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Thesaurus proverbiorum medii aevi

Samuel Singer "Thesaurus proverbiorum medii aevi"Bei der Auswahl der praktischen Beispiele für Slow Media, die wir nach und nach auf diesem Blog zusammentragen, ist mir schon vor längerem aufgefallen: Unter den Büchern und Internetseiten, die mir einfallen, sind sehr viele Lexika, Enzyklopädien und Datenbanken. Dabei bin ich mir nicht ganz sicher, ob Lexika als solche schon eine besondere Qualität im Sinne der Slow Media besitzen. Oder ist es nur ein persönliches Faible für die darin im Idealfall anzutreffende gut kuratierte Auswahl an Wissenswertem zu einem mehr oder weniger breiten Thema? Sind Lexika slow oder ist es nur meine Art in ihnen querzulesen und mich mit dem Finger von Querverweis zu Querverweis vorzuarbeiten?

Ob objektive Eigenschaft des Mediums oder nur meine möglicherweise nicht repräsentative Art, mit ihnen umzugehen: Der “Thesaurus proverbiorum medii aevi” von Samuel Singer (1860-1948, diesem Rezensenten nach “nicht nur ein seriöser Gelehrter, sondern auch ein Geniesser, Freund von Volkstümlichem und Sinnlichem und Liebhaber von Frauen und Katzen“) ist für mich eines der langsamsten und zugleich auch unterhaltsamsten Bücher, denen ich begegnet bin. Hier stimmt alles – vom lateinischen Titel (“Thesaurus“, das ist fast so schön wie “Summa” oder “Codex“) über den Verlag (Weh-deh-geh) bis zu der langsamen Entstehungszeit (19. Jahrhunderts bis 2002). Aber dieses Buch ist wie fast noch keines der in diesem Blog präsentierten – Luxus. Wer sich alle 13 Bände von “A” bis “zwölf” für das Bücherregal im Arbeitszimmer zulegen möchte, ist mit guten 2.000 EUR dabei.

Aber dafür bekommt der Leser auch eine unendliche Vielfalt von Sprichwörtern aus dem romanischen und germanischen Mittelalter – von Französisch, Provenzalisch, Katalanisch, Spanisch, Portugiesisch, Altnordisch, Englisch, Niederländisch, Deutsch, Latein bis Griechisch reicht die sprachliche Welt, die hier in hunderttausenden Sprichwörtern aufgespannt wird. Dieser Blick auf das universalistische humanistische Erbe Europas ist so erfrischend weit entfernt von dem um die Jahrhundertwende so üblichen Nationalchauvinismus. Überhaupt sind hier so viele Anregungen verborgen, die unsere digitale Welt in einem neuen Licht erscheinen lassen, gerade durch die so fremdartigen Formulierungen. Zum Beispiel zum Thema Freundschaft:

“E cuia s’om aver amic Lai on no s’a ges amiguot” (Und man glaubt da einen Freund zu haben, wo man nicht einmal ein Freundchen hat).

Oder auf der anderen Seite:

“Esa es mi amigo, el que muele en mi molinillo” (Derjenige ist mein Freund, der in meiner Mühle mahlt)

Social Networks wie Facebook, Myspace oder StudiVZ als Mühlen, in denen gemeinschaftlich das Mehl für ein gutes Brot gemahlen wird. Schließlich noch:

“Entre deux amis n’a que deux paroles” (Zwischen zwei Freunden braucht es nur zwei Worte)

Was für ein schönes Plädoyer für das alltägliche Zusammenleben mit seinen Freunden auf Twitter.

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Wer keine 2.000 Euro für diese Reihe ausgeben möchte oder kann, dem ist zu empfehlen, einen Bibliothekslesesaal in der Nähe aufzusuchen und dort in Welt der mittelalterlichen Sprichwörter einzutauchen. Eine besonders passende Atmosphäre bietet hier der Handschriftenlesesaal der Bayerischen Staatsbibliothek in München.

In Auszügen lassen sich diese Bücher auch über die Google-Buchsuche lesen – zu Zufallsfunden kommt es dabei allerdings viel seltener.