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Alltag Philosophie

Kein Mädchenpensionat

Wikipedia ist kein Mädchenpensionat. de.wikipedia.org

“Brauchen wir Frauenquoten?” als Antwort auf “Warum sind hier so wenig Frauen?”, austauschbar im Kontext Führungskräfte, Professoren, Ingenieure, Mathematiker, Naturwissenschaftler, Gamer oder Piraten, darauf scheint sich mir die Gender-Debatte aktuell zu reduzieren. Wie ein Blick nach Skandinavien, Frankreich oder den USA leicht plausibel macht, hat ein Ungleichgewicht von Männern und Frauen in den Durchschnittsgehältern und der durchschnittlichen hierarchischen Stellung im Beruf offensichtlich etwas mit dem Angebot an Kindertagesstätten und Ganztagsschulen zu tun. Dies zu leugnen ist ähnlich naiv, wie zu behaupten, der Klimawandel sein nur eine kurzfristige, statistische Schwankung.

Das erklärt aber überhaupt nicht, warum es in den “männlichen” Studiengängen und Berufen so wenig Frauen geben sollte. Für eine Mathematikerin ist die Chance auf Kinderbetreuung im Berufsleben vermutlich sogar besser, als für eine Kunsthistorikerin, würde ich zumindest aus meinem beruflichen Umfeld direkt folgern. Fragt man also, warum es diese Ungleichheit schon in der Ausbildung gibt, ist die stereotype Antwort, das läge an Erziehung und gesellschaftlich-kulturellem Rollenbild. Und da wird es meiner Ansicht nach interessant.

Üblicher Weise wird es als Flucht, als Schwäche der Frauen interpretiert, wenn sie sich für das “Weibliche” entscheiden. (“Weiblich” im Gender-Sinne, also das Verhalten, welches gesellschaftlich als eher weiblich attribuiert wird, finde ich ein schwieriges Konstrukt, das ich mir nicht zu eigen machen möchte, sondern in der Bedeutung zu verwenden versuche, wie es in den betreffenden Kontexten häufig auftaucht). “Frauen studieren Kunstgeschichte, weil sie sich nicht an die harten Fächer herantrauen” – hab ich tatsächlich schon den einen oder anderen Akademiker sagen hören. “Hier weht eben ein rauerer Wind.” – und dann sind wir ganz schnell bei den “Warmduschern” und anderen “Weicheiern” – wir sind also bereits weit jenseits von Sexismus, bei Diskursmacht angekommen und stehen mal wieder kurz vor der “Schweigespirale”. Und es ist ja so einfach, sich lustig zu machen, über “Political Correctness”; da hat man die Lacher immer auf seiner Seite.

Bevor wir also “das Weibliche” (s. oben) einfach pauschal über Bord werfen, sollten wir doch sehen, was wir da Opfern. Es ist, z.B. sicher kein Zufall, dass die Löschtrolle (männlich/weiblich) in der Wikipedia ihre in der Regel groben bis rüpelhaften Umgangsformen genau damit begründen, “Hier ist doch kein Ponyhof.” Dieses Post-Gender “stellt euch nicht so an, sonst seid ihr nicht emanzipiert genug, um hier mitzumachen” trifft den jeweiligen Diskussionsgegner übrigens völlig unabhängig von seinem Geschlecht oder Gender, soweit sich diese überhaupt aus dem Nutzerprofil ablesen lassen. Es geht also nicht darum, tatsächlich Frauen zu diskriminieren, sondern eine bestimmte Kultur abzuqualifizieren, die sich durch Höflichkeit oder dem Abwägen von Argumenten auszeichnet.

Eine extrem geringe Bereitschaft, sich in etwas Distanz und Selbstkritik mit dem eigenen Fach zu beschäftigen ist mir bei vielen Kommilitonen und später bei Kollegen unangenehm aufgestoßen, als ich vor zwanzig Jahren Mathematik studiert und anschließend eine Zeit im wissenschaftlichen Betrieb gearbeitet habe. Der dogmatische Positivismus, den ich in meiner Timeline regelmäßig auch in Diskussionen um Medizin-Ethik, Evidenzbasierte Wissenschaft oder Technikfolgenabschätzung wahrnehme, wird durch ein “so ist das harte Leben eben; da ist kein Platz für Metaphysik.” jenseits von Argumenten absolut gesetzt.

Es stimmt, meiner eigenen Erfahrung mit Kindern nach zu urteilen, übrigens nicht, dass Mädchen nichts mit Star Wars anfangen können. Gerade deshalb – das hab ich schonmal hier geschrieben – finde ich es seltsam, was für eine geringe Rolle die relativ flachen Frauen-Charaktere in den ikonischen Romanen zum Anbruch des Nerd-Zeitalters spielen.

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Literatur

Suarez, Cline, Stephenson:
die Welt nach der Implosion

Drei Bücher, die ich ganz dringend zum Lesen empfehle:


“Deamon” von Daniel Suarez
“Ready Player One” von Ernest Cline
“REAMDE” von Neal Stephenson

Alle drei im Abstand weniger Monate erschienen – für Literatur also praktisch gleichzeitig. Alle drei haben ein Thema: die “Subkultur”, die man, mangels besseren Begriffs, meist als Netz-Kultur bezeichnet, bricht sich Bahn in die “alte” Welt.

An der Oberfläche entwirft Suarez einen düsteren Verschwörungsthriller nahe am Science Fiction , bei dem die Welt durch ein dezentrales Darknet beherrscht wird. Stephenson bedient ebenfalls das bekannte Genre des “Wir-reisen-um-die-Welt”-Krimis – bei ihm löst ein nerviger Trojaner, mit dem Kleinkriminelle Lösegeld für verlorene Daten erpressen, beinahe ein zweites 9/11 aus. Und bei Cline gewinnt ein armer Junge durch seine Überlegenheit im Online-Gaming ein Milliardenvermögen. Alles also erstmal ganz konventionelle Thriller, mal mehr, mal weniger dazuerfundene Technologie.

Aber dieser konventionelle Rahmen für die Handlung ist, glaube ich, nur Zugeständnis an die Masse der Leser, denn das, was in allen drei Romanen darunter geschildert wird, ist wirklich epochal: das bisherige Macht-System der Welt implodiert.

Das Netz ist für die Helden aller drei Bücher die eigentliche Topografie der Welt. Macht, Geld, Wissen und Beziehungen organisieren sich entlang der Kanten und Knoten des Social Graph. Auch wenn die Schurken zum Teil genauso Net-Savvy sind, wie die Guten – den wirklichen Schaden richten die Anderen an, die Politiker, Polizisten und “Zivilisten”, die nicht vom Netz verstehen und deshalb die Helden und deren Gegner in einen Topf werfen und bekämpfen. In allen drei Büchern widerfährt am Ende den Netz-Underdogs endlich Gerechtigkeit. Ihr Talent wird gewürdigt und ihre elitäre Stellung in der Gesellschaft anerkannt – oder noch mehr: dass es die Hacker sind, auf die es in Wahrheit in der Welt ankommt. Und ich muss zugeben, dass ich beim Lesen ein hohes Maß an Identifikation mit den Protagonisten entwickelt habe, geradezu Stolz, dass “es endlich so weit ist” …

Clines “Ready Player One” ist für mich das beste der drei Bücher. Mag sein, dass mich die poetische Aufarbeitung einer Kindheit in den 80er Jahren und der sehr originelle Durchgang durch die frühe Atari- und Comodore-Kultur berührt, weil es ja auch meine Kindheit war und weil die Dystopie einer Post-Finanzkrisen-Welt der Zukunft dazu besonders scharf und traurig im Kontrast steht.

***

Nachdem ich mich durch alle drei Wälzer mit insgesamt ca. 2000 Seiten gefressen habe, frage ich mich, ob ich mir wirlich wünschen soll, dass meine Generation endlich Rache nimmt, an den Altdenkern, den Netzhassern, diese Diktuphoben. Bei allem Zorn auf die bornierte Netzverweigerung, über die wir uns täglich rauf und runter auf Twitter erhitzen: wenn die drei Bücher einen utopischen Entwurf vermitteln, dann ist dabei ganz schön viel von dem, was mir wichtig ist, überbord gegangen.

Bedrückend empfinde ich, wie wenig Platz für Frauen in diesen Büchern ist. Den Sieg tragen immer Machos davon, die in ihrer regelrecht archaischen Geschlechterrolle als Warrior/Mage krass zu den “weichlichen” Netzfeinden kontrastieren. Am krassesten bei ‘Daemon’, wo die neue Führungselite direkt aus Fightclub entlehnt scheint. Irgendwie ist kein Platz mehr für Philosophie, Psychologie – von Religion ganz zu schweigen, die sowieso das erste Opfer des harten Positivismus dieser neuen Welt so werden scheint.

Diesen Verlust so deutlich zu machen, ist für mich eine der stärksten Aspekte der drei Bücher. Und obwohl ich fest daran glaube, dass wir in der Netz-Kultur vieles vorbereitet haben, was für eine bessere Gesellschaft zum allgemeinen Gesetz werden kann und sollte, sehe ich auch, dass der Wechsel wohl nicht ohne Preis vonstatten geht. Und dabei meine ich nicht, dass wir keine Briefe mehr schreiben.

Amazon Links:
“Daemon” von Daniel Suarez
“Ready Player One” von Ernest Cline
“REAMDE” von Neal Stephenson

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