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Schmerzlich vermisst: die Meta-Ebene im Wulff-Interview

Nein, ich möchte nicht über Christian Wulff und das Amt des Bundespräsidenten sprechen. Seit die ersten Zitate durchsickerten, noch vor Ausstrahlung des Interviews und unabhängig von der Rücktrittsfrage, wurde eines klar: Ab jetzt repräsentiert dieser Bundespräsident und die Auffassung von Politik, die er vertritt, einen Großteil seiner Bürger nicht mehr. Unsere Bundesrepublik ist alt geworden, ohne zu reifen, leider, und sie merkt es nicht. Das ist enttäuschend, aber wir werden damit leben. Wir sollten den Bundespräsidenten Wulff innerlich abhaken und unsere Energien konstruktiver nutzen, meine Meinung hierzu passt in einen Tweet.

Worüber ich aber sprechen will, denn das möchte ich noch nicht kampflos aufgeben, ist die Aufgabe der Journalisten. Da haben die Leiter der öffentlich-rechtlichen Hauptstadtstudios Bettina Schausten und Ulrich Deppendorf diesen Bundespräsidenten vor sich, Abermillionen von Bürgern hängen an ihren Lippen. Sie müssen als Interviewer stellvertretend für diese vielen Menschen und für alle nicht zum Exklusivinterview geladen restlichen Medienvetreter die offenen Fragen stellen, als mediale Repräsentanten sozusagen.

Und was tun sie? Sie lassen sich auf ein unwürdiges Detail-Klein-Klein um Gästezimmer und Zinssätze ein. Sie stellen ihre vorbereiteten Fragen, aber fragen nicht nach, wenn windschiefe Antworten kommen. Sie halten die Steigbügel, anstatt zu hinterfragen. Die Ratlosigkeit darüber, wie es dazu kommen konnte, war sowohl Deppendorf als auch Schausten in ihren anschließenden Auftritten bei Tagenthemen und heute journal anzumerken. Sie sind zu recht unzufrieden mit sich, Frau Schausten und Herr Deppendorf.

Was ist bei dem Interview falsch gelaufen? Im so geführten präsidialen Interview ging es um Details der Spielzüge – es hätte aber um die Frage gehen sollen, ob überhaupt das richtige Spiel gespielt wird. Es geht nicht um vergessene Stiefschwestern, eine schwierige Kindheit, unordentliche Zinsen oder150 € für Gästezimmer. Sondern es geht um die Frage, auf welche Haltung diese Details schließen lassen und auf welches Verständnis von sich selbst, seiner Macht, seinem Amt – und ob das angemessen ist. Wem es als Journalist bei einem solchen Interview nicht gelingt, von den Details auf das Ganze zu schließen, wer es da nicht auf eine Metaebene schafft, wer hier nicht die Systemfrage stellen kann, leistet keine gute Arbeit.

Der Präsident hat sich “sofort nach seiner Rückkehr aus dem Ausland” bei Diekmann entschuldigt: Was heißt “sofort”? Wieviel Tage lagen zwischen der Mailbox und der Entschuldigung? Zwei Tage? Drei? Warum nicht gleich, wenn man den Wutausbruch bereut? Wann hat er Döpfner angerufen, danach? Und Friede Springer, auch danach noch? Kann man das den Präsidenten ohne Nachfrage “unbesonnen” nennen lassen? Oder weist es nicht eher auf eine generelle Haltung hin, auf eine Grundannahme, dass ihm das zusteht?

“Ich bin überrascht, wie stark die Bürger das von mir wissen wollen” – Was meint er damit? Hat er gedacht, dass es Bürgern und Landtag reicht,  juristisch wasserdichte Formulierungen zu hören? Was überrascht ihn daran?

“Es gibt auch Menschenrechte, selbst für Bundespräsidenten”: Wie bitte? Von welchen Menschenrechten spricht er? Hat er das Gefühl, dass bei ihm Menschenrechte verletzt werden? Welche genau? Durch was? Durch Pressefragen?

Man kann solch ein Interview nicht führen, ohne auch spontan auf Aussagen des Interviewten einzugehen. Es reicht nicht, vorüberlegte Fragen abzuarbeiten und mit nichts auf seine Antworten Bezug zu nehmen. Diskursivität, wir sprechen im Manifest davon -, das wäre hier nötig gewesen, damit es zu einem richtigen Interview kommt. Zu einer gesprächsartigen Situation, Zuhören und Nachfragen. Dann wäre es vielleicht nicht nur bei Floskeln und Formeln geblieben, die einen ratlos hinterlassen. Diese Art der Interview-Führung ist kein Ruhmesblatt für den Journalismus. Auch sie ist alt, ohne weise zu sein.

 

[Abbildung: Screenshot des Interviews. Blicke auf vorbereiteten Fragekatalog]

 

 

 

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S21: Experiment am offenen Kopfbahnhof

Gestern hat die Schlichtung zum Stuttgarter Bahnhof begonnen. Eine Schlichtung ist nicht neu und nichts Ungewöhnliches. Neu ist, dass diese Schlichtungssitzungen live im Fernsehen und im Internet übertragen werden (hier alle Videos der ersten Sitzung). Das ist ein Experiment, man könnte sagen: ein Experiment am offenen Kopfbahnhof. Der Schlichter Heiner Geißler nennt es ein “Demokratie-Experiment”. Interessant, dass er das Herstellen von Öffentlichkeit mit Demokratie in Verbindung bringt. Ähnlich argumentierte gestern morgen im Tagesgespräch des WDR5 Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Er sieht in der öffentlichen Schlichtung eine Chance auf neue Formen der bürgerlichen Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen. Und neue Formen der Demokratie müssen wohl entwickelt werden. Denn immer mehr Bürger scheinen sich von ihren Vertretern nicht mehr richtig vertreten zu fühlen. Wie kommt das?

Die politischen Entscheidungrituale scheinen sich verselbständigt zu haben. So wie sich auch die politische Sprache in Rituale und Floskeln flüchtet.* So wie Talkshows zu Simulationen von Gesprächen geworden sind, in denen jeder nur vorbestimmte Statements ablädt und wieder geht. Es ist die Diskursivität, die hier fehlt – ein zentrales Element in unserem Slow Media Ansatz. Die Bereitschaft, Zuzuhören und einen Standpunkt zu gewinnen – anstatt ihn vorher schon zu haben.

Vielleicht muss unsere parlamentarische Tradition reparlamentarisiert werden. Und zu ihrem Wortursprung zurückfinden. “Parlament”: Das ist da, wo gesprochen wird. Und: Zugehört. Aufeinandereingegangen. Widersprochen. Reagiert. Agiert. Ganz im diskursiven Sinne. Diskurs, das heißt: Da ist etwas in Bewegung. Nicht: Da steht alles schon vorher fest.

Heiner Geißler hat schon im Vorfeld erklärt, dass er auf “völlige Transparenz” setzt. Alles müsse auf den Tisch, “alle Argumente, alle Fakten, alle Zahlen”. Gerade diese Absicht könnte die Politik das Fürchten lehren, darauf wurde schon öfter hingewiesen. Alle Fakten auf den Tisch. Hannes Rockenbauch, der Stuttgarter Stadtrat der SÖS, erklärt (als es bei der Schlichtung um die Frage geht, ob die Fakten auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen): “”Alles auf den Tisch”, das heißt auch: alles ins Netz!”. Da haben wir den Salat. Was machen wir jetzt damit?

Interessens- und parteigeleitete Entscheidungsrituale haben es hinter verschlossenen Türen gewiss leichter. Bedeutet das, dass mehr Transparenz und Öffentlichkeit die Beteiligten zu mehr Sachorientierung zwingt? Das werden wir nun in diesem Experiment beobachten können. Auch, ob sich vor laufenden Kameras wirklich Sachargumente gegen medienerfahren vorgetragene Positionen durchsetzen.

Am interessantesten war für mich, die Gesprächssituation selbst sehen zu können: Wie funktioniert so eine Schlichtung? Sehen sich die Leute an, wenn sie miteinader sprechen? Ist jemand überzeugt von dem, was er sagt? Wer kokettiert mit der Kamera? Wer weicht Antworten aus? Wer ist sicher, wer schwimmt? Wer argumentiert auf Sachebene, wer stellt die Autoritätsfrage?

Alte Entscheidungsmuster und Kommunikationsstrukturen funktionieren nicht mehr. Ich denke, es ist kein Zufall, was grade in Stuttgart passiert. Was noch vor 15 Jahren (also zu Projektbeginn) selbstverständlich war, ist es jetzt nicht mehr. Die Gesellschaft ist jetzt eine andere, Geißler hat selbst darauf hingewiesen, im Zeitalter neuer Medien und höherer Informationsverfügbarkeit: Öffentlichkeit ist heute etwas anderes, und das ist gut so.

Einen Effekt hat das Experiment Stuttgart jetzt schon: “Die Experten sollen bitte das, was sie wissen, in eine Sprache umsetzen, die wir auch verstehen”, fordert der Schlichter Geißler, der sicher auch einen guten Erzieher schwererziehbarer Kinder abgegeben hätte. Keine unnötigen Abkürzungen und Fremdworte, keine unleserlichen, kleinteiligen und unverständliche Powerpoint-Präsentationen. Weil “uns so viele zuschauen”. Die das verstehen und nachvollziehen können wollen.

Was für eine Wohltat, dass öffentlich Verständlichkeit gefordert wird. Wenn mehr Transparenz den Effekt hat, dass Experten verständlich kommunizieren müssen – nun, das allein wäre es doch schon wert.

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* Dass politische Rede auch anders – sprich: diskursiv – sein kann, führte erst kürzlich der Rhetorik-Experte Prof. Wilfried Stroh in seiner fabulösen Dinnerspeach zum Slow Media Symposium des Forums Wertvolle Kommunikation in Gmund am Tegernsee aus.

Abbildung: Cesare Maccari: Cicero klagt Catalina an. Quelle: Wikipedia.

(Beitrag crossgepostet auf TEXT-RAUM)

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Critical Point of View:
Diskurs in Theorie und Praxis

Vom 24. bis zum 26. September fand in Leipzig in der altehrwürdigen (und rekonstruierten) Bibliotheka Albertina die Konferenz „Critical Point of View“ statt. Sie war als Wikipediaforschungskonferenz angekündigt und ich hatte die Ehre, dort einen Vortrag zum Thema „Zukunft der Wissengesellschaft“ zu halten. Es war eine sehr gut organisierte, strukturierte und angenehme Konferenz, mit einem spannenden Ansatz: Wikipedisten (Wissenschaftler, deren Forschungsobjekt die Wikipedia ist) und Wikipedianer (aktive Wikipediabeiteiligte und -autoren) zusammenzubringen; also Innensichten und Außensichten aufeinandertreffen zu lassen – und dann zu beobachten, was passiert (das war es zumindest, was ich dort getan habe).

Clash of Diskurskulturen

Es gibt Zweikompenentenkleber und Zweikomponentensprengstoff, und irgendwo dazwischen lag auch die CPoV. Es gab in diesem Reagenzglas Albertina eine Art Clash of Diskurskulturen, der sich unter anderem in dem Bericht des Historikers Peter Haber mitlesen lässt – vor allem auch in den Kommentaren. Wie geht man miteinander um? Kritisiert man einander und wenn ja wie und wo, bei einer Tasse Kaffee oder bei Twitter? Wie funktioniert (konstruktive) Kritik in akademischen und wikipedianischen Kontexten? Interessant, welche Diskursvarianten zu Tage traten: Zirkuläre Argumenationen von Wikipedianern auf Vorschläge von außen (entweder „Das gibt es schon!“ oder „Dann macht es doch selbst!“). Ritualisierte Dauerdiskurse innerhalb der Wikipedia (die „Käsebrot-Debatte“, die eigentlich eine „Restaurationsbrot-Debatte“ war, und ihr Äquivalent in basisdemokratisch ausgericheten Kita-Elterinitiativen in der „Nutellabrot-Debatte“ findet).

Aber Diskurse sind richtig und wichtig, so ermüdend sie auch in oben genannten Fällen sein mögen. Von verschiedenen Perpektiven profitieren wir auch innerhalb des Slow Media Teams. Jüngstes Beispiel: Der Wikipedia-Kommentar unseres Slow Media Manifestes, das ich vorab auf dem CPoV-Blog publiziert habe. Wikipedia aus der Perspektive Slow Media. Mein Beitrag nimmt eine empathisch-wikipedistische Sicht von außen ein, zeigt Potentiale auf und ist fasziniert von deren Funktionsmechanismen. Einen ganz anderen Blickwinkel hat da mein Mitautor Jörg Blumtritt: Seine Perspektive ist die Innensicht eines aktiven Wikipediaautors. Er schaut auch auf das, was im Wikipediaalltag stattfindet: Kommunikations-Unkultur, Aggressivität, Ringen um Macht und Deutungshoheiten. Das immer wieder Untergehen von ideen- und begriffsgeschichtlichen Themen, von Kultur- und Sozialgeschichte zugunsten personen- und ereignisorientierter Beiträge. Ist das repräsentativ? Was ist relevant? Wer bestimmt den Kanon? Die Apokryphen (von wem als solche definiert?) landen in Wikipedias berüchtigter Löschhölle. Das ist in der Praxis tatsächlich alles andere als dialogisch.

Diskursivität, Gesprächsbereitschaft, sozialer Austausch – diese Aspekte spielen in unserem Slow Media Ansatz eine zentrale Rolle. Die oralen und sozialen Aspekte der Wikipedia, die ihrer Zwitterrolle als quasimündlichem Schriftmedium geschuldet sind, sind ihr größtes Potential und zugleich die größte Quelle des Unmutes. Während Autorenhinweise anderer Publikationen sich auf Vorgaben zur formalen Darreichungsform beschränken, lesen sich die Autorenrichtlinien für Wikipediaautoren wie eine Anleitung zum sozialen Miteinander. Wikipedia ist kein reines Publikationsprojekt, sondern auch ein sozial-gesellschaftliches. Theorie und Praxis des respektvollen Miteinanders liegen hier – wie auch woanders – weit auseinander.

Sind die Entstehungsdiskurse Teil des Beitrags? Und sind Diskurse abbildbar?

Wer bei einer Online-Suchmaschine nach einem Stichwort sucht, landet mit ziemlicher Sicherheit zuerst bei Wikipedia. Er findet einen (fertigen) enzyklopädischen Beitrag vor, mundgerecht konsumierbar. Nun gibt es ja keine endgültige Wahrheit, das wissen wir schon länger, und die Zeit der großen Erzählungen ist vorbei. Auch eine kleine Erzählung wie ein Wikipediabeitrag stellt nicht die endgültige Wahrheit dar. Der vermeintlich „fertige“ Text im Frontend ist zwar das Ergebnis einer gemeinsamen sozialen Handlung, aber doch immer nur eine Zwischenstufe, eine Art Zwischenbericht, eine Zwischendokumentation eines Prozesses, der noch weiter andauert. Den endgültigen, autorisierten Text, von dem – zumindest als Grundprinzip – die Philologie noch in den 90er-Jahren ausging, gibt es bei offenen Werken wie der Wikipedia nicht mehr.

Das Interface jedoch suggeriert einen erreichten Reifezustand, und die Wikipediabeiträge werden wohl tatsächlich von den meisten Wikipedialesern als „fertige“ Texte gelesen. Wer schaut schon auf die Rückseite der Werkstatt, auf die Diskussionseiten und die Versionshistorie? Sie sind faszinierende Diskursdokumentationen, aber richtig lesen können sie wohl nur Wikipedianer mit ausreichender Innensicht.

A Critical Point of View: ein Blick in die Werkstatt

In der Auflistung der Forschungsvorhaben der Forschungsinitiative „Critical Point of View“ steht an fünfter Stelle: „Design: Interfaces für Diskussionen.“ Hinter dieser prosaischen Formulierung steht nichts Geringeres als die Frage, ob die soziale Handlung, deren vorläufiges Ergebnis ein Wikipediabeitrag ist, selbst abbildbar ist. Ob ein Frontend denkbar ist, das wie eine gläserne Scheibe den Blick in die Werkstatt dahinter, in den noch laufenden Werkprozess erlauben kann. Das geht natürlich weit über Designfragen hinaus. Sind textgenetisch neuralgische Punkte innerhalb eines Textbildes visualisierbar? Während des Abschlusspodiums nach der Wikipedia seiner Träume befragt, antwortet Geert Lovink mit ebendiesem Punkt – mit einer Wikipedia, die Diversität und kontroverse Entstehungsdiskurse benutzerfreundlich und intuitiv im Frontend abbildet, anstatt sie im Hinterzimmer zu verstecken.

Das Abschlusspodium der CPoV

Textgenese aus editionsphilologischer Sicht

Eine ähnliche Aufgabenstellung hat auch die Editionsphilologie, aber auch sie hat bisher nur eine wenig benutzerfreundliche Lösung gefunden. Das Ziel von historisch-kritischen Werkausgaben ist es, die Genese eines Werkes für die Forschung nachvollziehbar zu machen und den Text eines Autors aus seinem Entstehungskontext verstehen zu können. Denn selbst bei nichtkollaborativ entstandenen Texten eines einzelnen Autors ist ja der Text im Fluss, es gibt Notizen, Randbemerkungen, Ergänzungen, Lektoreneingriffe, Verlagsentscheidungen und Varianten innerhalb verschiedener Auflagen. Um diese Kontexte, in denen Texte stehen, wertneutral und sachgerecht verfügbar zu machen, hat die Editionsphilologie einen Visualisierungscode entwickelt, der allerdings nur von Fachleuten und mit entsprechendem Schlüssel zu lesen ist. Dann schaut man als Leser dem Autor über die Schulter, und sieht, wie aus „Wünschen“ „Gespräche“ werden und aus einem „lesbaren Pfeilglück“ eine „Pfeilschrift“.

Historisch-kritische Darstellung des Gedichtes "Beim Hagelkorn", Paul Celan

Für die Wikipedia wird es nun darum gehen, eine Methode zu entwickeln, wie man mehreren Autoren über die Schulter schauen und ihren Diskursen beiwohnen kann. Denn – nimmt man ihre Sonderrolle als mündlich-schriftliches Zwittermedium ernst, dann sind die Diskurse, die ihrer Entstehung zugrunde liegen, tatsächlich ein Bestandteil des Textes.

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Fotos: eigene. Bei der Handschrift handelt es sich um ein altes Katalogverzeichnis aus dem 19. Jahrhundert aus dem Bestand der Bibliotheka Albertina.

Die letzte Abbildung stammt aus: Paul Celan. Werke. Historisch-kritische Ausgabe. I. Abteilung. Lyrik und Prosa. 7. Band. Atemwende. Textapparat des Gedichtes “Beim Hagelkorn”. S. 76. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main, 1990.

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“L’idée vient en parlant”: Kleist über Twitter

Heinrich von Kleist

Jörg Blumtritt hat gestern einen schönen Beitrag über Twitter geschrieben. Damit haben sich die Autoren des Slow Media Blogs endgültig als Twitter-Fans geoutet. Twitter, ein Schwarm von Vogelgesaengen. Eine Volière, die – wie es Wikipedia so unvergleichlich formuliert – den “Freiflug der Insassen ermöglicht”, und nicht nur den der Insassen, sondern auch die Freiflüge aller anderen, die sich durch die geräumigen und durchlässigen Begrenzungstäbe dort hineinwagen.

Zu der gestern bereits angeführten Flüchtigkeit und Vergänglichkeit von Twitter möchte ich ein paar Gedanken ergänzen. Beginnend mit einer Frage: In welcher Zeit findet das Ganze eigentlich statt? Die Sprache verrät es uns: “What are you doing?” lautete die Eingangsfrage von Twitter (bis sie von dem jetzigen “What’s happening?” abgelöst wurde). Die digitalen Frei- und Höhenflüge finden also in der Verlaufsform statt, im englischen “present progressive“, der sogenannten -ing-Form. Sie wird verwendet, wenn “das Geschilderte im erzählten Moment (…) gerade passiert” (ein Äquivalent wäre die Rheinische Verlaufsform des “Ich bin am twittern”). Auch das Partizip Präsens Aktiv drückt Gleichzeitigkeit aus: unser Zustand ist schreibend, denkend, sprechend, twitternd.

Die Twitter-Zeit ist auch das Partizip Präsens des „L’idée vient en parlant“ (die Idee kommt während des Sprechens). Heinrich von Kleist prägte diesen Begriff 1805 in Analogie zu der französischen Redewendung “L’appétit vient en mangeant” (der Appetit kommt mit dem Essen). Er schreibt es in seinem großartigen Aufsatz “Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden”, und ich möchte die Behauptung aufstellen, dass Kleist hier über Twitter schreibt. Er empfiehlt darin, wenn man nach stundenlangem Brüten in einer Gedankensackgasse steckt, das Gespräch mit einem anderen zu suchen. Im Gespräch mit einem Gegenüber kommen die eigenen Gedanken in Fluss, nehmen Gestalt an, gewinnen Konturen und formen sich zu einer klaren Argumentation. Kleist spricht hier nicht vom Wiedergeben bereits fertiger Gedanken, sondern von einem Sprechen als “ein wahrhaft lautes Denken”. Die Sprache sei dann wie ein “zweites, mit [dem Rad des Geistes] parallel fortlaufendes Rad”. Er spricht also auch von Gleichzeitigkeit, von Gleichzeitigkeit des Sprechens mit der Entwicklung des Auszusprechenden.

Das ist auch bei Twitter möglich. Auch bei Twitter kann “ein lebhaftes Gespräch [entstehen], eine kontinuierliche Befruchtung der Gemüter mit Ideen” – allerdings nicht nur wie Kleist noch voraussetzte in der mündlichen Rede, sondern auch in der quasimündlichen Schriftform der digitalen Welt. Inspiration und Inspirierendes, die Konzentration und Aufmerksamkeit auf einen Gedanken, der im Begriff ist, sich im Jetzt und im Diskurs mit einem Gegenüber zu entwickeln: In diesem Punkt finden Kleists Essay, Twitter und unser Slow-Ansatz zusammen.