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Critical Point of View:
Diskurs in Theorie und Praxis

Vom 24. bis zum 26. September fand in Leipzig in der altehrwürdigen (und rekonstruierten) Bibliotheka Albertina die Konferenz „Critical Point of View“ statt. Sie war als Wikipediaforschungskonferenz angekündigt und ich hatte die Ehre, dort einen Vortrag zum Thema „Zukunft der Wissengesellschaft“ zu halten. Es war eine sehr gut organisierte, strukturierte und angenehme Konferenz, mit einem spannenden Ansatz: Wikipedisten (Wissenschaftler, deren Forschungsobjekt die Wikipedia ist) und Wikipedianer (aktive Wikipediabeiteiligte und -autoren) zusammenzubringen; also Innensichten und Außensichten aufeinandertreffen zu lassen – und dann zu beobachten, was passiert (das war es zumindest, was ich dort getan habe).

Clash of Diskurskulturen

Es gibt Zweikompenentenkleber und Zweikomponentensprengstoff, und irgendwo dazwischen lag auch die CPoV. Es gab in diesem Reagenzglas Albertina eine Art Clash of Diskurskulturen, der sich unter anderem in dem Bericht des Historikers Peter Haber mitlesen lässt – vor allem auch in den Kommentaren. Wie geht man miteinander um? Kritisiert man einander und wenn ja wie und wo, bei einer Tasse Kaffee oder bei Twitter? Wie funktioniert (konstruktive) Kritik in akademischen und wikipedianischen Kontexten? Interessant, welche Diskursvarianten zu Tage traten: Zirkuläre Argumenationen von Wikipedianern auf Vorschläge von außen (entweder „Das gibt es schon!“ oder „Dann macht es doch selbst!“). Ritualisierte Dauerdiskurse innerhalb der Wikipedia (die „Käsebrot-Debatte“, die eigentlich eine „Restaurationsbrot-Debatte“ war, und ihr Äquivalent in basisdemokratisch ausgericheten Kita-Elterinitiativen in der „Nutellabrot-Debatte“ findet).

Aber Diskurse sind richtig und wichtig, so ermüdend sie auch in oben genannten Fällen sein mögen. Von verschiedenen Perpektiven profitieren wir auch innerhalb des Slow Media Teams. Jüngstes Beispiel: Der Wikipedia-Kommentar unseres Slow Media Manifestes, das ich vorab auf dem CPoV-Blog publiziert habe. Wikipedia aus der Perspektive Slow Media. Mein Beitrag nimmt eine empathisch-wikipedistische Sicht von außen ein, zeigt Potentiale auf und ist fasziniert von deren Funktionsmechanismen. Einen ganz anderen Blickwinkel hat da mein Mitautor Jörg Blumtritt: Seine Perspektive ist die Innensicht eines aktiven Wikipediaautors. Er schaut auch auf das, was im Wikipediaalltag stattfindet: Kommunikations-Unkultur, Aggressivität, Ringen um Macht und Deutungshoheiten. Das immer wieder Untergehen von ideen- und begriffsgeschichtlichen Themen, von Kultur- und Sozialgeschichte zugunsten personen- und ereignisorientierter Beiträge. Ist das repräsentativ? Was ist relevant? Wer bestimmt den Kanon? Die Apokryphen (von wem als solche definiert?) landen in Wikipedias berüchtigter Löschhölle. Das ist in der Praxis tatsächlich alles andere als dialogisch.

Diskursivität, Gesprächsbereitschaft, sozialer Austausch – diese Aspekte spielen in unserem Slow Media Ansatz eine zentrale Rolle. Die oralen und sozialen Aspekte der Wikipedia, die ihrer Zwitterrolle als quasimündlichem Schriftmedium geschuldet sind, sind ihr größtes Potential und zugleich die größte Quelle des Unmutes. Während Autorenhinweise anderer Publikationen sich auf Vorgaben zur formalen Darreichungsform beschränken, lesen sich die Autorenrichtlinien für Wikipediaautoren wie eine Anleitung zum sozialen Miteinander. Wikipedia ist kein reines Publikationsprojekt, sondern auch ein sozial-gesellschaftliches. Theorie und Praxis des respektvollen Miteinanders liegen hier – wie auch woanders – weit auseinander.

Sind die Entstehungsdiskurse Teil des Beitrags? Und sind Diskurse abbildbar?

Wer bei einer Online-Suchmaschine nach einem Stichwort sucht, landet mit ziemlicher Sicherheit zuerst bei Wikipedia. Er findet einen (fertigen) enzyklopädischen Beitrag vor, mundgerecht konsumierbar. Nun gibt es ja keine endgültige Wahrheit, das wissen wir schon länger, und die Zeit der großen Erzählungen ist vorbei. Auch eine kleine Erzählung wie ein Wikipediabeitrag stellt nicht die endgültige Wahrheit dar. Der vermeintlich „fertige“ Text im Frontend ist zwar das Ergebnis einer gemeinsamen sozialen Handlung, aber doch immer nur eine Zwischenstufe, eine Art Zwischenbericht, eine Zwischendokumentation eines Prozesses, der noch weiter andauert. Den endgültigen, autorisierten Text, von dem – zumindest als Grundprinzip – die Philologie noch in den 90er-Jahren ausging, gibt es bei offenen Werken wie der Wikipedia nicht mehr.

Das Interface jedoch suggeriert einen erreichten Reifezustand, und die Wikipediabeiträge werden wohl tatsächlich von den meisten Wikipedialesern als „fertige“ Texte gelesen. Wer schaut schon auf die Rückseite der Werkstatt, auf die Diskussionseiten und die Versionshistorie? Sie sind faszinierende Diskursdokumentationen, aber richtig lesen können sie wohl nur Wikipedianer mit ausreichender Innensicht.

A Critical Point of View: ein Blick in die Werkstatt

In der Auflistung der Forschungsvorhaben der Forschungsinitiative „Critical Point of View“ steht an fünfter Stelle: „Design: Interfaces für Diskussionen.“ Hinter dieser prosaischen Formulierung steht nichts Geringeres als die Frage, ob die soziale Handlung, deren vorläufiges Ergebnis ein Wikipediabeitrag ist, selbst abbildbar ist. Ob ein Frontend denkbar ist, das wie eine gläserne Scheibe den Blick in die Werkstatt dahinter, in den noch laufenden Werkprozess erlauben kann. Das geht natürlich weit über Designfragen hinaus. Sind textgenetisch neuralgische Punkte innerhalb eines Textbildes visualisierbar? Während des Abschlusspodiums nach der Wikipedia seiner Träume befragt, antwortet Geert Lovink mit ebendiesem Punkt – mit einer Wikipedia, die Diversität und kontroverse Entstehungsdiskurse benutzerfreundlich und intuitiv im Frontend abbildet, anstatt sie im Hinterzimmer zu verstecken.

Das Abschlusspodium der CPoV

Textgenese aus editionsphilologischer Sicht

Eine ähnliche Aufgabenstellung hat auch die Editionsphilologie, aber auch sie hat bisher nur eine wenig benutzerfreundliche Lösung gefunden. Das Ziel von historisch-kritischen Werkausgaben ist es, die Genese eines Werkes für die Forschung nachvollziehbar zu machen und den Text eines Autors aus seinem Entstehungskontext verstehen zu können. Denn selbst bei nichtkollaborativ entstandenen Texten eines einzelnen Autors ist ja der Text im Fluss, es gibt Notizen, Randbemerkungen, Ergänzungen, Lektoreneingriffe, Verlagsentscheidungen und Varianten innerhalb verschiedener Auflagen. Um diese Kontexte, in denen Texte stehen, wertneutral und sachgerecht verfügbar zu machen, hat die Editionsphilologie einen Visualisierungscode entwickelt, der allerdings nur von Fachleuten und mit entsprechendem Schlüssel zu lesen ist. Dann schaut man als Leser dem Autor über die Schulter, und sieht, wie aus „Wünschen“ „Gespräche“ werden und aus einem „lesbaren Pfeilglück“ eine „Pfeilschrift“.

Historisch-kritische Darstellung des Gedichtes "Beim Hagelkorn", Paul Celan

Für die Wikipedia wird es nun darum gehen, eine Methode zu entwickeln, wie man mehreren Autoren über die Schulter schauen und ihren Diskursen beiwohnen kann. Denn – nimmt man ihre Sonderrolle als mündlich-schriftliches Zwittermedium ernst, dann sind die Diskurse, die ihrer Entstehung zugrunde liegen, tatsächlich ein Bestandteil des Textes.

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Fotos: eigene. Bei der Handschrift handelt es sich um ein altes Katalogverzeichnis aus dem 19. Jahrhundert aus dem Bestand der Bibliotheka Albertina.

Die letzte Abbildung stammt aus: Paul Celan. Werke. Historisch-kritische Ausgabe. I. Abteilung. Lyrik und Prosa. 7. Band. Atemwende. Textapparat des Gedichtes “Beim Hagelkorn”. S. 76. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main, 1990.

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Über das Hinterfragenwagen
und den Luxus von Moral

Es gibt die verschiedensten Eigenschaften, nach denen man Menschen in Kategorien einordnen kann. Es gibt zum Beispiel Menschen, die sich das Beste bis zum Schluss aufbewahren (das Filet beim Essen zum Beispiel) – und andere, die den umgekehrten Weg gehen und sich gleich das Beste vornehmen (das Filet, bevor es kalt wird). Es gibt Morgenmenschen und Abendmenschen. Man kann sie auch einteilen in solche, die eher Hunde mögen, und solche, die eher Katzen mögen (unvereinbar). Oder in Heilserwarter und Unheilserwarter (Mischformen möglich).

Eine dieser möglichen Unterscheidungen habe ich gelernt für zentral zu halten: Es gibt Menschen, die sich, bevor sie etwas tun, fragen: „Nützt mir das?“ Und es gibt Menschen, die sich fragen: „Ist das richtig?“ Nun müssen sich ja Nutzen und Moral nicht notwendig ausschließen – die Gewichtung scheint mir jedoch von feiner Bedeutung zu sein. Es ist eine Art Grundhaltung des Seins, des Wertens und des Handelns auf allen Ebenen. Sie findet sich im Kleinen wie im Großen, im Berufsalltag ebenso wie im Privatleben. Auch wenn nicht immer offen sichtbar ist, führt ein tiefer Graben zwischen beiden. Die Motivation der einen Seite wird der jeweils anderen immer völlig unverständlich bleiben, gerade weil die Grundfrage für jeden so selbstverständlich ist.

Der Sozialdarwinismus, von dem im Metaphysik-Beitrag von Jörg Blumtritt die Rede ist, sagt: Moralisch richtig ist, was dem Eigen- oder Artennutz dient. Im Falle der Natur ist die Sache schnell geklärt: möglichst viele Gene verteilen. Jede Vergewaltigung wäre so moralisch legitimiert, die Natur ist da nicht kleinlich. Lässt sich dieses Prinzip aber auf eine kultivierte Gesellschaft übertragen? Bedeutet Kultur nicht gerade, sich den Luxus von Moral und Werten zu leisten, die außerhalb des reinen Eigennutzes liegen?

Was dient der Sache und was dient mir selbst? Auch hier könnte es doch einen dritten Weg geben. Wäre es möglich, die Pendlerpauschale falsch zu finden, obwohl man selbst davon profitiert? Ein Thilo Sarrazin bekommt ein großes Forum, weil man sich des Echos so schön sicher sein kann. Die Entrüstung ist groß, die Zustimmung auch, die Startauflage des Buches ist schon vor Erscheinen vergriffen. So gesehen eine klare Sache: Der Rummel nützt allen, dem Verlag, dem Buch-Autor sowie allen Medien, die sich auf dieser oder jener Seite an der Debatte beteiligen. Aber ist das auch richtig?

Gelegentlich staune ich, wenn ich durch das Fernsehprogramm schalte, über das, was ich dort zu sehen bekomme. Man fragt sich unwillkürlich, aus welchem Grund es überhaupt gesendet wird. Die einzig mögliche Antwort: Weil es Quote bringt. Einen anderen Grund kann es gar nicht geben. Weil es nützt. Aber reicht das?

Jeder Kindergarten wird ein Haifischbecken, wenn man die Kinder sich selbst überlässt. Das Recht des Stärkeren setzt sich zunächst einmal durch. Auf der anderen Seite werden Kinder zu einer unbeteiligten Schafsherde, wenn man es ihnen abnimmt, die Regeln des sozialen Miteinanders selbst zu entwickeln. Es geht also nicht nur um die Anwendung vorgegebener sozialer Regeln, sondern um die Fähigkeit, diese zu entwickeln. Kinder müssen lernen, einen Punkt zu finden, der außerhalb ihrer vielen verschiedenen Eigennutze steht, von dem aus sie Verhaltenregeln ableiten und untereinander verhandeln können. Natürlich geht es dabei auch um Eigennutzen. Aber es eben auch um einen Punkt, von dem aus diese ins Verhältnis gesetzt werden können.

Zivilisation und Kultur bedeutet doch genau dies: nutzenunabhängige, eigensystemübergreifende Regeln für Richtig und Falsch zu entwickeln. Immer wieder nach einem neuen Punkt zu suchen, von dem aus alles von außen zu betrachten – und zu beurteilen – ist. „Die Frage nach der Bedeutung, nach dem Wesen der zutage geförderten wissenschaftlichen Erkenntnis kann aber nicht im System selbst beantwortet werden,“ sagt Jörg in seinem Beitrag, und es stimmt: Man findet nicht alle Antworten innerhalb des Systems. Ob wir das nun Metaphysik, Moral, Mündigkeit, Religion* oder sonstwie nennen, ist unwichtig. Wichtig ist, einen Punkt außerhalb des eigenen Systems denken zu können, für denkbar zu halten. In den „anderen Raum des Denkens“ treten zu können. Sich selbst, das eigenen Handeln, die eigene Rolle im Ganzen zu hinterfragen wagen.

Was tue ich überhaupt und warum? Das bleibt eine zentrale Frage – für Menschen sowieso, aber auch als wissenschaftliche Disziplin, als Forschungszweig, als Verlag, als Unternehmen. Jeder, der handelt, sollte doch darauf eine Antwort haben.

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“Das ist alles recht schön und gut; / Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, / Nur mit ein bißchen anderen Worten.”

Margarete zu Faust (Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Zeile 3.459)

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Überflüssiges Lesen – Leben im Überfluss

Ein Gastbeitrag von Claas Triebel

Man sagt es würde weniger gelesen als früher. Das ist falsch. Niemals wurde so viel gelesen wie heute. Niemals war die Alphabetisierung so weit fortgeschritten. Niemals war die Welt so vollgestopft mit Buchstaben wie heute.

Man sagt es würden weniger Bücher gelesen als früher. Das glaube ich nicht. Verzeichnete der Buchhandel nicht sogar in den Krisenzeiten der letzten 18 Monate steigende Umsätze? Ertrinken die Buchmessen nicht geradezu in Neuerscheinungen? Ist es nicht seit langem Koketterie zu sagen: “Hach, ich habe so viel zu tun. Ich möchte endlich mal wieder ein gutes Buch lesen”?

Aber wenigstens die Klassiker würden nicht mehr gelesen, mag man rufen. Nun ja, vielleicht fühlt sich mancher Literaturwissenschaftler auf den gestrickten Schlips getreten, wenn der Klassiker, über den er in den 1980er Jahren habilitiert hat, inzwischen nicht mehr verkauft. Aber – ist das schade? An sich nicht. Und selbst die Klage, dass niemand mehr dicke Schwarten, sondern alle nur quasischnipselartige Texte konsumierten und Literatur zu Twitteratur und Klitteratur zu verkommen drohe , lässt unberücksichtigt, dass sich in den vergangenen 10 Jahren eine ganze Generation von Jugendlichen durch tausende von Seiten Harry Potter gefressen haben. Und es ist nicht nur die Blockbuster-Literatur, die zuweilen 800-Seiten Marke knackt: Roberto Bolano, David Foster Wallace, Peter Sloterdijk, Uwe Tellkamp – sind das nicht lauter Schreiber, die nicht der leichten Muse zugerechnet werden, die dicke Schinken verfasst haben und damit auch noch erfolgreich sind?

What now, my Kulturpessimist?

Bleibt nur noch ein Feld, das mir in den vergangenen Jahren an Bedeutung verloren zu haben scheint: der unwahrscheinliche Luxus der mehrmaligen Lektüre des selben Buches. Womöglich auch die mehrmalige Lektüre eines belletristischen Werkes. Nicht, um es beim dritten Lesen endlich zu verstehen, nicht um sich auf ein Wiedererkennen zu freuen, wie es die TV-Serien-Junkies zelebrieren, nein – das mehrmalige Lesen, um bei jedem Lesen das selbe Buch als ein anderes kennenzulernen. Das mehrmalige Lesen von Büchern widerspricht so ganz der bulimischen Anhäufung von Information, wie sie an den öffentlichen Hochschulen seit den Bologna-Reformen als Bildungsideal umgesetzt wird. Das mehrmalige Lesen ist nicht an einen äußeren Zweck gebunden. Das mehrfache Lesen desselben Buches reiht nicht Buchrücken an Buchrücken, sondernzerfleddert dieselben.

Das Lebensbuch hat in den vergangenen Jahren ausgedient. An die Stelle der vertieften Erfahrung des Leseerlebnisses ist der Kanon getreten, ob dieser nun von Marcel Reich-Ranicki oder einer der Tages- oder Wochenzeitungen des Landes definiert wird. Nicht ein Buch soll man auf die einsame Insel mitnehmen, sondern einen E-Reader mit hunderten von Büchern. Nicht nutzlos soll man lesen, sondern kanonisierte Klassiker und zwar in Massen und am besten noch solche mit massenhaft vielen Seiten. Pessimist ist, wer denKanon fordert. Denn der Kanon ist immer eine Klage darüber, was leider nicht gelesen wird und doch unbedingt gelesen werden müsste. DemKanon wohnt eine per se defizitorientierte Haltung inne: “Sieh, was Du alles lesen solltest! Sieh her, wie wenig Leseleistung Du erbracht hast. All diese Werke fehlen Dir.”

Lebenszugewandter Optimist ist, wer die Beschränkung empfiehlt. Wer der Verlangsamung frönt. Wer das Lesen als Luxus begreift. Wer dasLesen als Leben erlebt.

Leseempfehlungen auszusprechen ist eine zweischneidige Sache: man gerät leicht in den Ruch sich in die Reihe der imperativen Kanoniker zu gesellen, die da vorzugeben versuchen, aus welchen Zutaten die Lesediät zusammengesetzt sein muss und welche Seitenzahlenkontingente dabei zu berücksichtigen sind.

Guten Gewissens kann man jedoch folgendes empfehlen: nimm Dir mal wieder ein Buch zur Hand, das Du lange nicht gelesen hast und lies es erneut. Und wenn Du Lust hast, dann lies es anschließend gleich noch einmal von vorne. Und falls Dir danach kein besseres Buch zwischen die Finger kommt: dann ließ es doch einfach noch einmal.

Denn: Das ist Langsamkeit. Das ist Luxus. Das ist das Leben.

Pessimismus scheint mir angesichts dieser Möglichkeiten, die im Bücherregal eines jeden schlummern, keinesfalls angemessen zu sein.

P.S.: Welche Bücher ich schon oft und jede Mal wieder mit Gewinn gelesen habe? “Der Maler” von dem australischen Schriftsteller Patrick White und “Weltlicht” von dem isländischen Schriftsteller Halldór Laxness.

Claas Triebel ist Autor und Psychologe. Am 15. Februar ist sein neues Buch “Mobil, flexibel, immer erreichbar – Wenn Freiheit zum Albtraum wird” im Verlag Artemis & Winkler erschienen.

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Ein Lob auf das Sommerloch!

„Hier saß ich, wartend, – doch auf Nichts,/ Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts/ Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,/ Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.“
So zitiert der Rheinische Merkur Nietzsches Fröhliche Wissenschaft für ihr Lob des Sommerlochs.

Saure Gurken Zeit
Auch hier lohnt sich – wie so oft – der Blick in die Wikipedia: “Die ungarische Sprache kennt diesen Begriff ebenfalls als uborkaszezon (Gurkensaison).”
 
Nicht zu vergessen sind auch die Hundstage, benannt nach dem Stern Sirius im Sternbild Großer Hund, das man genau in den heißesten Tagen im August am Himmel in unseren Breiten beobachten kann. Und in Russland heißen dann auch die Sommerferien каникулы.

Sommerloch liegt im Kreis Bad Kreuznach. Im Rheinland gibt es einige “Löcher” – oft düstere Gedanken weckend: Sörgenloch etwa.

Wie uns Wikipedia belehrt, bezeichnet das Loch im Rheinland eine feuchte Mulde – anders als in Süddeutschland, wo Flurnamen mit Loch meist auf eine Lohe, einen Wald hinweisen, also auf eine Gründung zur Rodungszeit im Hochmittelalter.

Seinem Namen als Medienphänomen alle Ehre machend, sieht man das Ortsschild von Sommerloch oft in bemüht lustig gemeinten Metonymien, wenn Journalisten in ungewohnt selbstkritischer Weise berichten wollen, dass es im Augenblick nichts zu berichten gibt.

Das Sommerloch entsteht, weil die Parlamente, die meisten Wirtschaftsfunktionäre und auch die Bundesliga Urlaub nehmen. Und weil man in der Presse dann auch nichts mehr zu sagen hatte, entwickelte sich die Tradition, absurde Boulevard-Themen in aufgeregter Weise wichtig zu schreiben.

“Solange die Minister [in ihrer Sommerlektüre] lesen, können sie nicht in Mikrofone reden.” schreibt der Rheinische Merkur in seinem schönen Lob des Sommerlochs und denkt weiter, wie erholsam es ist, wenn wenigstens in den vier bis sechs Wochen der Feragosto den Mandats- und Leistungsträgern unserer Gesellschaft der Satz erlaubt wird: „Ich weiß es nicht, ich muss über dieses komplizierte Problem erst noch einmal nachdenken!“

“Liegen lernen”. Ein wehmütiger Wunsch nach Verlangsamung, auch nach einem Publikum, dass akzeptiert, wenn Menschen nichts zu sagen haben:

“Wahrscheinlich bleibt die Sehnsucht nach Nachdenklichkeit ungestillt, wie in den Jahren zuvor. Die Sommerinterviews samt Erwiderungsritual von „Morgenmagazin“ bis „Nachtjournal“ sind sind so sicher wie Elsas Dahinscheiden im Kielwasser des Schwans. Doch Reisende geben nicht auf.
Rheinischen Merkur, zu erkennen, wie stark in Wahrheit das Publikum selbst.”

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Unser re:publica-Panel und ein Telegramm

Vom 14. bis zum 16. April war die diesjährige re:publica. Am Donnerstag Abend hatten wir im kleinen Saal unser Slowmedia-Panel, das so schön und auch so kontrovers war, dass wir es um fast eine Stunde überzogen haben.  Das war wirklich sehr nett, und von oben aus sah es so aus:

Unsere Podiumsdiskussion ging gleich zügig los, Dank unserer großartigen Moderatorin Tina Pickhardt (Twitterern auch als @PickiHH bekannt). Ein Auftakt, um von unserer Seite die Diskussion anzuschieben war also gar nicht nötig. Das ist schön, weil es für gute Gespräche sowieso keine Skripte gibt.

Wer am Donnerstag dabei war, dem wird vielleicht aufgefallen sein, dass wir einen Rotwein mit auf dem Podium hatten. Nein, wir wollten uns damit nicht als rotweinschlürfende Bohemiens inszenieren (well, at least not only) – wir hatten in der Tat zwei rechtschaffene Gründe für diesen Wein:

Zum einen schließen wir uns damit Tyler Brûlés unwiderlegbarer Aussage zu social media an:

There is a kind of social media that really works for business and play. It’s called having a glass of wine.

Zum anderen hatte der Wein einen passenden Namen: Télégramme.

Das Telegramm ist interessant, weil es ein klassisches von der Zeit überholtes Medium ist. Eigentlich.

Wir erinnern uns: Ein Telegramm – “+ + ankomme ++ stop ++ freitag, den 13. ++ stop ++” – schickte man früher, wenn es ganz schnell gehen musste und keine Zeit war, auf den Briefweg zu warten. Das Telegramm war das schnellste aller Medien. Nun gibt es heute hinreichend andere Arten, den Brief zu überholen. Welche Rolle sollte also dieses Medium heute spielen, wo die Informationsübermittlung in Echtzeit jedem von fast überall und fast kostenfrei gelingt? Gibt es überhaupt noch Telegramme?

Ja, es gibt das Telegramm noch. Ich entdeckte es neulich im offziellen Produktangebot der Deutschen Post. Dort heißt es:

Überraschen Sie Menschen zu den unterschiedlichsten Anlässen mit etwas Besonderem: Ein Telegramm drückt Ihre Wünsche und Grüße nicht nur auf besondere Weise aus, es wird auch persönlich überbracht.

Sieh an, dachte ich. Da ist das Telegramm ja wieder. Ich weiß nicht, ob das funktioniert oder ob das heutige Telegramm bei der Post ein Ladenhüter ist. Ich finde aber interessant, was da passiert: Das Medieninstrument selbst bleibt ja gleich, aber die Perspektive, aus der wir draufschauen, ist eine andere. Das Telegramm ist vom schnellsten Medium zum persönlichsten Medium geworden (wenn wir mal von dem gemeinsamen Glas Wein absehen). Der ursprüngliche Produktvorteil der Schnelligkeit ist von der technischen Entwicklung überholt worden. Die Eigenschaft jedoch, die früher völlig selbstverständlich und nichts Besonderes war – es wird persönlich überbracht – ist jetzt zum Unterscheidungsmerkmal geworden: Ein Vorteil in einer Gesellschaft, die zwar viel schneller aber auch unpersönlicher geworden ist.

Was wir daraus lernen, ist etwas Schönes: Man kann auch etwas Neues schaffen, indem man neu auf alte Dinge schaut.

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Slow Down Week

Die Slow-Media-Bewegung gewinnt allmählich an Kontur. Gerade eben habe ich auf der Adbusters-Webseite ein sehr schönes Plädoyer für eine “Slow Down”-Woche gefunden. Das Video hat bei mir ehrlich gesagt keinen bleibenden Eindruck hinterlassen (abgesehen von der Tatsache, dass es nicht auf anderen Webseiten eingebettet werden kann – vielleicht eine bewusste Verlangsamung der Verbreitung?), dafür ist der Text umso besser. Denn hier wird gerade nicht für eine elektronische Devolution geworben, sondern dafür, unser modernes Leben anders zu leben:

To slow down, we don’t have to stop moving – we just have to move in different, more meaningful ways.

Das könnte man auch als Essenz unseres Manifests lesen. Es geht gerade nicht um eine Rückkehr zu einer vormodernen Mediennutzung, sondern darum, die medialen Angebote des 21. Jahrhunderts bewusster und besser zu nutzen. Was für den Kaffeekonsum gilt – “Chat with the owners, smile at a stranger and sip your latte from a mug rather than dashing off with a cardboard cup” – sollte meiner Meinung nach auch für den Medienkonsum möglich sein.

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“L’idée vient en parlant”: Kleist über Twitter

Heinrich von Kleist

Jörg Blumtritt hat gestern einen schönen Beitrag über Twitter geschrieben. Damit haben sich die Autoren des Slow Media Blogs endgültig als Twitter-Fans geoutet. Twitter, ein Schwarm von Vogelgesaengen. Eine Volière, die – wie es Wikipedia so unvergleichlich formuliert – den “Freiflug der Insassen ermöglicht”, und nicht nur den der Insassen, sondern auch die Freiflüge aller anderen, die sich durch die geräumigen und durchlässigen Begrenzungstäbe dort hineinwagen.

Zu der gestern bereits angeführten Flüchtigkeit und Vergänglichkeit von Twitter möchte ich ein paar Gedanken ergänzen. Beginnend mit einer Frage: In welcher Zeit findet das Ganze eigentlich statt? Die Sprache verrät es uns: “What are you doing?” lautete die Eingangsfrage von Twitter (bis sie von dem jetzigen “What’s happening?” abgelöst wurde). Die digitalen Frei- und Höhenflüge finden also in der Verlaufsform statt, im englischen “present progressive“, der sogenannten -ing-Form. Sie wird verwendet, wenn “das Geschilderte im erzählten Moment (…) gerade passiert” (ein Äquivalent wäre die Rheinische Verlaufsform des “Ich bin am twittern”). Auch das Partizip Präsens Aktiv drückt Gleichzeitigkeit aus: unser Zustand ist schreibend, denkend, sprechend, twitternd.

Die Twitter-Zeit ist auch das Partizip Präsens des „L’idée vient en parlant“ (die Idee kommt während des Sprechens). Heinrich von Kleist prägte diesen Begriff 1805 in Analogie zu der französischen Redewendung “L’appétit vient en mangeant” (der Appetit kommt mit dem Essen). Er schreibt es in seinem großartigen Aufsatz “Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden”, und ich möchte die Behauptung aufstellen, dass Kleist hier über Twitter schreibt. Er empfiehlt darin, wenn man nach stundenlangem Brüten in einer Gedankensackgasse steckt, das Gespräch mit einem anderen zu suchen. Im Gespräch mit einem Gegenüber kommen die eigenen Gedanken in Fluss, nehmen Gestalt an, gewinnen Konturen und formen sich zu einer klaren Argumentation. Kleist spricht hier nicht vom Wiedergeben bereits fertiger Gedanken, sondern von einem Sprechen als “ein wahrhaft lautes Denken”. Die Sprache sei dann wie ein “zweites, mit [dem Rad des Geistes] parallel fortlaufendes Rad”. Er spricht also auch von Gleichzeitigkeit, von Gleichzeitigkeit des Sprechens mit der Entwicklung des Auszusprechenden.

Das ist auch bei Twitter möglich. Auch bei Twitter kann “ein lebhaftes Gespräch [entstehen], eine kontinuierliche Befruchtung der Gemüter mit Ideen” – allerdings nicht nur wie Kleist noch voraussetzte in der mündlichen Rede, sondern auch in der quasimündlichen Schriftform der digitalen Welt. Inspiration und Inspirierendes, die Konzentration und Aufmerksamkeit auf einen Gedanken, der im Begriff ist, sich im Jetzt und im Diskurs mit einem Gegenüber zu entwickeln: In diesem Punkt finden Kleists Essay, Twitter und unser Slow-Ansatz zusammen.

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Schoenheit von Vogelsang

[Read this Post in English]
“Every time I hear about Twitter I want to yell Stop. The notion of sending and getting brief updates to and from dozens or thousands of people every few minutes is an image from information hell. It scares me, not because I’m morally superior to it, but because I don’t think I could handle it.”

Die Kalte Panik vor der Informationshölle, die George Packer – Autor und Korrespondent der New York Times – mit Twitter verbindet, wie er in seinem in seinem Blog-Post beschreibt, können viele Menschen derzeit gut nachvollziehen; nicht zuletzt ist die Flüchtigkeit von Twitter das Wunderbare aber auch Erschreckende: nichts scheint von wert, nichts von dauer.

“Aufklärung braucht Zeit – und die fehlt im Netz”, sagt der Philosoph Markus Gabriel im Interview auf FAZ.net – und auf Twitter, möchte man ergänzen, ist sofortige Vergänglichkeit sogar ins System eingebacken – selbst die Twitter-eigene Suche geht nur zwei Tage in die Vergangenheit zurück. All die schönen Gedanken versinken so schnell in den Tiefen der Timeline, dass wir wohl verweilen möchen; aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der uns unaufhaltsam in die Zukunft treibt.

Betrachtet als Nachrichtenkanal, finde ich Parkers Panik über Twitter besonders gut nachvollziehbar. Jede Nachricht, die mich (per Re-Tweet) zum zweiten Mal erreicht, erscheint veraltet, irgendwie nicht mehr relevant. Und wie trostlos, wenn selbst der absolute Medien-Mainstream tausende Mal per Re-Tweet repliziert wird, wie heute: “Man Resigns On Twitter per Haiku”.

Doch gerade diese Meldung führt uns auf etwas an Twitter, das schön und wertvoll ist: Lyrik und Aphorismus, Schönheit in sprachlicher Reduktion. Das bemerkenswerte an der Rücktrittserklärung des Sun-CEOs ist nicht, dass er sie über Twitter bekannt gibt. Twitter ist der effizienteste Kanal für Mitteilungen dieser Art, das pfeifen die Heerscharen der Social-Media-Consultants schon seit Jahren von den Dächern. Bemerkenswert ist, dass Jonathan Schwartz die Versform des Haiku wählt. Kurze, tatsächlich gedichtete oder zumindest stark in ihren Silben schwingende Ausrufe sind für mich das Schöne an Twitter. Eine Meldung wie “Mars can be seen all night” mag einen tatsächlichen astronomischen Hintergrund haben. Als einzelner Vers betrachtet, werden die sechs einsilbigen Wörter zum Mythos, indem wir den Kriegsgott siegreich über das gesamte Reich der Neith erblicken.

Sieht man Twitter nicht als Kurznachrichten-Dienst, sondern nimmt das Bild ‘Vogelgezwitscher’ ernst, verliert die nimmer endende Flut von Text ihren Schrecken – es ist keine Information sondern wird gleichsam zu Musik, einem Strom, auf dem man sich treiben lassen kann.

Sound of vernal showers
On the twinkling grass,
Rain-awaken’d flowers—
All that ever was
Joyous and clear and fresh—thy music doth surpass.

Teach us, sprite or bird,
What sweet thoughts are thine:
I have never heard
Praise of love or wine
That panted forth a flood of rapture so divine.
(Shelley, To a Skylark)