und “authentisch” nach diesen Monaten. Und dennoch gibt es etwas, was diese Lena Meyer-Landrut von den anderen unterscheidet. Was ist das?

Sie hatte den Mut abzuweichen. “Sing etwas anderes”, sagten die Profis, als sie zu Beginn des “Unser Star für Oslo”-Auswahlverfahrens das Lied singen wollte, mit dem sie sich beworben hatte. “Sing ein Lied, das die Leute auch kennen.” Nein, sie bestand darauf, ihr eigenartiges Lied zu singen, das keiner kennt. Natürlich hätte das auch schief gehen können, aber dann wäre sie eben wieder zurück nach Hannover gefahren. Den Preis zu zahlen, war sie offenbar bereit. Es geht auch ohne. Ihre Mentoren, die Profis, gingen später dieses Wagnis mit. Präsenz, Aura, Ausstrahlung, das hatte ihr Schützling. Aber gepaart mit soviel Eigenartigkeit war das Neuland. Kommt das an? Keine Ahnung. Aber es ging auf. Ihre eigenartigen Lieder und ihre ungewöhnliche Art sind inzwischen zu ihrem Markenzeichen geworden. Sie beherrscht die hohe Kunst des Aneckens auf eine Art , die ihr Konturen verleiht. Jetzt haben sie sie sogar europaweit mit großem Abstand zur  Siegerin des Eurovision Songcontest gewählt, quer durch Europa, in Estland, in Spanien, in der Slowakei. Wer hätte gedacht, dass so etwas mehrheitsfähig ist?

Vielleicht möchte man jemanden sehen, der ganz bei sich ist (oder zumindest: jemanden, den man sich so denken kann). Das Neue lässt sich vorher nicht testen, es lässt sich nur ausprobieren. Keiner der Zuschauer hätte wohl vorher gesagt, dass er sich ein so merkwürdiges Mädchen auf der Bühne wünscht. Aber jetzt wo sie da war, mochten sie sie.

Ihr Sieg beim Eurovision Songcontest ist vielleicht auch ein Sieg der eigenen Kontur über die Stromlinienform, über die abgesicherte Planung von Effekten. Es ist der Sieg des Schrägen. Denn das Schräge kann manchmal auch das Richtige sein.

Ist das Slow? Es erinnert mich jedenfalls an die brandeins, die im  Jahr 2000, mitten im Dotcom-Boom ein Sonderheft über das Cluetrain-Manifest wagte. Das Eigene wagen, auch wenn es unpassend und schräg ist. Ich denke, ja, auch das ist slow.

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Foto: Vincent Hasselgård

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Nachtrag:

Jan Feddersen schreibt in seinem Beitrag “Alle lieben lovely Lena” auf Spiegel Online:

Gewonnen hat mit Lena vor allem ein Konzept des qualitätsbewussten Castings, das weniger auf Schmutz, Schande und üble Nachrede setzt, sondern auf musikalische Standards. In Allianz mit der ARD schneiderten Stefan Raab und seine Firma Brainpool ein Showformat, das die Kandidaten nicht zu bevormunden suchte. Stattdessen stachelte er ihre Leidenschaften an – musikalische in erster Linie.

Er benennt damit Aspekte, die in unserem Slow Media Manifest ebenfalls eine zentrale Rolle spielen: Qualität, das Nicht-Bevormunden-Wollen, Leidenschaft/Inspiration.