Es gibt Texte, von denen man sagt, sie hätten eine Generation geprägt. Bei manchen spricht man gar von “Jahrhundertwerken“. Aber die Inhalte zweier Bücher haben unsere sogenannte abendländische Kultur und insbesondere Kunst und Literatur über die letzten zwei Tausend Jahre durchzogen, wie keine anderen: das sind die Bibel und die Metamorphosen von Ovid.
Claude Lorrain: “Ariadne auf Naxos”. „Kommt ein neuer Gott gegangen, hingegeben sind wir stumm!“ verspottet Zerbinetta im Libretto von Hugo von Hofmannsthal zu Richard Strauss’ Oper, als sich Ariadne von Bacchus trösten lässt – und Theseus offenbar schon wieder vergessen hat. Und Bacchus setzt die Krone Ariadnes als Sternbild an den Himmel und der treuen Spinnerin ein ewiges Denkmal: desertae et multa querenti amplexus et opem Liber tulit, utque perenni sidere clara foret, sumptam de fronte coronam inmisit caelo: tenues volat illa per auras dumque volat, gemmae nitidos vertuntur in ignes |
1606 malte Adam Elsheimer diese Illustration zu “Acis und Galatea”. Elsheimer übernimmt die große Perspektive der Landschaftsschilderung Ovids und verzichtet komplett auf die Darstellung der Personen. Das Bild, oft auch unter dem Titel “Aurora” genannt, gilt als die erste reine Landschaftsmalerei – so modern, dass spätere Zeitgenossen doch noch Figuren an den linken Rand setzten. |
Die alchimistische Prachthandschrift Splendor Solis aus dem 16. Jahrhundert – hier aus dem Berliner Kupferstichkabinett – zeigt den Weg zum Stein der Weisen in zweiundzwanzig Miniaturen, die als Pforten, wie von Mauerwerk umrahmt, den Blick auf den jeweils nächsten Raum chymischer Erleuchtung freigeben. Auch die Miniatur zur 11. Pforte, Läuterung im Kessel der Wiedergeburt, verweist direkt auf Ovid: das Relief in der Basis der Säule rechts zeigt Pygmalion bei der Schaffung seiner Traumfrau. Im alchimistischen Text zu diesem Bild findet sich eine Umschreibung von ‘Medea und Pelias’: “Das siebte Gleichnis: Ovidius der alte Römer hat dergleichen angezeigt: von dem weisen Alten der da wollte sich wiederum verjüngen. Er sollte sich lassen zerteilen und kochen, bis zu seiner vollkommenen Kochung und nicht mehr …”. Freilich erging es dem armen Pelias dabei nicht gut: die grausame Medea hatte statt ihres Zaubertrankes nur wirkungslose Käuter in den Kessel gegeben! |
Nicolas Poussins “Midas und Bacchus” aus der Münchner Pinakothek sinkt in Reiner-Werner Fassbinders Kammerspiel “Die bitteren Tränen der Petra von Kant” zur Fototapete im Schlafzimmer der Protagonistin ab. Die reiche Modedesignerin Petra von kant kann man dadurch unschwer als moderne Variante des Königs sehen, der zwar alles zu Gold werden lässt, was er berührt, darob aber ums Haar verhungert und verdurstet. |
Polyphem / Triumph der Galatea von Raffael und Schülern. Agostino Chigi, der reichste Mann des 16. Jahrhunderts erbaute auf dem linken Tiberufer seine römische Residenz, die heute nach ihrem späteren Besitzer als “Villa Farnesina” benannt ist. Chigi hatte den Palast für sich und seine Geliebte, die Venezianerin Francesca Ordeaschi. Das bemerkenswerte an dieser Beziehung ist, dass es sich wohl tatsächlich um eine reine Liebesbeziehung gehandelt haben muss – vollkommen unstandesgemäß, die Braut im Rufe einer Kurtisane, wurde diese Liebe durch Papst Leo X. schließlich zur Ehe legitimiert. Die Villa lies Chigi durch Raffael und dessen Schule mit Fresken zu Ovids Metamorphosen ausstatten. Das durchgehende Motiv: die Liebe. Mit am berühmtesten ist Raffaels “Triumph der Galatea”. Ovids Episode ist auf der einen Seite – wie das Bild Elsheimers es gut umsetzt – voll luftiger Schönheit, auf der anderen Seite finden wir auch Momente von geradezu humoristischer Fallhöhe: Der ungeschlachte Zyklop Polyphem nämlich versucht seine angebetete Galatea – die Milchweiße, wie sich der Name schließlich wörtlich liest – mit süßen Worten auf seine Seite zu bringen: “Weißer als das Blatt des schneeweißen Ligusters, Galatea, blühender als Wiesen, schlanker als eine aufstrebende Erle, … , spielerischer als ein zartes Zicklein (!), glatter als beständig vom Meer gescheurte Muscheln, …, schimmernder als Eis, süßer als eine reife Traube, weicher als Schwanenflaum und weißer als Käse …” (deutsch von Michael von Albrecht) “Candidior folio nivei Galatea ligustri, floridior pratis, longa procerior alno, …, tenero lascivior haedo, levior adsiduo detritis aequore conchis, … lucidior glacie, matura dulcior uva, mollior et cycni plumis et lacta coacto; …” |
“Metamorphose in der Not”, die Paul Klee kurz vor seinem Tod 1939 zeichnete, verbildlicht die Hoffnung auf Befreiung vom unheilbar kranken Leib, von einer Umwandlung in ein anderes Wesen – durch das Mitleid der Götter, wie bei Ovid. Klee starb 1940 nach langem Leiden an einer unheilbaren Krankheit. |
Geschrieben kurz nach der Zeitenwende, blieben Ovids “Fünfzehn Bücher der Verwandlung” mehr oder weniger durchgehend bis ins neunzehnte Jahrhundert der Grundstoff für Literatur, Theater, Bildhauerei und besonders die Malerei. Von Geoffrey Chaucer, William Shakespeare bis zu Ted Hughes und den Simpsons, von Adam Elsheimer, Claude Lorrain, Peter Paul Rubens bis Ian Hamilton Finley; Tausende von Kunstwerken.
Bereits im 13. Jahrhundert in viele mittelalterliche Volkssprachen übertragen, sind es in Wahrheit meist Erzählungen aus den Metamorphosen, welche man so gemeinhin als die “Griechisch-Römische Mythologie” bezeichnet.
Es ist kein Wunder, dass gerade die Malerei so sehr von Ovid beeinflusst wurde. Die Geschichten sind so ungemein Bildhaft, ja geradezu ikonisch, wenn vom Beginn der Welt bis zum Tod Caesars mehr als zweihundertfünfzig Charaktere ihre Gestalt wandeln (oder in neue Gestalt verwandelt werden) – aus einem Menschen, einem Faun oder einer Nymphe werden Flüsse, Gebirge, alle möglichen Tiere. Aber die Qualität von Ovids Erzähl- und Dichtkunst ist nicht auf eingängige Schilderungen bekannter oder abseitiger Mythen beschränkt.
Die einzelnen Episoden der Verwandlungen beginnen typischer Weise in einer großartigen Totalen, in der unser Blick wie aus weiter Entfernung über die Landschaft gleitet, die sich in der Ferne im Dunst verliert. Wie zufällig entsteht am Bildrand der Ort der eigentlichen Handlung, die Helden tauchen auf, und wir kommen immer näher, bis wir vollständig teilhaben, an den Gedanken und Gefühlen der Handelnden. Und aus diesen Gefühlen motiviert sich dann das Verhalten der Personen, die in genau diesem Augenblick auf den Wendepunkt ihres Lebens zustreben. Fast in allen Geschichten ist die Antriebskraft der Handlung die Liebe. Unerfüllte Liebe, Eifersucht auf die glücklich Liebenden, oder auch Mutter- und Vaterliebe; das Ende meist tragisch und voll drastischer Grausamkeit – aber nicht selten werden die unglücklichen Helden von einer nachsichtigen Gottheit gerade durch die Verwandlung aus ihrer Not befreit.
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Über dieser ersten, erzählerischen Ebene mit den drei Handlungsperspektiven – psychologisches Innenleben der Helden, äußere “Spiel-“Handlung und Schilderung des Ortes und der Landschaft – liegt eine zweite, metaphorische Schicht. Hier sehen wir im Seelenleben der handelnden Personen das allgemein Menschliche: Sehnsucht, Freude, Schmerz, Trauer und Trost. Gut und Böse sind selten klar, vielmehr können wir meist mit beide Seiten fühlen, da Ovid sein Handlungspersonal derart empatisch schildert und nicht selten sogar direkt im Text zu Mitgefühl aufruft.
Eine dritte Ebene kann man allegorisch lesen. Um unsere Umwelt zu begreifen, bedienen wir uns Bildern, da die “Dinge ansich” für uns gar nicht direkt fassbar sind. Nietzsche spricht von einer “Metamorphose der Welt in den Menschen” hinein. Fast alle Verwandlungsgeschichten bei Ovid erklären bildhaft geografische, biologische oder phyisikalische Phenomäne und machen abstrakte Vorstellungen und philosophische Begriffe sichtbar.
Die Verwandlung als Prinzip der Schöpfung wurde so schließlich ein Gerüst der Alchimie im Mittelalter und der frühen Neuzeit. Ovids Metamorphosen lasen die Adepten der chimischen Kunst als das ineinander Überführen von Materie, von einem Zustand zum Nächsten. Allegorische Schemata, nach denen wir die Welt erkennen können, bieten die fünfzehn Bücher der Verwandlung bis heute. Zum Beispiel unsere Vorstellung von “Chaos” als abstraktem Begriff leitet sich direkt aus dem eindrucksvollen Anfang des ersten Buches ab:
Ante mare et terras et quod tegit omnia caelum /
unus erat toto naturae vultus in orbe, /
quem dixere Chaos: rudis indigestaque moles, /
nec quicquam nisi pondus iners congestaque eodem /
non bene iunctarum discordia semina rerum.
Bevor es das Meer, das Land und den Himmel gab, der alles schützt, /
hatte die Natur überall ein einheitliches Gesicht, /
zu dem sagte man Chaos: eine rohe, ungeordnete Masse, /
nichts als träges Gewicht und auf einen Haufen /
die nicht gut zusammengefügten, widerstreitenden Samen der Dinge.
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Die zahlreichen literarischen Übersetzungen der Metamorphosen sind oft viel mehr in ihrer eigenen Zeit verhaftet, als das Original. Auf Deutsch ist das z. B. die viel zitierte Übertragung von Joh. Heinrich Voß, dessen Verse die dichte lateinische Grammatik mit betulichen Füllwörtern und Einschüben auffüllen, um das Versmaß wenigstens einigermaßen einhalten zu können. Das Ergebnis liest sich heute staubig und unfrisch. Es ist doch bemerkenswert, wie die Jahrhunderte seit Ovids Zeit inzwischen veraltet und ins Geschichtliche abgesunken sind!
Besser sind moderne, texttreue Übersetzungen, schon alleine, weil dort die Möglichkeit besteht, auf dichterische Besonderheiten hinzuweisen, die bei einer literarischen Übertragung stets wegfallen müssen.
Ovids Worte selbst aber sind nach mehr als zweitausend Jahren unverändert schön und berührend.