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Politik

Disrupt Politics!

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“Wenn wir, vom Hungern matt, im Regen lagen
Und sich vor Müdigkeit die Augen schlossen,
Da ist an der Sierra-Front, im Regen,
Gar manche bittre Träne mitgeflossen.”
Jef Last

“Er sagte, es krache im Oberbau, und es krache im Unterbau. Da müsse sich sogleich alles verändern.”
(Bloch über Benjamin)

Gemeinschaften bestehen, indem die Mitglieder Aufgaben in der Gemeinschaft übernehmen, Pflichten erfüllen und an den gemeinschaftlich erlangten Erfolgen teilhaben. In einer Staatsgesellschaft delegieren Bürger Teile ihrer Aufgaben und Pflichten an die Staatsverwaltung. Über die letzten zweihundert Jahre haben die Bürger der sogenannten westlichen Welt mehr und mehr ihrer zum Teil ureigensten Verantwortungen an den Staat abgegeben – Kranken- und Altenpflege, Geburt und Sterben, Alterssicherung, Kindeserziehung und vieles mehr.

Wie diese delegierten Aufgaben zu erfüllen sind, wird über den repräsentativen Willensbildungsprozess der parlamentarischen Demokratie bestimmt. Mandatsträger werden für eine mehrjährige Zeitspanne beauftragt, sich darum zu kümmern. Dass all diese Aufgaben erfüllt werden können, müssen Fachkräfte bezahlt und mit Arbeitsmitteln ausgestattet werden. Und damit diese Fachkräfte wiederum wenigstens so in etwa mit ihren Mitteln das tun, was die Gesellschaft in ihrer Willensbildung vorgesehen hat, braucht es eine Verwaltung darüber.
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Immer wieder wird Facebook mit einer Nation verglichen, die dann von ihrer Einwohnerzahl her – nach China und Indien – an dritter Stelle in der Welt stünde. Was macht Social Networks (und allen voran Facebook) so staats-artig?

Menschen schließen sich in den Systemen der Social Networks zu Gemeinschaften zusammen, teilen sich mit und tauschen sich aus. Meist ist der Austausch eher persönlich; auch wenn sich tausende arabische Frauen auf der Facebook Page des Persil Abaya Shapoo unter dem Dach ihres Lieblingswaschmittels zusammen finden, geht es hier doch zunächst um die kleinen Dinge des Alltags.

Aber nicht immer bleibt es beim Kleinen, Privaten. Ob Stuttgart 21, Agypten, Tunesien, Lybien oder Spanien – in den letzten Monaten finden sich große Gruppen von Menschen zusammen, zunächst, um sich auszutauschen, dann, sich einen gemeinsamen Willen zu bilden – das gemeinsame Bewusstsein, einen Zustand nicht mehr akzeptieren zu wollen, schließlich sich zu organisieren und gemeinsam zu protestieren. Und da es über die Networks stets transparent ist, wie weit sich andere der Bewegung anschließen, können sich die Protestierenden sicher sein, nicht plötzlich alleine im Regen zu stehen.

Inhalt der Proteste ist stets ein sich Zurück-Holen von Verantwortung und Einfluss, die – je nach Gesellschaftsform mehr oder weniger freiwillig – an den Staat abgegeben worden waren. Dieser Ruf “Wir sind das Volk” ist dabei nicht unproblematisch. Nur weil sich viele zu einem Thema zusammenfinden und artikulieren, heißt es noch lange nicht, dass eine Mehrheit diese Meinung teilt. Oft ist der Wille der Mehrheit völlig unklar, wie im Beispiel des Stuttgarter Hauptbahnhof. Und selbst wenn man davon ausgehen kann, dass wirklich eine Mehrheit der Betroffenen den Protest unterstützt, so fehlen immernoch die wichtigen demokratischen Korrektive des Minderheitenschutz und anderer, unverrückbarer Regeln, die unserem Verständnis von Staatlichkeit nach, selbst durch Mehrheiten sich nicht verändern lassen sollten.
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Politik wird zunehmend weniger durch Delegieren funktionieren. Die Wahlperioden scheinen uns angesichts der Bewegung von Themen in unserer Timeline vollkommen unangemessen lange – aber kürzere Perioden würden wohl lediglich zu einem ständigen Wahlkampf führen und nicht zu besserer Abbildung des Willens. Parteiprogramme scheinen uns ebenso irrelevant und unpassend, wie die seichten Inhalte der massenmedialen Nachrichten. Durch die neuen Gemenschaften und den Druck, den sie über die Social Networks aufbauen können, wird die politische Willensbildung erschüttert. Es ist aber nicht so, dass einfach eine neue Variante an die Seite der etablierten Kanäle der repräsentativen Demokratie träte, genauso wenig, wie ich glaube, dass die Internetnutzung die Zeitung oder andere traditionellen gesellschaftlichen Medien einfach nur ergänzt oder substitutiert.

Initiativen, die versuchen “Netzpolitik” irgendwie in die parlamentarischen Prozesse zu bringen, greifen notwendiger Weise zu kurz, um tatsächlich die Verwerfungen aufzuhalten. Die von den protestierenden Menschen – durch die Massenmedien neuerdings auch als Wutbürger geschmäht – geforderte Geschwindigkeit, Flexibilität und auch Kompromisslosigkeit lässt sich, meiner Meinung nach, kaum mit Fraktionszwang, Delegiertenversammlungen und Parteipräsidien unter einen Hut bringen, ohne die aber ein parlamentarisch-demokratisches System sich nicht organisieren lässt. Als eigenständige Bewegung, die, wie z. B. noch die Grünen in den Achziger Jahren, sich zusammenfindet, um letztlich ein gesamtgesellschaftliches Modell zu Verwirklichen, taugen die eher losen und spontanen Interessensgemeinschaften ohnehin auch nicht wirklich.
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Es wird geschehen; der Parteipolitik droht das selbe Schicksal, wie der Zeitungsindustrie. Es hilft nicht, an einer Politik 2.0 wie an Symptomen einer Krankheit herumzudoktoren. Gedankliche Offenheit, dass ein jahrhundertealtes System auch scheitern kann, sollte uns den Blick frei geben, auf die Alternative, die vor uns liegen mag. Nur Ausprobieren vieler Möglichkeiten und Zulassen von Fehlern wird uns in die Lage versetzen, das, was uns an der alten Welt wichtig und teuer ist, in die neue hinüber zu heben. Dieser Wandel geschieht nicht von selbst, ist kein Naturgesetzt. Insbesondere die technologische Infrastruktur, die das Neue ermöglicht, wird gestaltet. Ist es uns wichtig, wie die Zukunft der Politik aussehen soll, müssen wir selbst Hand anlegen, nicht zuletzt an technologischen Entwicklungen und an der Ausformung der neuen, gemeinschaftlichen Systeme, wie etwa der Kultur in den Social Networks.

Semil Shah hatte auf Techcrunch bereits im Februar angesichts der Erhebungen in Nordafrika einige Überlegungen angestellt, die politischen Umbrüche als neues Social-Media-Produkt zu interpretieren. Ob dazu – wie er meint – tatsächlich Start-Ups gebraucht werden, die irgendwelche politischen Funktionen in Social Media transformieren, sehe ich nicht unbedingt. Ich denke, dass die Infrastruktur der bestehenden Social Networks, Smartphones, Video- und Photo-Networks wahrscheinlich schon ausreicht. In einem stimme ich ihm aber uneingeschränkt zu:

Politics – there is no greater market to disrupt.

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Memetische und massenmediale Kommunikation

Nachdem wir hier den Rahmen des memetischen Ansatzes abgesteckt haben und in diesen beiden Beiträgen konkrete Anwendungsbeispiele dargestellt haben, möchte ich im Folgenden kurz die Grundlagen der memetischen Theorie durch die idealtypische Unterscheidung zwischen massenmedialer und memetischer Kommunikation beschreiben. Idealtypisch bleibt dieses Unterfangen vor allem deshalb, weil sich beide Kommunikationsformen in der Geschichte immer wieder gegenseitig beeinflusst und durchdrungen haben.

Der wichtigste Unterschied zwischen massenmedialer und memetischer Kommunikation ist die dahinterliegende Kommunikationsstruktur: Massenmedien wie die Tageszeitung, das Fernsehen oder das Radio funktionieren fast ausschließlich so, dass wenige Sender ihre Botschaften an viele Empfänger übermitteln. Es kann zwar in Einzelfällen einen Rückkanal geben (z.B. Call-In-Sendungen oder Leserbriefe), diese stellen gegenüber dem einseitigen Normalbetrieb stets die Ausnahme dar. Memetische Kommunikation dagegen verläuft über Netzwerke, die in vielen Fällen skalenfrei sind, das heißt die Knoten und Verbindungen sind nicht zufällig verteilt, sondern weisen eine exponentielle Verteilung auf. Die meisten Knoten haben nur wenige Verbindungen, einige wenige haben dagegen sehr viele Verbindungen und können als Multiplikatoren im Kommunikationsfluss dienen. Experimente wie Milgrams Small-World-Studie (die selbst memetische Qualitäten hat) zeigen die Funktionsweise und Stärke dieser Netzwerke.

Die unterschiedliche Kommunikationsstruktur hat auch Auswirkungen auf die jeweils zugrunde gelegten Maßeinheiten. Die Leistung massenmedialer Kanäle wird in Reichweiten gemessen, also in ihrer Fähigkeit möglichst viele Menschen zu erreichen. Wer diese Menschen sind, ist dabei zweitrangig, da Erfahrungswerte dafür bestehen, mit welchen Reichweitenschwellen welche Wirkungen einhergehen. Die zentrale memetische Reichweite ist dagegen der Einfluss. Für die möglichst intensive Durchdringung einer Gemeinschaft mit einem Mem ist nicht so sehr die reine Anzahl der Kontakte maßgeblich, sondern die möglichst effiziente Nutzung von hochdistributiven Schaltstellen (in der Epidemologie nennt man diese „Super-Spreader“).

Das Leitmedium der massenmedialen Kommunikation ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts das Fernsehen. In diesem Medium wurden (und werden nach wie vor) die größten Publika erreicht. Zuvor war es das Radio und davor die Tageszeitung. Alle diese Medien wurden mit ihren großen Reichweiten immer wieder für politische Zwecke eingesetzt (als Staatspresse, Staatsfernsehen etc.). Das Leitmedium der memetischen Kommunikation dagegen ist das Internet, insbesondere die heute als Social Web diskutierten Plattformen, auf denen Nutzer eigene Inhalte publizieren können.

Die unterschiedlichen Kommunikationsstrukturen haben darüber hinaus auch Folgen für die zeitliche Dimension der Nachrichtenübermittlung. Massenmedien sind Augenblicksmedien. Die Reichweite einer Fernsehsendung baut sich nicht über die Zeit hinweg auf, sondern entsteht im Augenblick des Sendebeginns. Ebenso scharf ist das Ende gekennzeichnet – wenn die Sendung beendet ist, fällt die Reichweite sofort ab. Memetische Kommunikation ist dagegen zeitlich unspezifisch. Der Beginn der Verbreitungskarriere eines Mems kann sich über Tage oder Wochen ziehen, und das Ende ist ebenso amorph, da ein Mem immer wieder zum Leben erweckt werden kann. Im Grunde genommen stimmt der Begriff der Echtzeitkommunikation, der immer wieder dem Internet und seinen memetischen Kommunikationen zugerechnet wird, gar nicht. Die Massenmedien waren die echten Echtzeitmedien.

Wenn in der memetischen Theorie immer wieder von der „Gesellschaft zersetzenden“ Qualität von Memen die Rede ist, bezieht sich das nicht auf einen systemtheoretischen Gesellschaftsbegriff (Gesellschaft als umfassendstes Kommunikationssystem), sondern auf die stärker kulturanthropologische Unterscheidung von Ferdinand Tönnies zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Der Kern dieser Unterscheidung: Während Gemeinschaft durch den Wesenswillen zusammengehalten wird (z.B. Verwandtschaft, Nachbarschaft oder Freundschaft) und auf dem ökonomischen Prinzip des Teilens  basiert (z.B. das gemeinsame Mahl), ist Gesellschaft durch den Kürwillen und den ökonomischen Tausch geprägt. Gesellschaftliches Handeln entsteht nicht aus dem gegenseitigen Verständnis, sondern aus der Erwartung einer Gegenleistung. So holzschnittartig und altmodisch das alles klingt, Tönnies Text aus dem Jahr 1887 beschreibt sehr detailliert die Dynamik der memetischen Kommunikation. Die erfolgreiche Verbreitung eines Mems funktioniert im Wesentlichen durch den Wesenswillen der Gemeinschaften im Web – Meme werden nicht getauscht, sondern geteilt („Sharing“). Aber nicht nur Tönnies steht hier Pate, sondern auch Max Weber mit seiner Unterscheidung von Vergemeinschaftung (= soziales Handeln, das sich am Zugehörigkeitsgefühl der Handelnden orientiert) und Vergesellschaftung (= soziales Handeln, das sich an Rationalitätsstandards wie Zwecken oder Werten orientiert).

Die charakteristische rhetorische Figur der memetischen Kommunikation ist die Metapher. Die Metapher schlägt eine Brücke zwischen zwei höchst unterschiedlichen Bedeutungskontexten. Der Übertragungskontext ist dabei höchst esoterisch und kann außerhalb der Gemeinschaft häufig nicht verstanden werden. Man braucht nur wenige Minuten auf Twitter mitlesen und wird im Minutentakt auf übertragene Bedeutungen in einem mikroskopischen Verweisungskosmos stoßen, die nur mit großer Mühe entschlüsselt werden können. In den meisten Fällen bleibt ein unübersetzbarer Rest, der in der Übersetzung verloren geht („lost in translation“). Besonders deutlich sieht man das an der großen Zahl toter Metaphern, die wir heute aufgrund unserer zeitlichen und kulturellen Distanz nicht mehr entschlüsseln können. Dagegen ist die Sprache der Massenmedien, wenn sie überhaupt mit rhetorischen Figuren arbeitet, metonymisch (man denke an typische Zeitungsschlagzeilen wie „Berlin erklärt Paris den Krieg“) oder ironisch-zynisch (z.B. in der TV-Berichterstattung über Gewaltverbrechen).

Der Journalist ist in massenmedial geprägten Kommunikationssystemen der mit Abstand wichtigste Akteur. Er wird als eine Art genialer Schöpfer der transportierten Inhalte skizziert, auf dessen Arbeit das ganze System aufbaut – so wie der Wissenschaftler Wissen schafft oder der Künstler Kunst. Diese vulgärsoziologische Great-Men-Perspektive ist mittlerweile nicht allein in den Geschichtswissenschaften passé, sondern auch in den anderen Gesellschaftsbereichen immer schwerer zu halten. Für die memetische Theorie spielen „geniale Schöpfer“ von Anfang an keine Rolle mehr. Zum einen, da eine effiziente Vernetzung viel wichtiger ist als individuelle Genialität. Zum anderen wird die Vorstellung der Schöpfung durch eine stärker prozessuale Betrachtung abgelöst. Meme werden nicht im stillen Kämmerlein erdacht, sondern entstehen im Vollzug. Nur die wenigsten Meme lassen sich auf einen aristotelischen Urheber zurückführen („Wer hat die Katzenfotos erfunden?“), sondern haben sich allmählich im kommunikativen Hin und Her der Gemeinschaften zu dem entwickelt, was sie sind.