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Von Plätzen, Bäumen und sozialen Räumen

In der Türkei entzündete sich ein zivilgesellschaftlicher Protest an einem öffentlichen Platz mit Bäumen, dem Gezi-Park. Er ist die letzte verbleibende öffentliche Grünfläche Istanbuls. Die Bäume sollen abgerissen, der Platz mit einem Einkaufszentrum bebaut werden. Bürger besetzen den Platz und verteidigen ihn wie ihr letztes Hemd.

Was hat das mit Slow Media zu tun? Unser theoretischer Ansatz führt den digitalen Wandel auf einige fundamentale gesellschaftlichen Veränderungen und Bedürfnisse zurück. Neben der Reoralisierung unserer Kultur und einer Kultur des Tauschens, Teilens und Austauschens benennen wir auch das Bedürfnis nach Kontaktaufnahme und der Schaffung von neuen Gemeinschaften als zentrale treibende Kraft. Hieran schließen sich die Phänomene an, die wir in diesem Blog bereits als “Memetic Turn” bezeichnet haben (z.B. hier, hier und hier). Es spricht daraus die Sehnsucht der Menschen nach Bindung und Bezug. Mit der FAZ kann man vielleicht sagen, dass wir damit an einer Bindungstheorie der postdigitalen Netzgesellschaft arbeiten.

Der Medientheoretiker Marshall McLuhan sprach schon in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts von der Retribalisierung als Kennzeichen des elektrischen Zeitalters. Die Menschen möchten sich zu Gemeinschaften zusammenfinden, die nicht durch Herkunft, Sprache oder Berufsgruppe definiert sind, sondern durch ein gemeinsames Interesse, ein Anliegen oder eine gemeinsame Empörung (nicht zufällig fielen unsere Überlegungen zu dem Thema in die Zeit des arabischen Frühlings und der Spanischen Proteste). Digitale Infrastrukturen helfen den Menschen, dieses Bedürfnis in gelebte Realität umzusetzen.

Der arabische Frühling hat uns vor einigen Jahren einen Mechanismus vorgeführt, mit dem immer schon geschlossene, autoritäre Systeme ihr System stabilisieren. Machthaber, die ihre Macht behalten wollen, handeln nach der Devise: Kontrolliere die öffentlichen Plätze und das Internet – und die Macht wird auf deiner Seite sein. Was ist der gemeinsame Nenner von öffentlichen Plätzen und digitaler Infrastruktur? Beides sind soziale Interaktionsräume. Wer diese kontrolliert, kontrolliert die Kommunikation, unterbindet Gespräche, verhindert, dass die Menschen sich zusammenschließen können. Wer den Austausch zwischen den Bürgern verhindert, verhindert, dass aus vielen einzelnen Problemen ein großes Problem wird. Viele kleine Probleme lassen sich kontrollieren. Ein großes Problem nicht. Man muss gar nicht in die große Geopolitik gehen, auch kleine Institutionen wie Schulen und Vereine funktionieren so. Wird die Kommunikation untereinander gefördert oder verhindert? Das unterscheidet auf allen Ebenen offene von geschlossenen Systemen.

Allerdings – und das ist das Schöne an ihnen – lassen sich  digitale Infrastrukturen nicht so einfach kontrollieren, wie es für manche Machthaber wünschenswert wäre. Ein Tweet* von vorgestern illustriert das mit seinen 322 Retweets sehr gut:

Gezi-Parc

Hunderte von Mediennutzern retweeten ein (möglicherweise) zensiertes Foto und machen es damit unzensierbar. Die Hüter geschlossener Systeme kennen diese Mechanismen, wie Seismographen reagieren sie darauf. China sperrte damals im arabischen Frühling sofort den Zugang zu den verdächtigen Memen wie #jan25.

Auch in der Türkei wiederholt sich das prompt. “As Anti-Government Protests Erupt in Istanbul, Facebook And Twitter Appear Suddenly Throttled” meldet TechCrunch vorgestern. Seit die Proteste um den Gezi-Platz zunehmen, häufen sich die Hinweise darauf, dass der Zugang zu sozialen Medien wie Twitter und Facebook erschwert ist. Jedes Smartphone auf dem Platz ist ein Zeuge, der via Internet dokumentieren kann, was dort passiert. Mein Kollege Benedikt Köhler hat eine schöne Visualisierung der Gezi-Park-assoziierten Tweets angelegt: Mapping a Revolution. Die letzte Karte zeigt genau, was öffentliche Plätze und Twitter gemeinsam haben: Das geographische und digitalkommunikative Zentrum des Protestes sind ein und dasselbe. Oder wie Benedikt sagt: “here’s a look at the tweet locations in Istanbul. The map is centered on Gezi Park – and the activity on Twitter as well.”

Das reale und das digitale Zentrum der Proteste fallen zusammen. Der Unterschied zwischen dem realen und dem digitalen sozialen Interaktionsraum schwindet. Öffentliche Räume und Plätze laden die Bürger ein, sich hier zu treffen und miteinander zu sprechen. Es ist gut, dass dies inzwischen auch in digitalen Räumen möglich ist.

Nein, es ist kein Zufall, dass sich die türkischen Proteste an dem Erhalt eines öffentlichen Platzes entzünden. Es ist ein Zeichen dafür, das die Zivilgesellschaft sich den öffentlichen Raum zurückerobern und verteidigen möchte. Die Bürger sagen damit ihren Machthabern: Der öffentliche Raum gehört uns und nicht euch. Wir sind der öffentliche Raum. Bei Aufständen stehen oft Plätze im Zentrum, Tahrir, der Platz des Himmlischen Friedens. Proteste brauchen einen Ort, an dem Menschen zusammenkommen und sich verabreden können. Mit “Der Platz gehört uns” wird einer der Demonstranten zitiert.

Und so ist es konsequent und vielsagend, was der türkische Ministerpräsident Erdogan, gegen dessen Regierung sich die Prosteste inzwischen richten, mit herablassendem Lächeln in seiner Rede am 1. Juni nach vorläufigem Abzug der Polizeieinheiten sagt: “Was wollen diese Leute denn? Wollen sie Bäume? Wenn ihr Bäume wollt, könnt ihr Bäume haben.” Und mit aufblitzendem süffisanten Lächeln sagt er: “Ihr bekommt Bäume von uns. Wir können euch auch welche für eure Gärten besorgen.” (ab min 2:30, heutejournal, 1. Juni 2013). Er strahlt bei dem Gedanken, der ihm da gekommen ist. Und tatsächlich hätte er ein großes Problem weniger, wenn alle seine Bürger einzeln zu Hause unter ihren privateigenen Bäumen sitzen würden, anstatt zu Zehntausenden gemeinsam in einem öffentlichen Park zusammenzufinden.

Es wird interessant sein, das weiter zu beobachten.

 

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Nachtrag 1 (5. Juni 2013)

Ja, es bleibt interessant, das weiter zu beobachten.

Der türkische Ministerpräsident schlägt seine Schlacht konsequent sowohl im Stadtraum wie auch im digitalen Raum weiter: “Es gibt etwas, was sich Twitter nennt – ein Plage. Die größten Lügen sind hier zu finden”, wird Erdoğan zititert. “Für mich sind die sozialen Medien die schlimmste Bedrohung von Gesellschaften.” Erste Meldungen dieser Aussage gehen bereits auf den 2. Juni zurück.

Nun sind 25 Menschen wegen der “Verbreitung beleidigender Informationen”, “Irreführung”, “Aufruf zum Protest” und “Aufstachelung” festgenommen worden (Quelle1, 2).  Das Vokabular ist irritierend für eine Demokratie, die auf Meinungsfreiheit basiert und sich zu Europa zählt.

Nachtrag 2

Die Macht der Meme nimmt auf der anderen Seite stetig zu.

Henry Farrell stellt am 3. Juni fest, dass bereits jetzt der Hashtag #direngezipark häufiger benutzt wird als #jan25 während der gesamten ägytischen Revolution:

“The hashtag #direngezipark is still the most popular and has been used in more than 1.8 million tweets as of this morning. In comparison, the hashtag #jan25 was used in less than one million tweets during the entire Egyptian revolution.”

 

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* Natürlich kann es sich bei uneindeutiger Quellenlage im Einzelfall bei solchen Fotos auch um Fälschungen handeln. Der zugrundliegende Mechanismus funktioniert trotzdem: Es können authentische Zeugen-Fotos per Smartphone vom Gezi-Platz aus an die Öffentlichkeit gelangen.

 

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Alles fließt. Über Statisten und Blutwunder

Die Spanier sind offenbar derzeit nicht einverstanden mit der ihnen zugedachten Statistenrolle in ihrer Demokratie und der Gesellschaft. Ihre Demokratie ist zu einer Beteiligungssimulation geronnen. Rituale der Macht und ihre Verteilung folgen parteiübergreifend ihren eigenen, inhärenten Regeln. Teilhabe – vielleicht ohnehin eine Illusion – stört den Ablauf. Alles stockt, nichts fließt mehr.

“Empörung” heißt jetzt “indignación”, junge Spanier formulieren es auf der Plattform “Democracia Real Ya!” in einem Manifest und sie fordern eine ethische Revolution. Von Empörung war ja auf diesem Blog schon Rede. Es ist mein Wort des Jahres. Verbunden mit der Frage: Was empört uns eigentlich?

Die spanische Empörung – und nicht nur sie – entzündet sich an dem Wunsch der Menschen, eine aktive Rolle in der Politik, in der Gesellschaft, in der Welt spielen zu wollen. Menschen wollen keine Statisten sein, sie wollen aktiv sein, nicht passiv. Bei einer Jugendarbeitslosigkeit von 45 % ist das mehr als eine ethische Forderung, es ist eine ganz elementare. Die geronnenen Demokratieformeln genügen ihnen nicht mehr. Etwas Neues muss her, oder eine neue Art und Weise, das Alte zu tun.

Sicher, die Frage ist, was danach kommen soll. Aber die neue Struktur zeigt sich erst, wenn die alten Strukturen ins Schwimmen geraten sind. Es ist ein Kennzeichen von Phasen des Übergangs, dass alles ins Rutschen gerät und die Strukturen ihre Kontur verlieren. Dann erst können neue Strukturen aufscheinen, kann eine neue Ordnung wieder zu klaren Formen und Strukturen kondensieren. Peter Glaser beschreibt das sehr schön in seinem Essay “Auf in die Hypermoderne: Der Übergang” als zunehmendes Flirren und Rasen. Seine Frequenz nimmt zu, bis sich “eine neue Struktur ausgeprägt hat, ein neuer Grad an Ordnung, und sich eine neue Geläufigkeit einstellt”.

Ich denke hier die Lage der Politik, der Gesellschaft und der Medien zusammen. In allen diesen Bereichen befinden wir uns in einem Übergang. Das Bisherige passt nicht mehr, das Neue hat noch keine Konturen. In der Berichterstattung über die Revolutionen spiegelt sich genau dies auch auf der Ebene der Medien und des Journalismus. Noch fehlen uns die geeigneten neuen Kulturtechniken, um mit den Veränderungen umzugehen. Aber wir entwickeln sie grade.

Und so können wir auch die Spanische Revolution 2011 lesen: Als einen ersten Schritt, um Bewegung in die Lage und die Dinge in Fluss zu bringen, Gestocktes zu lösen und damit die Voraussetzungen für Neues zu schaffen.

In anderem Zusammenhang (S. 93 ff.) habe ich einmal von dem thixotropen Effekt des Web 2.0 gesprochen, das mit seinen Beteiligungs- und Prosumenteneffekten bestehende Strukturen auflöst. Thixotropie bezeichnet in der Physik die Eigenschaft eines Stoffes, sich durch Bewegung verflüssigen zu können, seinen Aggregatzustand zu verändern. Bekannt ist dieser Effekt z.B. bei Ketchup, der erst geschüttelt werden muss, damit er aus der Flasche fließt – und auch bei einigen der sogenannten “Blutwunder“, bei denen sich geronnenes Reliqiuenblut durch Schütteln wieder verflüssigt.

Wissen, Kultur und Gesellschaft haben auch thixotrope Eigenschaften: Sie lassen sich durch Bewegung in Bewegung bringen, sie verändern ihren Aggregatzustand, ihre Form und ihre Kontur. Ihre Strukturen sind nicht statisch, sie reagieren auf die Umwelt. Das ist eine evolutionäre Überlebenstrategie: Die vorübergehende Verflüssigung macht den Weg frei für eine Reorganisation, für die Herausbildung neuer, angemessener Strukturen und für neue Kulturtechniken.

Wer weiß, vielleicht gilt dasselbe gar auch für die Politik.

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Weitere Blog-Beiträge zum Thema:

https://www.slow-media.net/tribales-trommeln

https://www.slow-media.net/spanische-revolution

https://www.slow-media.net/agypten-und-der-rest-der-welt

 

 

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Was empört uns?

Als ich vor fünf Wochen das Büchlein “Indignez vous!” aufschlug, um den Essay des 93Jährigen Stéphane Hessel zu lesen, passierte etwas Besonderes. Ich legte nach wenigen Zeilen das Buch beiseite, stand auf, holte mir einen Bleistift und setzte mich wieder zum Lesen. Mit dem Stift in der Hand, um Stellen anzustreichen und mir Notizen zu machen.  Das habe ich seit Jahren nicht mehr getan. Die letzten Anstreichungen in meinen Büchern stammen noch aus meiner Studienzeit.

Ich weiß nicht genau, wie diese Wirkung zustande kam. Vielleicht war es die Unumwundenheit, mit der ein Mensch geradeheraus und unumstößlich feststellt, dass wir Prinzipien und Werte brauchen. Das ist ungewöhnlich, obwohl doch die Menschrechte für uns alle eigentlich selbstverständlich sind.

Stéphane Hessel hat noch etwas zu sagen, bevor er geht. Er spricht von Verantwortung. “La responsabilité de l’homme qui ne peut s’en remettre ni à un pouvoir ni à un dieu” (p. 13). Er meint damit die Verantwortung als Mensch, die man an niemanden abgeben kann, die nicht delegierbar ist.  Hessel wünscht uns Nachgeborenen (und das sind wir in Anbetracht seines Alters wohl alle) Gründe zur Empörung, die uns an diese Veranwortung erinnern, an die Notwendigkeit für etwas einzustehen und zu handeln.

“Je vous souhaite à tous, à chacun d’entre vous, d’avoir votre motif d’indignation. C’est précieux.” (p.12)

Mehr noch fordert er, diese Gründe zur Empörung, die Dinge, die unerträglich und nicht akzeptabel sind, “les choses insurportables”, gezielt zu suchen: “Pour le voir, il faut bien regarder, chercher.” (p.14). Hessel rät, hinzusehen und sich der Differenz zwischen dem “wie es sein sollte” und dem “wie es ist”, auszusetzen, sie auszuhalten und Empörung zuzulassen. Erst aus der empfundenen Differenz zwischen Ideal und Realität entspringt Handeln. “L’indifférence: la pire des attitudes”, lautet der konsequente Umkehrschluss. Denn Indifferenz verhindert das Handeln.

Empörung, unsere Preziose. Das finde ich interessant. Was empört uns eigentlich? Was wäre in der Lage uns zu entrüsten?  Was würde uns auf die Barrikaden gehen lassen?

Zu meinem Beitrag, den ich über Hessels Buch schreiben wollte, bin im Januar nicht gekommen. Es passierte soviel anderes. Inzwischen gibt es eine deutsche Übersetzung von Michael Kogon. Ich nehme sie zum Anlass, dieses Büchlein mit seinen lesenwerten 20 Seiten hier doch noch zu empfehlen, und zwar nachdrücklich. Es ist ein Buch, das sich wunderbar teilen und verschenken läßt.

Zwischen meiner ersten Begegnung mit dem französischen Essay und seiner deutschen Übersetzung liegen nur wenige Wochen. Aber was für Wochen! Tunesien, Ägypten, Libyen liegen dazwischen. Wieviel gerechte Empörung liegt darin. Wieviel Erstaunen unsererseits, dass Menschenrechte tatsächlich etwas sind, wofür Menschen bereit sind, ihr Leben zu riskieren, vor unseren Augen.

Ja, Stéphane Hessel lächelt dieser Tage, wenn er im Fernsehen auf die Lage in der arabischen Welt angesprochen wird.

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Stéphane Hessel hier ab min 4:30 (ard, Beckmann)

Stéphane Hessel: Indignez-vous! Indigène éditions, Montpellier, décembre 2010. 6 €

Stéphane Hessel: Empört Euch! Aus dem Französischen von Michael Kogon. Ullstein, Berlin 2011. 3,99 €

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Nachtrag in eigener Sache:

Ganz am Ende, nachdem ich dem alten Herrn schon längst erlegen war, entdeckte ich diese Textstelle, die Stéphane Hessel als Slowmediavisten decouvriert:

“La pensée productiviste, portée par l’Occident, a entraîné le monde dans une crise dont il faut se sortir par une rupture radicale avec la fuite en avant du “toujours plus”, dans le domaine financier, mais aussi dans le domaine des sciences et des techniques. Il est grand temps que le souci d’éthique, de justice, d’équlibre durable devienne prévalent.” (p. 20)

Hier in deutscher Übersetzung:

“Das im Westen herrschende materialistische Maximierungsdenken hat die Welt in eine Krise gestürzt, aus der wir uns befreien müssen”, schreibt Hessel. “Wir müssen radikal mit dem Rausch des ‘Immer noch mehr’ brechen, in dem die Finanzwelt, aber auch Wissenschaft und Technik die Flucht nach vorn angetreten haben. Es ist höchste Zeit, dass Ethik, Gerechtigkeit, nachhaltiges Gleichgewicht unsere Anliegen werden.” (S. 19f.)