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Es gibt kein digitales Altpapier, oder: Die große Chance der Verlage im Web

McLuhans Tetrade der Medienwirkungen war in diesem Blog schon öfters Thema, da sie besonders gut geeignet ist, die Veränderungen der Medienfunktionen zu erklären. Die Tetrade macht vor allem deutlich, dass Medienwandel nicht nur heißt, dass neue Medien hinzukommen und alte Medien absterben, sondern dass es häufiger vorkommt als man denkt, dass alte Medienfunktionen wiederentdeckt werden. Eine solche Wiederentdeckung kann man in diesen Tagen live mitverfolgen. Als Labor dieses Realexperiments dienen wie so oft die neuen Tablets von Kindle bis iPad.

Altpapier als mediales Stoffwechselprodukt

Einer der großen Nachteile von gedruckten Zeitungen und Zeitschriften – das hat die Forschung zur Mediennutzung immer wieder gezeigt – ist das Altpapier, dass als mediales Stoffwechselprodukt beim Gebrauch der Drucksachen entsteht. Die Berge ungelesener Zeitungen und Zeitschriften sind einer der wichtigsten Gründe, warum Menschen ihre Printmedien abbestellen. Dahinter steckt vor allem der Zwang zur Neuheit, der das Printgeschäft immer noch dominiert. Der Fokus von Zeitungen und Zeitschriften liegt auf den neuesten Nachrichten, den neuesten Trends, den neuesten Modeschnittmustern oder den neuesten (bzw. nach dem neuesten Geschmack abgewandelten) Kochrezepten. Nichts ist älter als die Zeitung von gestern.

Wir haben den Philosophen Odo Marquard schon öfters als slowmedialen Hofphilosophen zitiert, der in seinem “Zukunft braucht Herkunft” allen Trendhinterherläufern folgendes ins Gewissen ruft:

So sollte man sich beim modernen Dauerlauf Geschichte – je schneller sein Tempo wird – unaufgeregt überholen lassen und warten, bis der Weltlauf – von hinten überrundend – wieder bei einem vorbeikommt; immer häufiger gilt man dann bei denen, die überhaupt mit Avantgarden rechnen, vorübergehend wieder als Spitzengruppe: so wächst gerade durch Langsamkeit die Chance, up to date zu sein.

Zusammengefasst: Wenn man nur eine gewisse Zeit ruhig abwartet und bei sich bleibt, ist der Geschmack der Zeit wieder dort angelangt, wo man sich von ihm wartend getrennt hat. Ähnliche Gedanken findet man auch bei Georg Simmel – eigentlich jeder, der sich mit Trends und Moden befasst, kommt zu solchen Ergebnissen. Ich denke, dass dies aber nicht nur für die Trends und Moden im engeren Sinne gilt, sondern auch für das Geschäft mit Nachricht und Aktualität immer wichtiger wird: Wenn man sich eine von Marquard inspirierte slowe Sichtweise auf Medienevolution zueigen macht, wird nämlich auf einmal der bislang stark unterschätzte Wert der Archive deutlich.

Medien sind Eisberge

Medien sind Eisberge. Die jeweils aktuellen Hefte und Ausgaben sind nur die sichtbare Spitze des ganzen. Der weit größere und gewichtigere Teil liegt in den Archiven vergraben. Bisher ist man davon ausgegangen, dass die Zeitung von gestern oder die Zeitschrift von vor zwei Monaten Ladenhüter sind, die nicht einmal mehr für das moderne Antiquariat taugen. Das Internet ändert dies grundlegend. Im Prinzip ist nämlich alles, was jemals in einem Medium veröffentlicht wurde, nur einen einzigen Mausklick entfernt. Ein Beispiel: Der Hearst-Verlag, in dem neben anderem Cosmopolitan und Esquire erscheinen, verkauft mit seinen iPad-Apps mittlerweile 30% Altware. Ausgaben, die nicht mehr am Kiosk erhältlich sind und normalerweise schon längst im Altpapier gelandet wären. Aber: Es gibt kein digitales Altpapier.

Die große Kunst, oder besser: das handwerkliche Geschick, liegt darin, mit dieser Tiefenstruktur des Mediums souverän umzugehen. Ein bisschen erinnert die Arbeit der modernen Nachrichtenarchivare und -kuratoren der Arbeit eines Kellermeisters in einem Weinbaubetrieb. Denn die größten Herausforderungen lauten:

  • zu wissen, was alt und gereift ist oder was einfach nur veraltet und dünn ist,
  • zu wissen, welche Bereiche des Archivs (welche “journalistischen Anbaugebiete”) für wen relevant sind,
  • zu wissen, wie man das Archiv technisch öffnen und den interessierten Lesern zur Verfügung stellt (von hier ist es nicht weit zu den typischen Big-Data-Aufgaben der Erschließung großer Datenbanken mit intelligenten Empfehlungssystemen)
  • zu wissen, in welche Richtung sich der Markt entwickelt und wie sich der Wert der archivierten Daten verändert bzw. wie man sich das Archiv bezahlen lässt (intelligente Bezahlsysteme)
  • zu wissen, wie die richtige Mischung von alt und neu aussieht

Über ganz ähnliche Themen hatte ich vorletztes Jahr auf dem Frankfurter Tag des Onlinejournalismus mit Mercedes Bunz und Jakob Augstein diskutiert: Guter Journalismus veraltet nicht, sondern verändert sich nur in dem Maße, in dem sich die Zeitläufte im “modernen Dauerlauf der Geschichte” verändern. Mittlerweile ist es technisch möglich und wahrscheinlich sogar wirtschaftlich intelligent, die Archive endlich zu heben und den Lesern in einem intelligenten System zur Verfügung zu stellen.

3 replies on “Es gibt kein digitales Altpapier, oder: Die große Chance der Verlage im Web”

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