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Das Recht aller Menschen, durch das Internet jederlei Gedanken und Informationen zu suchen, zu erhalten und mitzuteilen.

“Internet should remain as open as possible”

“There should be as little restriction as possible to the flow of information via the Internet, except in a few, very exceptional, and limited circumstances prescribed by international human rights law”

Mein ganzes Leben lang bin ich immer wieder durch die Vereinten Nationen und ihre Agenturen beeindruckt worden.

Vor kurzem hat der UN Sonderberichterstatter zur Lage der Meinungsfreiheit Frank La Rue seinen Bericht zur Meinungsfreiheit im Internet an die UN Menschenrechtskomission abgegeben. Ich empfehle, den Bericht zu lesen. Darin finden sich unterschiedliche Positionen sorgfältig abgewogen, die Eigenverantwortung contra die kollektive Verantwortung durch Gesellschaft oder Verwaltung, politische und ökonimische Freiheit, Recht auf Eigentum contra Gewaltexzess.

Das Urteil ist klar: es gibt ein “Menschenrecht, durch das Internet jederlei Gedanken und Informationen zu suchen, zu erhalten und mitzuteilen.” Diese dreigeteilte Forderung (suchen, erhalten, senden) ist das fundamentalste ernstgemeinte Statement, dass ich bis jetzt in der Diskussion gelesen habe. Einschränkungen dürfen nur in engstem Rahmen und nur unter Angemessenheit der Mittel getroffen werden, ausschließlich und ohne Ausnahme nur auf gesetzlicher Grundlage, in Übereinstimmung der UN-Vorgaben und nur unter Wahrung vollständiger Transparenz.

Jedem, der einseitig Rechte einschrenken möchte, können wir von nun an diese Rahmenbedingungen entgegenhalten, die die Vereinten Nationen allen Staaten als Mindeststandards nennen. Jeden, der davon abweichende Regelungen einführen möchte, können wir nun zur Rechenschaft auffordern.

Das Internet als Menschenrecht ist die konsequente Fortsetzung der Idee der Meinungsfreiheit.

Links:
Der Bericht im Original (pdf): “Report of the Special Rapporteur on the
promotion and protection of the right to freedom
of opinion and expression, Frank La Rue”

Und die Pressemitteilung.

Weiter lesen:
Virtueller Rundfunk
Die Illusion vom freien Internet

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Was empört uns?

Als ich vor fünf Wochen das Büchlein “Indignez vous!” aufschlug, um den Essay des 93Jährigen Stéphane Hessel zu lesen, passierte etwas Besonderes. Ich legte nach wenigen Zeilen das Buch beiseite, stand auf, holte mir einen Bleistift und setzte mich wieder zum Lesen. Mit dem Stift in der Hand, um Stellen anzustreichen und mir Notizen zu machen.  Das habe ich seit Jahren nicht mehr getan. Die letzten Anstreichungen in meinen Büchern stammen noch aus meiner Studienzeit.

Ich weiß nicht genau, wie diese Wirkung zustande kam. Vielleicht war es die Unumwundenheit, mit der ein Mensch geradeheraus und unumstößlich feststellt, dass wir Prinzipien und Werte brauchen. Das ist ungewöhnlich, obwohl doch die Menschrechte für uns alle eigentlich selbstverständlich sind.

Stéphane Hessel hat noch etwas zu sagen, bevor er geht. Er spricht von Verantwortung. “La responsabilité de l’homme qui ne peut s’en remettre ni à un pouvoir ni à un dieu” (p. 13). Er meint damit die Verantwortung als Mensch, die man an niemanden abgeben kann, die nicht delegierbar ist.  Hessel wünscht uns Nachgeborenen (und das sind wir in Anbetracht seines Alters wohl alle) Gründe zur Empörung, die uns an diese Veranwortung erinnern, an die Notwendigkeit für etwas einzustehen und zu handeln.

“Je vous souhaite à tous, à chacun d’entre vous, d’avoir votre motif d’indignation. C’est précieux.” (p.12)

Mehr noch fordert er, diese Gründe zur Empörung, die Dinge, die unerträglich und nicht akzeptabel sind, “les choses insurportables”, gezielt zu suchen: “Pour le voir, il faut bien regarder, chercher.” (p.14). Hessel rät, hinzusehen und sich der Differenz zwischen dem “wie es sein sollte” und dem “wie es ist”, auszusetzen, sie auszuhalten und Empörung zuzulassen. Erst aus der empfundenen Differenz zwischen Ideal und Realität entspringt Handeln. “L’indifférence: la pire des attitudes”, lautet der konsequente Umkehrschluss. Denn Indifferenz verhindert das Handeln.

Empörung, unsere Preziose. Das finde ich interessant. Was empört uns eigentlich? Was wäre in der Lage uns zu entrüsten?  Was würde uns auf die Barrikaden gehen lassen?

Zu meinem Beitrag, den ich über Hessels Buch schreiben wollte, bin im Januar nicht gekommen. Es passierte soviel anderes. Inzwischen gibt es eine deutsche Übersetzung von Michael Kogon. Ich nehme sie zum Anlass, dieses Büchlein mit seinen lesenwerten 20 Seiten hier doch noch zu empfehlen, und zwar nachdrücklich. Es ist ein Buch, das sich wunderbar teilen und verschenken läßt.

Zwischen meiner ersten Begegnung mit dem französischen Essay und seiner deutschen Übersetzung liegen nur wenige Wochen. Aber was für Wochen! Tunesien, Ägypten, Libyen liegen dazwischen. Wieviel gerechte Empörung liegt darin. Wieviel Erstaunen unsererseits, dass Menschenrechte tatsächlich etwas sind, wofür Menschen bereit sind, ihr Leben zu riskieren, vor unseren Augen.

Ja, Stéphane Hessel lächelt dieser Tage, wenn er im Fernsehen auf die Lage in der arabischen Welt angesprochen wird.

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Stéphane Hessel hier ab min 4:30 (ard, Beckmann)

Stéphane Hessel: Indignez-vous! Indigène éditions, Montpellier, décembre 2010. 6 €

Stéphane Hessel: Empört Euch! Aus dem Französischen von Michael Kogon. Ullstein, Berlin 2011. 3,99 €

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Nachtrag in eigener Sache:

Ganz am Ende, nachdem ich dem alten Herrn schon längst erlegen war, entdeckte ich diese Textstelle, die Stéphane Hessel als Slowmediavisten decouvriert:

“La pensée productiviste, portée par l’Occident, a entraîné le monde dans une crise dont il faut se sortir par une rupture radicale avec la fuite en avant du “toujours plus”, dans le domaine financier, mais aussi dans le domaine des sciences et des techniques. Il est grand temps que le souci d’éthique, de justice, d’équlibre durable devienne prévalent.” (p. 20)

Hier in deutscher Übersetzung:

“Das im Westen herrschende materialistische Maximierungsdenken hat die Welt in eine Krise gestürzt, aus der wir uns befreien müssen”, schreibt Hessel. “Wir müssen radikal mit dem Rausch des ‘Immer noch mehr’ brechen, in dem die Finanzwelt, aber auch Wissenschaft und Technik die Flucht nach vorn angetreten haben. Es ist höchste Zeit, dass Ethik, Gerechtigkeit, nachhaltiges Gleichgewicht unsere Anliegen werden.” (S. 19f.)