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Die Illusion vom freien Internet

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Dec. 4 (Bloomberg) — PayPal Inc., the payment processor owned by EBay Inc., cut access today to the whistle-blowing website WikiLeaks.org for violating its acceptable use policy.

(www.businessweek.com)

Anfang diesen Jahres wollte ich ein Buch bei einem Indischen Verlag bestellen. Als ich über den PayPal-Link auf der Verlagsseite bezahlen wollte, erhielt ich die Nachricht, das PayPal keinen Geldverkehr mit Indien mehr erlaube. Einfach so. Ohne irgendeine Begründung.

In der Diskussion um Google Streetview hat mich ein Argument besonders erstaunt: gegen Menschen, die ihre Häuser nicht für Googles Datenbank zur Verfügung stellen wollen, steht der Vorwurf, die seien “für Zensur”, gegen “die Freiheit des Internet” und ähnlich harte Anschuldigungen.

Die Wahrheit ist: Google, Facebook, Amazon, Ebay sind Wirtschaftsunternehmen. Der Umgang von Amazon und Ebay mit Wikileaks zeigt, welche Art von frei diese Firmen tatsächlich verkörpern: es ist frei wie in Freibier – und mit Freiheit hat es nichts zu tun, dass viele, bequeme Dienstleistungen von diesen Firmen scheinbar nichts kosten.

Es geht mir nicht um die Frage, inwieweit die Veröffentlichungen von Wikileaks schützenswert oder zu verdammen sind. Eine ethische oder politische Diskussion führen Amazon und Ebay nämlich nicht. Sie berufen sich auf ihre Allgemeinen Geschäftsbedignungen, die Wikileaks objektiv gebrochen hat.

Wenn wir den Googles, Facebooks, Amazons und Ebays dieser Welt das Internet überlassen, degradieren wir das Internet zu einer Manipulations- und Marketingmaschine. Jede Gesellschaft – ja sogar jede Gemeinschaft – sollte dafür sorgen, ihre wichtigen Inhalte und Schnittstellen nicht vollständig zu ökonomisieren. Regeln wie die Buchpreisbindung, das Pressegrosso und das Rundfunkrecht sind aus dieser Erkenntnis entstanden und haben sich in der “alten” Medienwelt über Jahrzehnte bewärt. Jetzt geht es darum, die Freiheit der Medien politisch und ethisch und nicht wirtschaftlich getrieben zu fördern.

Boykotte können helfen, Unternehmen zu erreichen – und sie zeigen uns im Verzicht auf die liebgewonnenen Services, wie abhängig wir tatsächlich schon sind. Aber zum Schluss wird es nur helfen, selbst für Alternativen zu sorgen.

Nachtrag: Zensur bei Twitter?

Eine besonders perfide – weil fast unmerkliche – Form von Einflussnahme von Twitter wurde spätestens jetzt am Beispiel Wikileaks deutlich.

Wikileaks wird aus den Trending Topics von Twitter gefiltert, wie mehrere Blogger heute quantitativ nachwiesen (z. B. http://bubbloy.wordpress.com), nachdem andere es bereits seit Tagen vermuteten.

Wenn solche Zensur bei der Verbreitung einzelner Tweets stattfindet, würden es vermutlich lange überhaupt niemand auffallen – die Betroffenen würden höchstens die bug-reiche API verantwortlich machen.

Wenn Twitter heute angeblich (und nach meinem dafürhalten tatsächlich) die einflussreichste journalistische Plattform ist, steht hier eine perfekte Maschinerie für Manipulation zur Verfügung, zumindest kurzfristig, bis im Ernstfall eine Alternative aufgetan worden wäre. Und richtig lustig wird es erst, wenn Twitter etwa anfangen sollte, im Namen politisch unliebsamer Accounts kompromitierende Nachrichten zu posten! (Und wer sollte sie daran hindern?)

Also – einmal mehr: raus aus den düsteren Walled Gardens und zurück ins helle, offene Netz!

Mehr zum Thema:
Virtueller Rundfunk
Digitale Zwangsneurosen
Zensur?!
Ohne Google
Der Idiot – wieder eine zeitgemäße Figur

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Philosophie Wirtschaft Zeitschriften

Die “brand eins”

 

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“Slow Media,” sagt meine Freundin Anna, “das ist für mich die brand eins.” Immer, wenn sie bei ihrem Freund Peter – einem brand eins Abonnenten – zu Besuch ist und Zeit und Muße hat, nimmt sie sich eine Ausgabe des Wirtschaftsmagazins. Es ist jedesmal schön, darin zu lesen, sagt sie. “Ganz egal, ob es die aktuelle Ausgabe ist, oder eine aus dem letzten Jahr. Die brand eins ist immer lesenswert und gut gemacht, auch wenn mir nicht jeder Beitrag gefällt.” Das ist ziemlich genau auf den Punkt und beschreibt etwas, was ich mediale Nachhaltigkeit nennen möchte: Die souveräne Strahlkraft eines gut gemachten Print-Magazins über die Aktualität und den einzelnen Abonnenten hinaus. Eine brand eins bleibt über Monate und Jahre frisch. Und sie reicht für mehrere Leser.

Slow Media, sagen wir, sind von Menschen gemacht und das merkt man. Und so spürt man hinter der brand eins auch immer die Menschen, die sie machen und die immer schon, auch nach dem Scheitern des Vorgängers Econy, an dieses Wirtschaftsmagazin geglaubt haben. Daran, dass Wirtschaft und Ethik zusammenzudenken sind. Daran, dass Wirtschaftsthemen und hochwertiges Editorial Design (nach wie vor in der Verantwortung von Mike Meiré) zusammengehören. Nicht dass die Chefredakteurin Gabriele Fischer und ihr Team alle Beiträge selbst schrieben. Aber die Haltung, mit der sie der Welt und ihren Lesern gegenübertreten, und die Werte, nach denen sie ihr Magazin realisieren, schwingen bei allem wie ein durchgehender Grundton mit.

Alles Show? Nein. Diese Werte finden sich – ohne ins Detail gehen zu wollen – konsequenterweise auch in den Autorenverträgen wieder. Autoren geben hier in dem selbem Umfang Nutzungsrechte ab wie bei anderen Zeitschriften, aber sie tun es hier als geschätztes und respektiertes Gegenüber. Hinter den Kulissen wird Praktikanten vermittelt, dass ein Beitrag auch nach einem Jahr noch mit Gewinn zu lesen sein muss. Die Wirkung der brand eins auf meine Freundin Anna ist also kein Zufall, sondern erklärtes Ziel. Ein Qualitäts-Luxus, bei dem es eben nicht nur um das Abverkaufen geht, sondern auch um das Nachwirken.

Das Aprilheft 2000 der brandeins

Diese Haltung macht mutige Entscheidungen möglich. Wie das Aprilheft des Jahres 2000 (Nachhaltigkeit: bisher 10 Jahre). Es ist ein Sonderheft. Die ersten 30 Seiten sind dem damals noch weitgehend unbekannten Cluetrain-Manifest und seinen 95 Thesen zum Wandel der Märkte durch das Internet gewidmet (heute ist es längst ein visionärer Klassiker mit ungebrochener Aktualität). Es hat die Menschen, die brand eins machen, damals bewegt. Und sie haben sich von ihrer Inspiration leiten lassen, mitten im Aktienrausch, der gerade Mitte März 2000 seinen Höhepunkt hatte. “Hatten wir uns bei aller Begeisterung für den Gründer-Boom von der Neuen Wirtschaft nicht mehr erhofft als immer neue Millionäre?”, fragt Gabriele Fischer im Editorial dieser Ausgabe. Konzern-Manager und Politiker wollten zu dieser Frage keine Stellung nehmen, sie “ließen sich durch ihre Pressesprecher mit Zeitmangel entschuldigen.” Sie aber fanden es wichtig.

Wann entstand das Aprilheft? Vor dem Absturz? Im Moment der Wende? Wie es auch war. Es war mutig, in diesem Moment so deutlich auf einen krassen Gegenentwurf zu setzen. Wenn es einem nur ums Verkaufen geht, macht man sowas nicht.

Die gute Nachricht also für alle, die die Kategorie “Slow” für realitätsfern halten, lautet: Mediennutzer merken, mit welcher Haltung und welchem Anspruch ein Medium produziert wird. Sie sind bereit, dafür zu bezahlen. Slow Media können gut und erfolgreich sein.

Nun mag man einwenden, dass Anna die brand eins, die sie so schätzt, nicht selbst gekauft hat – dass Inspiration schön und gut ist, dem Verlag aber kein Geld bringt. Eine Antwort darauf gibt Annas Freund Peter: Loyalität. Der treue brand eins Abonnent gestand mir neulich, dass er selbst in den letzten Monaten gar keine Zeit mehr findet, das Magazin zu lesen. Aber dass er trotzdem nie im Leben auf die Idee käme, deswegen sein brand eins Abo zu kündigen.  Dass sie für ihn einfach dazugehört, egal wieviel Zeit er grade zum Lesen hat. Das ist Bindung zwischen einem Medium und seiner Leserschaft.

Cluetrain-These 2 in der brandeins 3/2000

Nachtrag:

Die Frage “Wann entstand das Aprilheft?” hat Gabriele Fischer soeben per Mail beantwortet: Die Dotcom-Blase blähte sich tatsächlich noch auf, als die April-Ausgabe in der ersten Märzwoche 2000 produziert wurde. Als sie nach dem 13. März platzte, war das Cluetrain-Sonderheft der brand eins schon in Druck. Auch Ulf J. Froitzheim bestätigt dies später in seinem Kommentar (s.u.).

 

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