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>digital<: (be)fingern

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Digital – Bedeutungen:
[1] Elektronik: (Daten) mit Ziffern und Zahlen dargestellt
[2] Medizin: die Finger betreffend
(wiktionary.org)

Im Deutschen erfahren wir die Wirklichkeit der Welt durch Be-Greifen – wir greifen mit unseren Fingern. Auch zählen hat seinen Ursprung im Abzählen an Finger und Zehe – dem digitus. An den interessanten Zusammenhang zwischen unseren Händen, dem Begreifen und dem Zählen als Grundlagen unserer digitalen Kultur hat mich die schlüpfrige Herleitung des Wortes digital durch Arno Schmidt wieder erinnert.

Als Schmidt Ende der sechziger Jahre seinen ersten und umfangreichsten Typoskriptromane “Zettel’s Traum” verfasste, hatte das Wort digital in der deutschen Sprache noch fast ausschließlich die medizinische Bedeutung, wie sie unter [2] im Wiktionary vermerkt ist; ich habe das in mehreren Lexika und Duden aus dieser Zeit nachgesehen – nirgends wird digital in der heute vorherrschenden Weise [1] gebraucht.

Anders im englisch-amerikanischen Raum. Hier bedeutet digit schließlich Zahl. Wieso zählen die Engländer so direkt mit ihren Fingern, während wir mit zala, mit Zeichen rechnen? Zwar haben Zahl, Zeichen, digitus und digit alle dieselbe indogermanische Wurzel *dĭ̄k-, aber dennoch ist der Weg in die Sprachen unterschiedlich verlaufen.
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Ein der für Astronomen und Theologen seit der Spätantike gleichermaßen interessantes Problem war die Festlegung des Osterfestes in den Kalendern. Die Schwierigkeit liegt darin begründet, dass die sieben Wochentage, die unterschieldichen Monatslängen und die 365 Tage des Jahres keine Vielfachen voneinander sind. Dadurch variiert der erste Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühjahr zwischen 22. März und 25. April. Es war die Kunst des Computus, dieses Datum für die Jahre in die Zukunft zu berechnen.

Der angelsächsische Benediktiner Beda, genannt der Ehrwürdige, ‘Venerabilis’, ist der Vater unserer Zeitrechnung in Jahren nach bzw. vor Christi Geburt. Wie viele Denker in Folge von Augustinus ging auch Beda davon aus, dass in unserer Welt “alles nach Maß und Zahl geordnet” ist (Weish. 11,20 – sed omnia mensura et numero et pondere disposuisti).

Um eine, für die gesamte Welt gültige und einheitliche Berechnung des Osterfestes zu liefern, hatte er am Ende des siebten Jahrhunderts das fortan verbindliche Werk zum Computus geschrieben: De Temporum Ratione, vom Berechnen der Zeiten.

Gleich im ersten Kapitel geht es um das “Rechnen oder Sprechen mit den Fingern”. Beda führt das Abzählen ein und zeigt, wie aus das Zählbare über den Schritt des Abzählens mit den Fingern in ein Alphabet von Zahlenzeichen abgebildet wird – es wird Digitalisiert. “De Computo vel loquela digitorum” – Computing with Digits.

Auch wenn viele Entwicklung der digitalen Rechentechnik von Schickard bis Leibnitz – und schließlich Zuse – in Deutschland stattgefunden hatten, waren es Charles Babbage und Ada Byron, die einen Digit Counting Apparatus in das Rechenwerk ihrer Analytical Engine setzten. Seit da taucht das Wort digital immer häufiger im Zusammenhang mit Rechenmaschinen in England und den USA auf. Seit Ende der 1930er Jahren (und bis heute) wird digital, das kodieren von Signalen durch diskrete Zahlenwerte dann im Gegensatz zu analog verwendet.
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Die digitale Welt – an den Fingern abgezählt, abstrahiert, in Daten zerlegt, die durch logische Regeln weiterberechnet werden. Im Gegensatz dazu scheint die analog begriffenen Wirklichkeit zu stehen.
Dort Plato – hier Aristoteles … etc. etc.

14 replies on “>digital<: (be)fingern”

ich hätte eine Gegendarstellung, die auch auf “Fingern” beruht, aber nicht so “primitiv” ist, zu meinen, man hätte jemals anhand von nur 10 Fingern gezählt. Der “Finger” steht als Symbol fürs Zeigen (im Zeichen).

Aber natürlich gebe ich zu, dass Deine Version den Commonsense wiedergibt.

@ RolfTodesco Tatsächlich beschreibt Beda in dem oben genannten Kapitel ganz konkret Rechenregeln unter Zuhilfenahme der Finger:
“Cum ergo dicis Unum, minimum in laeva digitum inflectens, in medium palmae artum infiges.” usw.

Das finde ich ja eben so bemerkenswert: das Wort digit für Zahl leitet sich direkt aus dem Zählen mit den Fingern ab und nicht im übertragenen Sinn!

@ ibenno –
> das Wort digit für Zahl leitet sich direkt aus dem
> Zählen mit den Fingern ab und nicht im übertragenen Sinn!

nein. Aber vielleicht können wir uns auf einer anderen Ebene einigen: Es ist nicht so oder so. Der Beobachter beobachtet es so oder so.
Der Beobachter kann die Formulierung von Beda beobachten, aber man kann natürlich auch ganz anders beobachten. Und das Kriterium für die Beobachtung ist der Beobachtung inhärent.
Ich sehe die Sache so: Wenn ich gesprochene oder geschriebene Zeichen wie “zwei” oder “2” einführe, kann ich mittels eine entsprechenden Anzahl Finger ZEIGEN, wie ich dieses Zeichen verwende. Das hat mit ZÄhlen und Rechnen nichts zu tun, sondern ist eine Vereinbarung. (Aber eben, ich schreibe hier ein Beobachtung)

Ein schönes Vilém Flusser Zitat zum schönen Beitrag:

“Sie [die Rechenmaschine] rechnet so schnell, daß sie sich mit dem Addieren von 1 und 0, mit dem Befehl ‘Digitalisieren’, begnügen und somit auf alle mathematischen Verfeinerungen verzichten können. Sie rechnen mit zwei Fingern, aber dies so schnell, daß sie besser rechnen können als die größten Mathematiker.” Digitaler Schein, 1991

Sein Aufsatz endet mit dem Denken einer neuen Ästhetik im Sinne eines Erlebten.

@helge david: ja schön geschrieben = Literatur über beseelte Maschinen, die rechnen und Befehle entgegennehmen und blitzschnell ausführen, in dem sie – somatisierte Maschine – ihre Finger verwenden.

Ich beobachte diese Beobachtung auf “digital” als commonsense – nur fehlt dem commonsense normalerweise die Reflexion auf die verwendete Meataphorik. Ich will nichts über Flusser sagen und auch nichts darüber, was er hier gemeint oder reflektiert haben könnte. Mir geht es um die Beobachtung, wie “digit(al)” verwendet wird und was die jeweilige Perspektive sichtbar und unsichtbar macht.

Das Analoge war auch begriffsgeschichtlich vor dem Digitalen. Das hier scheint einer der frühesten Exemplare von “digital” in der heutigen Bedeutung in der freien Wildbahn zu sein.

Vgl. dazu Dennhardts Aufsatz “Zur Technikgeschichte des Digitalbegriffs von der Türklingel zum Computer 1837 – 1945” (http://www.zfl.gwz-berlin.de/fileadmin/bilder/Projekte/Begriffsgeschichte/dennhardt_digitalbegriff.pdf)

Vorher sprach man von “pulse”. In einer Parallelwelt spricht man demnach möglicherweise von “pulsierenden Eingeborenen” und “pulsierenden Einwanderern”.

@benedikt Danke für den Link. Und für den Im-pulse.
Ich unterscheide zwei Unterscheidungen:
– analog / digital
– kontinuierlich / diskret
und im commonsens wird sehr oft auf diese Unterscheidung verzichtet, das heisst die Begriffspaare werden beliebig “synonymisiert”. Ein Im-Pulse ist ein diskreter Stromstoss. Das hat mit digital (als Differenz zu analog) nichts zu tun.
Aber hier ist natürlich die Frage, mit welchen Unterscheidungen wir beobachten.
Ich lese jetzt mal den Aufsatz

Benedikt hat natürlich recht in seinem Tweet.

Arno Schmidt kommt ununterbrochen in ZT auf Wortspiele mit Analog. Hier z. B. auf 790:

@sabria: Danke für die Fingerhüte (Digitalis), die zeigen, dass wir digit mit Finger übersetzen (können) 😉

@benedikt: ich habe im Dennhardt-Text gelesen. Er ist skrulil aufgegleist, indem er bereits mit der Vorstellung beginnt, dass digital und diskret synonym sind – und das obwohl Dennhardt klar erkennt, dass “diskret” eine Frage der Auflösung betrifft. Er schreibt:

“Elektromagnetisch lassen sich diskrete Zustände bezüglich des
Verhältnisses von Magnetfeldstärke und Stromfluß unterscheiden anhand des geschlossenen oder offenen Stromkreises. Mithilfe des logischen Diskurses schließlich symbolisiert das diskrete Öffnen und Schließen des Unterbrecherkontakts die binäre Opposition Null und Eins. Anders gesagt, je systemisch kleinskalierter der Diskurs ist, mithilfe dessen über diese Apparatur gesprochen wird, desto eher lässt sie sich als etwas Digitales anschreiben.”

Er unterscheidet damit diskret/kontinuierlich:
http://www.hyperkommunikation.ch/lexikon/kontinuierlich.htm

und folgert – sinn- und zusammenhangslos – daraus etwas zu “digital”

Er widerspricht damit seinem einleitenden Gebot von Goodman.

@ alle: ich würde sehr gerne hören, welche Begriffspaare im Sinne von kategorialen Unterscheidungen verwendet werden – falls diese Seite nicht einfach literarisch gemeint ist.

… digitalis heißt überigens nicht nur “Fingerhut”, sondern auch “Handschuh”

@ Rolf Todesco für mich bedeutet digital “in Zahlen abgebildet” (oder allgemeiner in Daten abgebildet), also eine besondere Form der Abstraktion. Im Gegensatz zu sehe ich analog, wörtl. “entsprechend” als konkret, als der sinnlichen Wahrnehmung nach vergleichbar zum Urbild.

Ich bin völlig deiner Meinung, dass diskret/stetig, abzählbar/überabzählbar, dicht/mager (im Sinne der Analysis) jeweils etwas anderes ausdrücken und nicht synonym verwendet werden können.

@ ibenno: es müsste dann wohl FINGER-Handschuh (im Unterschied zum Fausthandschuh) heissen ?

@ ibenno
ok, dann teilen wir das Begriffspaar digital/analog, was ja viele Menschen nicht tun.

> digital = “in Zahlen abgebildet” (oder allgemeiner in Daten abgebildet)

ich würde das gerne genauer auflösen. Heisst es dann (im Sinne einer Unterscheidung):
“in Zahlen abgebildet” versus NICHT abgebildet
oder
“in Zahlen abgebildet” versus NICHT in Zahlen

oder “sprachlicher” gefragt, wird mit digital eine Art der Abbildung charakterisiert oder etwas mit Bezug auf Zahl/Datum?
http://www.hyperkommunikation.ch/lexikon/referenzierungsarten.htm

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