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Alles fließt. Über Statisten und Blutwunder

Die Spanier sind offenbar derzeit nicht einverstanden mit der ihnen zugedachten Statistenrolle in ihrer Demokratie und der Gesellschaft. Ihre Demokratie ist zu einer Beteiligungssimulation geronnen. Rituale der Macht und ihre Verteilung folgen parteiübergreifend ihren eigenen, inhärenten Regeln. Teilhabe – vielleicht ohnehin eine Illusion – stört den Ablauf. Alles stockt, nichts fließt mehr.

“Empörung” heißt jetzt “indignación”, junge Spanier formulieren es auf der Plattform “Democracia Real Ya!” in einem Manifest und sie fordern eine ethische Revolution. Von Empörung war ja auf diesem Blog schon Rede. Es ist mein Wort des Jahres. Verbunden mit der Frage: Was empört uns eigentlich?

Die spanische Empörung – und nicht nur sie – entzündet sich an dem Wunsch der Menschen, eine aktive Rolle in der Politik, in der Gesellschaft, in der Welt spielen zu wollen. Menschen wollen keine Statisten sein, sie wollen aktiv sein, nicht passiv. Bei einer Jugendarbeitslosigkeit von 45 % ist das mehr als eine ethische Forderung, es ist eine ganz elementare. Die geronnenen Demokratieformeln genügen ihnen nicht mehr. Etwas Neues muss her, oder eine neue Art und Weise, das Alte zu tun.

Sicher, die Frage ist, was danach kommen soll. Aber die neue Struktur zeigt sich erst, wenn die alten Strukturen ins Schwimmen geraten sind. Es ist ein Kennzeichen von Phasen des Übergangs, dass alles ins Rutschen gerät und die Strukturen ihre Kontur verlieren. Dann erst können neue Strukturen aufscheinen, kann eine neue Ordnung wieder zu klaren Formen und Strukturen kondensieren. Peter Glaser beschreibt das sehr schön in seinem Essay “Auf in die Hypermoderne: Der Übergang” als zunehmendes Flirren und Rasen. Seine Frequenz nimmt zu, bis sich “eine neue Struktur ausgeprägt hat, ein neuer Grad an Ordnung, und sich eine neue Geläufigkeit einstellt”.

Ich denke hier die Lage der Politik, der Gesellschaft und der Medien zusammen. In allen diesen Bereichen befinden wir uns in einem Übergang. Das Bisherige passt nicht mehr, das Neue hat noch keine Konturen. In der Berichterstattung über die Revolutionen spiegelt sich genau dies auch auf der Ebene der Medien und des Journalismus. Noch fehlen uns die geeigneten neuen Kulturtechniken, um mit den Veränderungen umzugehen. Aber wir entwickeln sie grade.

Und so können wir auch die Spanische Revolution 2011 lesen: Als einen ersten Schritt, um Bewegung in die Lage und die Dinge in Fluss zu bringen, Gestocktes zu lösen und damit die Voraussetzungen für Neues zu schaffen.

In anderem Zusammenhang (S. 93 ff.) habe ich einmal von dem thixotropen Effekt des Web 2.0 gesprochen, das mit seinen Beteiligungs- und Prosumenteneffekten bestehende Strukturen auflöst. Thixotropie bezeichnet in der Physik die Eigenschaft eines Stoffes, sich durch Bewegung verflüssigen zu können, seinen Aggregatzustand zu verändern. Bekannt ist dieser Effekt z.B. bei Ketchup, der erst geschüttelt werden muss, damit er aus der Flasche fließt – und auch bei einigen der sogenannten “Blutwunder“, bei denen sich geronnenes Reliqiuenblut durch Schütteln wieder verflüssigt.

Wissen, Kultur und Gesellschaft haben auch thixotrope Eigenschaften: Sie lassen sich durch Bewegung in Bewegung bringen, sie verändern ihren Aggregatzustand, ihre Form und ihre Kontur. Ihre Strukturen sind nicht statisch, sie reagieren auf die Umwelt. Das ist eine evolutionäre Überlebenstrategie: Die vorübergehende Verflüssigung macht den Weg frei für eine Reorganisation, für die Herausbildung neuer, angemessener Strukturen und für neue Kulturtechniken.

Wer weiß, vielleicht gilt dasselbe gar auch für die Politik.

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Weitere Blog-Beiträge zum Thema:

http://www.slow-media.net/tribales-trommeln

http://www.slow-media.net/spanische-revolution

http://www.slow-media.net/agypten-und-der-rest-der-welt

 

 

3 replies on “Alles fließt. Über Statisten und Blutwunder”

Ja, es sieht so aus, von Ferne, als würde sich in Spanien etwas aus der Erstarrung lösen. Die fassbarste Forderung der jungen Demonstranten betrifft wohl das Wahlrecht, das die Diktatur der Parteien-Bürokratie zementiert.
Verflüssigung als Metapher gefällt mir auch recht gut und lässt sich auf vieles übertragen, denn die Liebe zum Starren und Erstarrten gehört fast zum Quellprogramm jeder bürgerlichen Gesellschaft. Im Normalzustand befinden sich daher alle demokratischen Staaten im permanenten “Kampf” zwischen den Dynamikern/Verflüssigern auf der einen Seite und den Bremsern/Verfestigern auf der anderen. Ich halte diesen Kampf als solchen übrigens für gut und würde mich gleichermaßen vor einer Gesellschaft fürchten, in der die Bremser über 80% Herrschaftsanteil haben wie vor einer Gesellschaft, in der die Dynamiker umgebremst durchknallen dürfen.
Aber atmen wir mal nicht zu viel von der dünnen Luft der Abstraktionen ein … Was mir auffällt, ist dieser Satz von dir: “Ich denke hier die Lage der Politik, der Gesellschaft und der Medien zusammen.” Abgesehen davon, dass dies vielleicht sowieso nur 3 Ansichten eines Gebäudes sind, fehlt seltsamerweise der Gebäudekern: die Wirtschaft. Und da liegt bekanntlich das Hauptproblem – im doppelten Sinne – für die Demonstranten. Nicht nur fehlt es der spanischen Wirtschaft vor dem Hintergrund der epochalen Kontinentaldrift in der Weltwirtschaft an den Strukturen, um ausreichend Zukunft und Arbeitsplätze zu produzieren; man kann auch an die Wirtschaft nicht Forderungen richten wie an die Politik oder die Medien. Die Politik ist da fast so etwas wie die stellvertretende Adresse. Aber gegen Struktuschwäche kann man schlecht opponieren. Das ist wie in Griechenland. Natürlich kann die Politik etwas tun und die wirtschaftlichen Zustände tendenziell “verflüssigen”. Letztlich hat man es aber mit historischen Entwicklungen zu tun, die buchstäblich Jahrhunderte zurückreichen (z.B. hängt die deutsche flächendeckende Mittelstandskultur mit der Kleinstaaterei im 17./18. Jhrdt. zusammen, so wie die Erfindung des Kapitalismus in GB etwas mit dem Erbrecht der altenglischen Adelsgesellschaft zu tun hat – und jetzt haben die Briten diese abstrus finanzdominierte Wirtschaft an den Hacken kleben – etc., kann man alle Ländern einzeln durchgehen). Nichts gegen deine optimistische Sicht, dass kräftiges Durchschütteln per se etwas Gutes ist – an schnelle, leichte, einfache Erfolge sollte man aber nicht glauben.
Es gibt übrigens ein schönes spanisches Sprichtwort, dem Sinn nach: “Gewohnheiten sind wie Spinnweben, die mit der Zeit zu Drahtseilen werden.” Sich aus diesen Drahtseilen zu befreien, ist auch eine Forderung, die jeder ständig auch gegen sich selbst richten darf.

Etwas Neues muss her

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