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De mémoire, de réflexion
et pas simplement d’informations.

Jacques Delors über Slow Media

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“Lord Weidenfeld peut opposer à ces violentes critiques [des médias; e.g. Lazarsfeld “The rape of crowds by political propaganda”], d’une part la dette de la démocratie envers les médias, dits lents, que sont le journal et le livre. Ils ont beaucoup contribué à l’éveil et au développement de la démocratie. Et il peut aussi mieux que tout autre, par son action pendant la guerre, indiquer la dette que nous avons envers les libertés lorsque, comme lui, on tentait de diffuser au-delà du terrain de la guerre et des atrocités une vision du monde plus acceptable et un avenir que l’on pouvait croire meilleur. Mais puisque j’ai évoqué les médias lents par opposition aux médias courts, je ne peux m’empêcher de plaider pour la vigilance à l’égard de ces médias courts. Vigilance ne veut pas dire procès. Nous avons besoin de mémoire, de réflexion et pas simplement d’informations. Cette réflexion me vient tout naturellement à l’esprit en pensant aux types d’informations qui concernent la construction européenne.”

Die Medien als Mittel der Stabilisierung von Demokratie und als Waffe gegen Willkür und Grausamkeit verteidigt Jacques Delors in seiner Rede anlässlich der Verleihung der Karlsmedallie an George Weidenfeld gegen die ideologischen Kritiker: Poison à ne pas avaler – die Medien sind viel mehr, als Vergewaltigung der Massen durch politische Propaganda. Und dabei nimmt Delors bereits vor zehn Jahren eine Differenzierung vor, die in wenigen Worten unsere Gedanken des Slow Media Manifest vorwegnimmt: “… ich komme nicht umhin, die Wachsamkeit gegenüber diesen Kurzfrist-Medien zu beschwören.” Besonders der heikle, oft von der nationalen Mythisierung vergiftete Prozess der friedlichen Einigung Europas ist anfällig gegenüber verkürzter Darstellung und kaum auf die Schlagworte der Médias Courts zu reduzieren.

“Gedächtnis, Reflektion und nicht nur Information” machen nach Jacques Delors im Gegensatz dazu die Medias Lents aus, die Slow Media. Und entsprechend endet seine Laudatio auf den wahrhaft kosmopoliten Verleger Weidenfeld mit einem Zitat des UNESCO-Generalsekretärs Federico Mayor über das Fortbestehen des Buches:

“Das Buch ist das unersetzbare Transportmittel, ungleich weiter, als der Rundfunkt reicht es in in die Welt der Information und des Wissens, der Träume und der Erlösung, und es gibt nichts, das uns das Recht gibt, sein anstehendes Verschwinden vorherzusagen.

Und in was Nachhaltigkeit und Dauer von Medien betrifft, davon sprach der Vorsitzende des UNESCO-Aufsichtsrats Golan Ali Raadi anlässlich der Einweihung des Hauptquartiers in Paris mit den Worten Firdausis:

Die fest-gefügtesten Gebäude zerfallen unter dem Einfluss von Regen und der brennenden Sonne,
Aber weder Wind noch Regen wird dem Denkmal etwas anhaben, das meine Verse errichtet haben.

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Panorama

“Als wir noch in Mühldorf am Inn gewohnt haben,” erzählte die Mühldorferin mir bei Kaffee und Apfelkuchen, “sind wir Kinder regelmäßig ins Panorama nach Altötting gegangen. Damals ist die Erklärung des Panoramas noch nicht vom Band gekommen wie heute, sondern eine ältere Dame mit weißen Haaren und einem Dutt kam mit ihrem Schemel zu den wartenden Besuchern, stellte den Schemel gegenüber der Stadt Jerusalem auf, und begann zu erzählen.”

“Die Leidensgeschichte Christi kannten wir natürlich schon in und auswendig. Aber immer ganz am Ende, als sie sich mit ihrem Schemel zur Schädelhöhe gesetzt hatte, kam der Teil, für den sich die 15 Minuten Schweigen und Zuhören gelohnt haben: Mit ihrer dünnen Stimme kam sie zu den letzten drei Worten, die sie nicht mehr erzählte, sondern fast schon gesungen hat: ‘Und er verschiiiiiiied.’ Prustend sind wir aus dem Panorama herausgerannt, die schimpfende Führerin uns hinterher. Das war jedes Mal die 50 Pfennig Eintritt wert.”

Das Panorama ist ein gestorbenes Medium, das mittlerweile von der großen Kinoleinwand sowie ihren überdimensionierten oder gar dreidimensionalen Weiterentwicklungen nahezu vollständig abgelöst wurde. Das Altöttinger Panorama der Kreuzigung Christi ist das einzige historische Panorama, das in Deutschland erhalten ist. Aber schon 1902-1903, als der Bibelmaler Gebhard Fugel die riesige Leinwand bemalte, war es im Grunde genommen ein überkommenes Medium – nicht mehr zeitgemäß. Dasselbe gilt auch für das andere Panorama meiner Kindheit – das Panorama der Schlacht von Waterloo von Louis Dumoulin aus dem Jahr 1912.

Die dunkle Kuppel, in die man tritt, das langsame Erzähltempo einer bekannten Geschichte, das zu einem sehr fokussierten Zuhören zwingt und immer wieder die Blicke ins Rund, der schweifende Blick über das historisch-architektonisch-korrekte Jerusalem vor knapp zweitausend Jahren – das Panorama scheint überhaupt nicht in die Jetztzeit zu passen. Aber wenn man nach einer Viertelstunde dieses kühle Medienmausoleum verlässt und in die strahlende Sonne Altöttings tritt, ist man ebenso geblendet und entrückt wie nach einem 120minütigen Kinofilm.

Ein nach wie vor sehr wirkungsvolles Slow Medium.

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Philosophie Slow theory

Neues zum Grenzverlauf zwischen Papier + Pixel

“Wo verläuft die Grenze?”, fragte ich mich neulich auf diesem Blog und schaute mir die Front in der gesellschaftlichen Debatte zwischen Print und Online etwas näher an.  Für meinen Vortrag auf der Avantgarden-Tagung an der Universität in Lüttich habe ich das noch einmal genauer analysiert und mir überlegt, wer sich eigentlich genau wovon provoziert fühlt. Auf den ersten Blick scheint die (vermeintliche) digitale Avantgarde den Rest der Gesellschaft zu provozieren wie Pubertierende ihre Eltern, bei genauerer Betrachtung ist es aber komplexer und nicht auf eine Generationsfrage zu reduzieren. Was passiert da also?

Unter dem Titel “Avantgarden, Halbwertszeiten und eine hochgezogene Augenbraue” habe ich die Sprechfassung des Vortrags auf TEXT-RAUM online gestellt. Das hiesige Slow Media Manifest spielt als laufendes Experiment ebenfalls eine tragende Nebenrolle. Wer Interesse an dem Thema hat, möge dort weiterlesen und gerne Kommentare ergänzen.

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Nachhaltiges Internet

Papier ist geduldig und kann sogar einen Beitrag zur ökologischen Nachhaltigkeit leisten. Aber wie sieht es mit dem Internet aus? Welche Bedeutung hat das Internet für eine nachhaltige Zukunft? Slow Media bedeutet schließlich nicht nur, inspirierende und mit Sorgfalt produzierte Inhalte, sondern auch Medien, die nicht auf Kosten unserer Umwelt oder unserer Nachfahren produziert sind.

Auf Slideshare habe ich eine interessante Präsentation von Jorge Zapico (Homepage) gefunden, der in zehn Punkten beschreibt, wie seiner Meinung nach ein nachhaltiges Internet aussehen sollte:

  1. Die Hardware sollte möglichst umweltschonend und langlebig produziert bzw. durch Entwicklungen wie Cloud Computing deutlich reduziert werden.
  2. Das Internet sollte als Aufklärungsmedium (“ökologischer Fußabdruck”) und als Aufruf zu einer umweltverträglichen Lebensweise verwendet werden, z.B. in Gestalt von Social-Media-Plattformen, die Mikrokredite vermitteln.
  3. Internetangebote sollten global ausgerichtet sein und sich nicht immer nur an westliche Industriegesellschaften wenden.
  4. Virtuelle Gemeinschaften können insbesondere zu lokalem Handeln aufrufen.
  5. Für gute Inhalte kann gutes Geld verlangt werden (“If something is valuable, let’s pay for it”) um qualitativ hochwertige Inhalte von der Werbeabhängigkeit zu lösen.
  6. Designer sind aufgefordert, den “Technostress” im Internet zu reduzieren.
  7. Verlangsamung und Slow Media als Alternative zu der Informations- und Kontaktüberflutung im Web.
  8. Open Source und Creative Commons sollen als Fundament für den kreativen Austausch weiter gefördert werden. Das gilt nicht nur in Bezug auf Texte und Bilder, sondern auch für Bau- und Schaltpläne.
  9. Anwendungen und Plattformen meiden, die eine nicht-nachhaltige Lebensweise fördern.
  10. Die Entwicklung des nachhaltigen Internet ist keine Angelegenheit einzelner Organisationen, sondern alle Nutzer sind aufgefordert, sich daran zu beteiligen.

Besonders spannend wäre hier eine Gegenüberstellung unterschiedlicher Mediengattungen und ihres jeweiligen ökologischen Fußabdrucks. Welche Medien sind besonders umweltschonend und warum?

Hier die Präsentation:

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Papier und ökologische Nachhaltigkeit

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Traunsteiner Salzmeierzyklus “Nachhaltigkeit”, sagt der Mann in dem Video auf der Leinwand, “das ist für mich wenn man immer dasselbe macht. Das Gegenteil von flexibel”.
– Für mich einer der stärksten Momente auf dem Mediamundo Kongress zur nachhaltigen Medienproduktion, der dieser Tage in Berlin stattfand.

Für die einen ist der Begriff schon zum Marketing-Buzzword verkommen, während er für die meisten Menschen schlicht missverstanden wird. Gute Voraussetzungen, eine leere Hülse zu werden, ein toter Begriff.

Der Term Nachhaltigkeit stammt aus der Forstwirtschaft. Den Waldbauern ist bereits seit Jahrhunderten klar, dass man nur soviel abholzen darf, wie nachwachsen kann – da in dieser Industrie oft zwei oder mehr Generationen zwischen Saat und Ernte vergehen, ist es nicht verwunderlich, dass spätestens mit Aufkommen sehr holzintensiver Produkte am Ende des Mittelalters, wie den wachsenden Flotten immer größerer Segelschiffe oder den Salinen mit stark zunehmendem Bedarf an Brennstoff zum Verdampfen der Sole, die nachhaltige Wirtschaft explizit in die Ökonomie Eingang gefunden hatte. Erst im Zeitalter des Stahl und der Steinkohle – später des Erdöls – wurde das Konzept Nachhaltigkeit zunächst scheinbar überflüssig.

***

Von den etwa 390 Millionen Tonnen Papier, die jährlich produziert werden, verbrauchen Europa und die USA alleine knapp die Hälfte. Deutschland, mit einem pro-Kopf-Verbrauch von 256 kg pro Jahr (1950 waren es gerade einmal 40 kg), liegt dabei nur knapp hinter den USA und weit über dem europäischen Durchschnitt. Alleine der Anteil von 7,4 Millionen Tonnen Papier in Deutschland, die aus frisch geschlagenem Holz und nicht aus Altpapier hergestellt werden, entspricht etwa der Menge die Afrika als Ganzes verbraucht. Zunächst sind es die gewaltigen Waldflächen – 20% der globalen Holzernte werden für Papier verwendet; mehr als 50 Millionen Kubikmeter alleine in Deutschland. Daneben schlägt vor allem der Wasserverbrauch bei der Papierherstellung zu Buche. 7 Liter Wasser werden für ein Kilogramm Papier verbraucht, der größte Teil davon bleibt als giftiges Abwasser zurück.

Bis Druckerzeugnis nachhaltig produziert werden, scheint es also noch ein weiter Weg. Zwar werden Tageszeitungen heute vollständig aus Altpapier hergestellt, bei allen anderen Drucksachen ist der Altpapieranteil aber seit Jahren rückläufig. Es gilt drei Ziele zu verfolgen, sollen Printmedien ökologisch nachhaltig werden:

1) Vermeiden
Insbesondere bei Werbedrucksachen bleibt es unverständlich, wie selbst grundsätzlich wertvolle Marken ungeniert Spam-Mailings an nahezu ungefilterte Verteiler schicken. Auch die Katalogversender schaffen es so gut wie nie, sich auf Kunden einzustellen, die das Altpapier leid sind, das regelmäßig Briefkasten und Papiertonne verstopft. Von den Schweinebauchanzeigen und Beilegern, die die meisten Zeitungsleser ohnehin aus der Zeitung direkt in die Tonne schütteln (“de-bonning” – ja, das hat sogar einen Namen!). Dann das Ausdrucken von Mails und anderem Büro-Kram. Und schließlich auch ein Appell an die Drucker-Hersteller: solange es selbst technisch geschultes Personal nicht schafft, auf Anhieb zweiseitig Auszudrucken, bleibt die Rückseite eben ungenutzt.

2) Wiederverwerten
Recycling-Papier muss wieder Standard werden. Die öffentlichen Verwaltungen in Deutschland berufen oft sich auf EU-Recht und sehen in der Einschränkung auf bestimmte Papiersorten eine Wettbewerbsverzerrung. Auch bei öffentlichen Ausschreibungen wird keine Recycling-Quote vorgegeben. Dass dies nur ein Vorwand ist, belegen die Niederlande mit ihrer Selbstverpflichtung zu ökologischem Papier in der Verwaltung. Aber auch hier sind die Hardware-Hersteller gefragt: solange unklar bleibt, inwieweit Recycling-Papier zu höherem Verschleiß und häufigerer Wartung der Geräte führt, bleibt beim Einsatz von Recycling-Papier zumindest Unsicherheit.

3) Zertifizieren
Auch eine strikt ökologisch Ausgerichtete Druckerei ist auf Papier mit Frischfasern angewiesen. Auf Bäume als Rohstoff ist nicht zu verzichten. Aber genau hier liegt ja eine der Stärken von Papier im Vergleich etwa zu elektronischen Medien: es ist nachwachsender Rohstoff, ja in gewissem Umfang wird sogar CO2 in Papier dauerhaft gebunden. Es ist Zeit für eine Rückbesinnung auf die Waldwirtschaft der Zeit vor der industriellen Revolution – das Holz, dass geschlagen wird, nachwachsen lassen.

International transparente Testate wie die Zertifizierung der Forest Stewardship Council geben den Papierverarbeitern die Sicherheit, tatsächlich nachhaltig produzierten Rohstoff zu kaufen und nicht nur Greenwashing zu betreiben. Erfreulicher Weise wird das FSC-Zertifikat bereits in weiten Teilen der Industrie anerkannt und eingesetzt. Die Nachfrage nach sauberem Holz ist allerdings so stark, dass es kaum möglich ist, den Bedarf mit FSC-Zertifiziertem Wald zu decken. Damit es nicht reine Utopie bleibt, muss ein Zertifikat Kompromisse eingehen, was natürlich auch nicht unproblematisch ist. “Während wir für die einen schon als unglaubwürdig gelten, sind unsere Kriterien für viele andere gleichzeitig immernoch unbezahlbar.”, beschreibt Uwe Sayer von FSC Deutschland die Zwickmühle zwischen Glaubwürdigkeit und Praxis.

***

Papier ist ein wunderbares Medium – es hält seinen Inhalt unter einigermaßen guten Bedingungen über Jahrhunderte lesbar. Keine Abspielgeräte sind notwendig, keine Stromversorgung. Unter diesem Aspekt ist Papier an sich schon immer nachhaltig. Umso wichtiger ist es, jetzt den Schritt zu gehen, auch der Papiererzeugung eine langfristige Perspektive für die Zukunft zu geben!

“Nein, das ist eine Überraschung! Und eine herrliche Überraschung!” sagte das Papier. “Nun bin ich feiner als zuvor, und nun werde ich beschrieben werden! Was kann nicht alles geschrieben werden! Das ist doch ein außerordentliches Glück!” Es wurden die allerschönsten Geschichten darauf geschrieben, und die Leute hörten, was darauf stand, und es war richtig und gut, es machte die Menschen weit klüger und besser, als sie bisher waren, es war ein wahrer Segen, der dem Papier in den Worten gegeben war. Hans Christian Andersen, Der Flachs.

Weitere Beiträge zum Thema Druck:

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Akademische Weihen

Es sieht so aus, als würde das Thema “Slow Media” demnächst sogar den Sprung in die akademische Welt schaffen. Das Online-Journal “Transformations” wird die 20. Ausgabe unter das Motto “Slow Media” stellen. Der Call for Papers liest sich sehr spannend – vielleicht auch ein guter Anstoß für Diskussionen auf unserem Slow Media Camp im Juni?

Slow Media

Given the contemporary fascination with and, indeed, addiction to real-time media dispatch and commentary, what would it mean to speak of “slow media”? Dare we even think such a thing when everything around us screams of increased speed, increased bandwidth, and increased convergence? We are 24-7, we are always-on, we are connected; we are locatable, we are X/Y coordinated, we are plotted; we are status updated, we are tweet-fed, we are real-time media junkies and we don’t have time to slow down.

“Slow media” is surely inimical to the age of social media and 24-hour news channels, where we live immersed in a mediascape dedicated to reducing to nothing the temporal division between the occurrence of an “event” and its reportage. In such a scenario, “slow media” appears either heretical or retrogressive, a wanton disregarding of the patent necessity of instant information dissemination and rampant friending, or just another Luddite reaction-formation. Indeed, “slow media” as a term has already been spun-off from the “slow” movement more generally, and is used to describe the reduced media diet of people turning off the email, closing the facebook, and going outside for a sniff of the flowers.

But while “slow media” as a term may appear primarily to describe a mode of resistance, it also allows us to think about the speed of the media as such. Have our popular media always been increasing in speed? What is the end point of all of this, the apotheosis of real-time: are we, as Bernard Stiegler suggests, approaching the “time barrier”? And, what happens when we break it?

For this issue of Transformations, we invite papers that meditate on the speeds and slownesses of the contemporary moment. Papers could address, but would need not be limited to, any of the following themes:

  • real-time and the news media
  • social media and the status update
  • new media explorations of speed and slowness
  • artistic responses to speed and time
  • social media suicide: suicidemachine.org and seppukoo
  • the “slow” movement and resistance
  • histories of speed in the media
  • tweet-streams and data-feeds
  • bandwidth, access and connectivity

Abstracts (500 words): due 1st July 2010, with a view to submit articles by 1st October.

Abstracts to be forwarded to Grayson Cooke, at grayson.cooke@scu.edu.au

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Twitter

Twitter und das Geschenk der Meeresprinzessin

Vielleicht haben meine Mitautoren Sabria David und Jörg Blumtritt schon alles gesagt, was man über Twitter aus einer Slow-Media-Perspektive sagen kann. Twitter als der schnelle, flüchtige Schritt ins Augenblicksweb, das heute geschrieben und morgen, wenn nicht wenige Minuten später schon wieder vergessen ist (vielleicht in Zukunft nicht mehr ganz so vergessen, da die Library of Congress nun unsere Kurzmitteilungen speichern wird).

Twitter als zweckfreies Vogelorchester, dessen musikalischen Dauerstrom man eine Weile verfolgt, bevor man sich dann wieder anderen Dingen zuwendet. Oder Twitter als lebhafte, kreative gegenseitige Befruchtung mit Gedanken, ein Ort zwischen Volière und Salon – und mit Sicherheit auch ein Treffpunkt schräger Vögel, wenn man dieses Bild weiterspinnt.

Im Guardian hat sich vor kurzem die Autorin Margaret Atwood unter dem Titel “How I learned to love Twitter” zu diesem Thema geäußert. Sie vergleicht Twitter mit einer Märchenwelt, in die man wie das für die meist kindlichen Märchenhelden so üblich ist, mit Haut und Haar verschlungen wird. Eigentlich steckt alles schon in ihrem einleitenden Absatz:

A long time ago – less than a year ago in fact, but time goes all stretchy in the Twittersphere, just as it does in those folksongs in which the hero spends a night with the Queen of Faerie and then returns to find that a hundred years have passed and all his friends are dead … Where was I?

Twitter gehört für sie also in eine Kategorie mit Zauberschlössern oder Unterwasserpalästen, in denen man hundert Jahre schlafen kann, ohne einen Tag gealtert zu sein, oder in denen man einen einzigen Tag verbringen kann, während die Außenwelt um hunderte oder tausende Jahre gealtert ist. Kurz: Auf Twitter singen keine Vögel, sondern Siebenschläfer (AaTh 766).

So wie es dem ersten Zeitreisenden der Literaturgeschichte, Urashima Taro, gegangen ist, der nur wenige Tage mit der Meeresprinzessin Otohime verbracht hat und bei seiner Rückkehr ins Dorf der Eltern feststellen musste, dass dort in der Zwischenzeit 60 bis 300 Jahren (die Überlieferungen der Geschichte sind sich hier nicht einig) vergangen waren, und seine Eltern und Schwester nur noch ferne Erinnerungen der Dorfbewohner.

Als er tieftraurig das geheimnisvolle Geschenk der Meeresprinzessin, ein lackiertes Kästchen, öffnete, drehte sich die Zeit auch für ihn weiter. Binnen Sekunden alterte er, seine Haare verfärbten sich und wurden weiß – der jugendliche Fischerssohn verwandelte sich in einen gebeugten Greis.

Mit Atwood könnte man also fragen: Was passiert mit uns, wenn wir aus unserem Rip-van-Winkleschen Twitterschlaf erwachen? Werden wir plötzlich feststellen, dass unsere Haare ergraut sind? Aber das ist ja nur eine der märchenhaften Bilder, mit denen sie ihre Faszination mit dem Medium beschreibt. Eine weitere Deutung, die zu ganz anderen Assoziationen führen könnte, ist der Vergleich ihrer Follower mit 33.000 altklugen Enkelkindern …

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Slow theory

Wo verläuft die Grenze?

Der Netzwerk-Forscher Peter Kruse hat auf der re:publica 2010 einen Vortrag unter dem Titel “What’s Next?” gehalten. Die Fülle frischer Daten und Erkenntnisse mochte kaum in die gesetzten 30 min passen, weshalb der Vortrag zeitweise etwas atemlos geriet. Peter Kruse stellte die Auswertung von Wertemustern von knapp 200 “heavy usern”* des Internets vor. Erstes Ergebnis: Innerhalb der Internetnutzer gibt es eine starke Zweiteilung in den Werte- und Bewertungsmustern, die ein Verstehen zwischen beiden Hemisphären geradezu unmöglich macht.

Diese Ergebnisse bestätigen meine These über den Verlauf der Grenze zwischen den um das Internet streitenden Lagern. Peter Kruse nennt es einen “Disput pro und contra Internet”, aber ist es das wirklich? Ein Kampf zwischen Internetbefürwortern und Gegnern des Internet? Nein. Das Internet hat den Alltag durchdrungen, wirklich offline sind nur noch wenige (und diese, interessanterweise, fühlen sich auch nicht weiter vom digitalen Wandel bedroht). Auch Frank Schirrmacher lässt keine Gelegenheit aus, zu betonen, dass er kein Internetgegner ist.

Nein. Bei genauerer Betrachtung verläuft die Grenzlinie tatsächlich innerhalb der Internetnutzer, und zwar zwischen denjenigen, die das Internet rein rezipierend wie einen Fernseher oder wie ein Telefonbuch benutzen (bzw. denjenigen, es sinnvoll finden, wenn Nutzer es dabei belassen) – und jenen, die das Internet auch zur Produktion nutzen und dort selbst Spuren hinterlassen. Das würde bedeuten, dass nicht das Internet selbst die eigentliche Provokation ist, sondern das durch das Internet ermöglichte Zusammenkommen von Rezeption und Produktion. Etwas in das Internet reinzuschreiben und auch noch zu glauben, das würde andere interessieren (“Wer will denn so was wissen?!”), das ist demzufolge der eigentliche Skandal, eine Anmaßung.

Wer aber selbst nie etwas ins Internet beitragen würde und auch nicht daran interessiert ist, was andere dort einbringen, der empfindet das Netz nicht als eigenen Schaffensraum – kann also auch nichts Inspirierendes daran finden. Ihnen fehlt damit ein wesenlicher positiver Verstärker, der die Netzaffinität der Gegenseite bestärkt: Sie empfindet das Netz als Resonanz- und Schaffensraum, in welchem sie Gespräche führen kann.

Der Aspekt der Inspiration spielt auch in unserem Slow Media Ansatz eine zentrale Rolle – hier geht es um das Motiviertwerden zu eigener Handlung durch die Rezeption von etwas, das einen berührt. Die neuen Technologien ermöglichen die Durchdringung von Rezeption und Produktion in besonderem Maße, sie lässt sich aber hervorragend auch auf alle anderen Mediendarreichungsformen zurückbeziehen, auf die Salonkultur, auf Zeitschriften, Bücher und auf vieles mehr.

Was ist also zu tun? Ich denke folgendes: Die Grenzverläufe genauer lokalisieren, die Hemisphären identifizieren und vor allem: Das verbindende Corpus callosum orten, dass irgendwo zwischen diesen Hemisphären liegen muss und darauf wartet, ordentlich gefüttert zu werden.

+ + + +

* Ich habe bisher keine genauere Definition des Kriteriums “heavy using” finden können: Es handeln sich um Menschen, “die regelmäßig im Internet aktiv sind”.