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Alles fließt – Konstanten einer liquiden Gesellschaft

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Gleich mit jedem Regengusse
Ändert sich dein holdes Tal,
Ach, und in dem selben Flusse
Schwimmst du nicht zum zweitenmal.

Johann Wolfgang von Goethe:
Dauer im Wechsel

 

In der Physik – und das ist die Wissenschaft, bei der im Gegensatz zu einer Geisteswissenschaft alles an seinem rechten Platz ist – unterscheidet man feste, flüssige und gasförmige Stoffe. Diese Aggregatzustände sind jedoch nicht konstant, sondern können sich unter dem Einfluss der Rahmenbedingungen wie Druck und Temperatur verändern. Aus fest wird flüssig, aus flüssig wird gasförmig oder umgekehrt.

Wir stellen uns die Welt gerne als etwas Statisches vor. Das macht sie berechenbar und vorhersehbar. Wir können sie dann stapeln und sortieren und behalten den Überblick. In Phasen des Übergangs aber lösen sich die festen erstarrten Strukturen auf, verrutschen, geraten ins Schwimmen. Und das muss so sein, denn erst aus dem Fließen der Strukturen und Teile können neue Muster, neue Verknüpfungen und damit neue Antworten sichtbar werden.

Wir brauchen diese Phasen der Verflüssigung von Strukturen also, um uns weiterzuentwickeln – aber so recht mögen tun wir sie nicht, sie sind uns unheimlich.

Die Abwehr vieler Menschen gegen eine ihnen beunruhigend erscheinende digitale Kultur liegt genau darin begründet: Jetzt hatte man grade alles an seinem Platz und nun gerät alles ins Wanken.  Festgeglaubtes zerrinnt durch unsere Finger.

Digitale Kultur ist fluid, liquid, thixotrop

Die weltweite Vernetzung durch digitale Medien bringt tatsächlich sehr viel in Bewegung. Wissensmonopole schmelzen, die Kommunikation ist nicht mehr so leicht lenkbar und kanalisierbar (nun ja: durch Überwachung instrumentalisierbar). Das Teilen und Tauschen (von Wissen, von Haushaltsgeräten, von Wohnungen und Autos) gewinnt gegenüber dem Haben und Behalten an Bedeutung. Digitale Plattformen wie WikiLeaks, LobbyPlag und VroniPlag sammeln dezentrales Wissen und machen Brüche und Fehler im System sichtbar und transparent. Bücher, Bilder und Musik sind kopierbar und können endlos weiterverbreitet werden. Ja, da gerät einiges in Bewegung. Es verflüssigt sich etwas, was vorher fest war. Und das ist interessant.

In der Physik bezeichnet man die Eigenschaft eines Stoffes, sich durch Bewegung verflüssigen zu können, als Thixotropie. Bekannt ist dieser Effekt zum Beispiel bei Ketchup, der erst geschüttelt werden muss, damit er aus der Flasche fließt. Das Phänomen war schon im Mittelalter bekannt – auch einige der sogenannten „Blutwunder“, bei denen sich geronnenes Reliqiuenblut durch Schütteln wieder verflüssigt, lassen sich so erklären.

Wissen, Kultur und Gesellschaft haben auch thixotrope Eigenschaften: Sie lassen sich in Bewegung bringen, sie verändern ihren Aggregatzustand, ihre Form und ihre Kontur. Digitale Medien haben hier eine wichtige Rolle. Sie sind es, die derzeit die Dinge in Bewegung bringen. Durch die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft ihren Aggregatzustand. Die Verflüssigung macht den Weg frei für eine Reorganisation, für die Herausbildung neuer, angemessener Strukturen und für neue Kulturtechniken.

„Ach“, klagt Goethe in dem eingangs zitierten Gedicht, „und in dem selben Flusse schwimmst du kein zweites Mal“. Das „Ach“ kommt von Herzen und ist nachvollziehbar. In einer liquiden Gesellschaft verlieren wir an Sicherheit und Planbarkeit.

Und doch: Schauen wir auf das, was wir gewinnen.

Schauen wir auf das, was dadurch frei wird: Welche Räume eröffnet es uns, was gewinnen wir, womit können wir gestalten? Wir verlieren Kontrolle und gewinnen Überraschungen. Wir verlieren Gewissheit und erschließen uns Potentiale im Unerwarteten. Oft ist grade unsere Improvisation viel besser als der Plan, den wir hatten, und führt uns weiter.

Reoralisierung der Kultur: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Digitalen

In der kulturhistorisch kurzen Phase des Buchdrucks ist unsere Kultur „statisch“ geworden. Zuvor war sie noch offen, beweglich und hatte flexible Strukturen: Kulturgut, geschichtliche, religiöse und gesellschaftliche Informationen wurden von Mund zu Mund tradiert. Sagen, Mythen, Märchen, Gesänge und rituelle Handlungen schufen Identität und transportierten, was zu wissen und kennen wichtig war. In der mündlichen Wieder- und Weitergabe wurde das zu Tradierende gefiltert, angereichert, verändert und angepasst von jedem, der an der großen Erzählung der Welt mitwirkte.

Später versuchte man, das allzu Ephemere, das Flüchtige und Vergängliche dieser Tradition festzuhalten und ein auch sichtbares Zeugnis zu schaffen. Die Bibel zeugt davon, wie verschiedene Erzählkränze miteinander verwoben und in Schriftform kondensiert werden. Wenn Geschichten nicht mehr von Generation zu Generation weitererzählt werden, versiegt der Traditionsstrang, weil das Wissen nicht materialisiert ist. In einer oralen Tradition ohne Erzähler droht das Wissen zu sterben. Die Brüder Grimm sorgten sich um den Untergang der Volkspoesie und hielten sie mit ihrer weltberühmten Märchensammlung fest: „Es war vielleicht grade Zeit, diese Märchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewahren sollen, immer weniger werden“. So rettet die Schrift die Erzählung – und beerdigt sie zugleich, indem sie sie festschreibt.

Mit dem Buchdruck wurde Wissen festhaltbar: Es wurde in Materialform aus dem Menschen ausgelagert. Kultur ist dadurch zeit- und ortsunabhängig geworden. Festgehalten zwischen zwei Buchdeckeln konnte das Wissen wandern, von Hand zu Hand, von Bibliothek zu Lesern, von Land zu Leuten. Es konnte sich verbreiten, ohne dass Erzähler und Zuhörer wie in tribalen Strukturen einander gegenübersitzen müssen.

Der Preis dafür war zweierlei: Die Festschreibung des Inhalts in eine unveränderliche Schriftgestalt. Und die Trennung von Produktion und Rezeption. Fortan gab es auf der einen Seite die Autoren, die den Inhalt lieferten, und auf der anderen Seite die Leser, die ihn konsumierten – zwischen ihnen das statische Werk in seiner endgültigen Form.

Rauslesen und Reinschreiben: Atemzüge des Web

Digitale Medien nun verändern das Wesen der Schriftkultur nachhaltig: Der digitale Schriftraum ist im Internet für jeden erreichbar. Viele Menschen können nun zeitgleich auf denselben Inhalt zugreifen. Sie lesen, rezipieren, konsumieren ihn. Aber eben nicht nur: Sie verändern ihn auch, sie greifen ein, sie hinterlassen Spuren. Sie lesen raus, sie schreiben rein. Der Internetnutzer ist nicht nur Leser, er produziert auch mit. Das ist der Mechanismus von Open Source Software, wo jeder Nutzer den Quellcode verändern und seinen eigenen Bedürfnissen anpassen kann. So funktioniert die Online-Enzyklopädie Wikipedia,  wo Leser auch potentielle Autoren sind. Marshall McLuhan brachte “the electronic revolution” auf die Formel: „Do it yourself“ und „You are the poet“. Alle Sprengkraft der digitalen Kultur liegt in diesen beiden Sätzen.

Die Entstehungsprozesse bilden sich jetzt direkt im digitalen Schriftraum ab. Das Schreiben wird in kollaborativen Plattformen zur sozialen Handlung, der Text selbst sein Abbild. Der Prozess der Entstehung, das, was in einer statischen Druckkultur nur in den Tiefen der Archive und Magazine als Notizen und Vorstufen der Autoren verborgen liegt, ist in der digitalen Schriftkultur von Anfang an sichtbar.

Diese Dynamik war bisher nur in der mündlichen Tradition möglich. Die Formel dafür lautet:

Das Internet ist ein Schriftmedium, das nach den Regeln der Mündlichkeit funktioniert.

Kultur will zirkulieren

Digitale Medien haben die Kultur aus ihrem statischen Dasein zwischen den Buchdeckeln herausgelockt. Das geht, weil wir nun eine technische Infrastruktur haben, die das ermöglicht. Und weil es das Wesen der Kultur ist, zirkulieren zu wollen. Das Zirkulieren geht im digitalen Zeitalter viel leichter als in einer statischen Druckkultur. Die Kultur gerät in Bewegung.

Neu ist das natürlich nicht. Umberto Eco hat schon 1962 in seinem Essay „Das offene Kunstwerk“ diese Tendenz festgestellt: Die Kultur will raus, sie ist unterwegs, sie will sich nicht festschreiben lassen. Erst in der Rezeption vollendet sich das Werk und mit jedem Rezipienten aufs Neue. Kunst hat keine feste Kontur, sie ist immer Aufforderung zum Gespräch und zur Auseinandersetzung. Für den Dichter Paul Celan war – lange vor dem digitalen Zeitalter – das Gedicht „Gespräch“, ein „Händedruck“, es „hält auf jemanden zu“, es sucht ein Gegenüber.

Wer Kultur auf eine starre Form festlegt, beraubt sie ihres eigentlichen Wesens. Eine kulturfeindliche Gesellschaft reduziert Kultur auf ihren Warencharakter. Sie versucht, sie festzuschreiben, ihr einen materiellen Wert zu geben statt eines diskursiven. Kulturschaffende sehen sich gezwungen, eine verkaufbare, stapelbare Ware zu produzieren und müssen ihre Kunst damit einsperren. Aber Kultur ist keine Ware, Kultur ist ein Prozess.

Die digitale Kultur besteht in ihrem Wesen aus Diskursivität, dem Wunsch nach Bindung, Bezug und Kontaktaufnahme, dem Wunsch nach Teilen, Tauschen und Mitteilen. Ja, da fließt und zirkuliert einiges. Alle mit dem digitalen Wandel verbundenen Fragen des Urheberrechts, der Mash-Up-Culture, die Nöte der Gatekeeper, sind damit verbunden: Wie können wir eine dynamische, nicht-statische Kultur würdigen, wertschätzen und honorieren? Kultur ist ein Prozess gesellschaftlicher Wertschöpfung.

Die digitale Kultur gestalten

Wie alles, was funktioniert, ist auch das Wesen der digitalen Kultur zum Gegenstand wirtschaftlicher Interessen geworden. Konzerne mit Talent zur Strömungsforschung schauen genau hin und verstehen, welche Bedürfnisse hinter dem Fließen stehen: Bindung, Teilhabe, Austausch, Sichtbarwerden. Sie leiten die Ströme um und kanalisieren das Fließen gewinnbringend. Der Wunsch, mit Freunden und Menschen aus aller Welt die eigene Wohnung zu teilen oder andere im Auto mitzunehmen, wird so zum Geschäftsmodell, das den ursprünglich sozialen Impuls mehr und mehr zurückdrängt. Uns sollte aber immer bewusst sein, dass digitale Kultur viel mehr ist als Internetwirtschaft.

Der digitale Raum ist ein kulturschaffender sozialer Interaktionsraum. Ein Raum, geschaffen von all den Menschen, die sich darin bewegen, Kontakt zu einander aufnehmen, sich zeigen und miteinander zu neuen Gemeinschaften verbinden. Offene Strukturen und Systeme sind immer angreifbar. Wir werden überwacht, instrumentalisiert und monetarisiert. Und dennoch: Es ist unser Raum und wir sollten ihn mit Mut, Kreativität und Experimentierfreude füllen und uns zu eigen machen. Lasst uns den digitalen Kulturraum zu unserem machen!

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Read more:

Slow Media Manifest http://www.slow-media.net/manifest
Declaration of Liquid Culture http://memeticturn.com/declaration-of-liquid-culture

[Dieser Essay erschien auch in: NEW Forum Magazin 1, 2015]

 

 

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Zu Gast in der Märchenstunde

Neulich war ich in Berlin, und dort hatte ich die Ehre, von Björn Grau und Max Winde zu einer ihrer rituellen Märchenstunde eingeladen zu sein. Es ist die 13. Folge eines höchst interessanten Formats, das ich gerne als Beispiel für ein slowes Medium zitiere. Es entzieht sich den üblichen Gattungen: Es ist ein Podcast. Es geht um Märchen. Es ist verdammt lang – eine Stunde muss man sich dafür Zeit nehmen, und man kann nebenher nichts anderes erledigen außer Tee zu trinken und in die Sonne oder wahlweise in den Regen zu schauen.

Was ich an dem Format der Märchenstunde spannend finde, ist, dass es auf souveräne und zeitgemäße Weise die mündliche Tradition des Volksmärchens wiederbelebt. Es ist ein so schön diskursives Medium. Es übersetzt völlig selbstverständlich und ohne mit der Wimper zu zucken die Salonkultur in das digitale Zeilalter. Es verlangt Aufmerksamkeit von denen, die Sprechen und es verlangt Aufmerksamkeit, von denen, die es hören.

Und jetzt, wo ist dort war, kann ich sagen: Es ist sogar noch konsequenter als ich vorher vermutet habe. Es wird nichts geschnitten, sondern es wird gesendet, wie es gesprochen wird. Es wird nichts abgesprochen, außer um welches Märchen es geht (Max kannte nicht einmal das Märchen).Wir wussten nicht, wo unser Gespräch uns hinführen würde. Es war ein gemeinsames und improvisiertes close reading. Heinrich von Kleist hätte wahrlich seine Freude an uns gehabt.

Hier also zum Nachhören für alle Freunde der Slowness, die wir unter unseren Lesern vermuten dürfen:

Die Märchenstunde 13: Rapunzel