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Slow theory Termine

Slow Media Camp 2010

Amor Addit. Emblem mit geflügelter Schildkröte. Slow Media Camp 2010
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Am 9. Juni 2010 veranstalten wir das erste Slow Media Camp (Hashtag: #slow10). Aus der Beschreibung der Veranstaltung:

New-Media-Hype oder Medienverweigerung? Mit Slow Media versuchen wir einen dritten Weg beschreiten. In den Sessions auf diesem Themencamp wollen wir Beispiele von Slow Media vorstellen, diskutieren, wie sich Slow Media in der Zukunft entwickeln und uns ganz besonders der Frage widmen, ob wertvolle Kommunikation nur aus Idealismus und persönlichem Enthusiasmus entstehen kann oder ob sich nicht doch auch gutes Geld mit guten Medien verdienen lässt.

Ort:

Hewlett-Packard GmbH
Schickardstrasse 32 (Geb. Businesspark)
D-71034 Böblingen

Anfahrtsbeschreibung

Zeit:

Mittwoch, 9. Juni 2010 11.00 Uhr bis 17.00 Uhr

Ab 17.00 grillen mit slowem und nachhaltigen Essen.

Anmeldung und Kontakt:

Email: slow10 [at] slow-media.net

Anmeldung und Vorschläge für Sessions und Themen in den Kommentaren zu diesem Beitrag oder über Mixxt: slowmediacamp.mixxt.de

Das Slow Media Camp findet in Zusammenarbeit mit dem Forum Wertvolle Kommunikation statt und wird unterstützt von der Hewlett-Packard GmbH.

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Alltag Geschichte Slow theory

Unser re:publica-Panel und ein Telegramm

Vom 14. bis zum 16. April war die diesjährige re:publica. Am Donnerstag Abend hatten wir im kleinen Saal unser Slowmedia-Panel, das so schön und auch so kontrovers war, dass wir es um fast eine Stunde überzogen haben.  Das war wirklich sehr nett, und von oben aus sah es so aus:

Unsere Podiumsdiskussion ging gleich zügig los, Dank unserer großartigen Moderatorin Tina Pickhardt (Twitterern auch als @PickiHH bekannt). Ein Auftakt, um von unserer Seite die Diskussion anzuschieben war also gar nicht nötig. Das ist schön, weil es für gute Gespräche sowieso keine Skripte gibt.

Wer am Donnerstag dabei war, dem wird vielleicht aufgefallen sein, dass wir einen Rotwein mit auf dem Podium hatten. Nein, wir wollten uns damit nicht als rotweinschlürfende Bohemiens inszenieren (well, at least not only) – wir hatten in der Tat zwei rechtschaffene Gründe für diesen Wein:

Zum einen schließen wir uns damit Tyler Brûlés unwiderlegbarer Aussage zu social media an:

There is a kind of social media that really works for business and play. It’s called having a glass of wine.

Zum anderen hatte der Wein einen passenden Namen: Télégramme.

Das Telegramm ist interessant, weil es ein klassisches von der Zeit überholtes Medium ist. Eigentlich.

Wir erinnern uns: Ein Telegramm – “+ + ankomme ++ stop ++ freitag, den 13. ++ stop ++” – schickte man früher, wenn es ganz schnell gehen musste und keine Zeit war, auf den Briefweg zu warten. Das Telegramm war das schnellste aller Medien. Nun gibt es heute hinreichend andere Arten, den Brief zu überholen. Welche Rolle sollte also dieses Medium heute spielen, wo die Informationsübermittlung in Echtzeit jedem von fast überall und fast kostenfrei gelingt? Gibt es überhaupt noch Telegramme?

Ja, es gibt das Telegramm noch. Ich entdeckte es neulich im offziellen Produktangebot der Deutschen Post. Dort heißt es:

Überraschen Sie Menschen zu den unterschiedlichsten Anlässen mit etwas Besonderem: Ein Telegramm drückt Ihre Wünsche und Grüße nicht nur auf besondere Weise aus, es wird auch persönlich überbracht.

Sieh an, dachte ich. Da ist das Telegramm ja wieder. Ich weiß nicht, ob das funktioniert oder ob das heutige Telegramm bei der Post ein Ladenhüter ist. Ich finde aber interessant, was da passiert: Das Medieninstrument selbst bleibt ja gleich, aber die Perspektive, aus der wir draufschauen, ist eine andere. Das Telegramm ist vom schnellsten Medium zum persönlichsten Medium geworden (wenn wir mal von dem gemeinsamen Glas Wein absehen). Der ursprüngliche Produktvorteil der Schnelligkeit ist von der technischen Entwicklung überholt worden. Die Eigenschaft jedoch, die früher völlig selbstverständlich und nichts Besonderes war – es wird persönlich überbracht – ist jetzt zum Unterscheidungsmerkmal geworden: Ein Vorteil in einer Gesellschaft, die zwar viel schneller aber auch unpersönlicher geworden ist.

Was wir daraus lernen, ist etwas Schönes: Man kann auch etwas Neues schaffen, indem man neu auf alte Dinge schaut.

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Musik Videos

I Need That Record! Vom Sterben oder Überleben der Plattenläden

Am 17. April ist “Record Store Day“. Ein Tag, an dem weltweit Schallplattenläden (“real, live, physical, indie record stores”) gemeinsam mit Musikern diese sehr slowe Form der Musikdistribution feiern. In Zeiten von Amazon, AppleStore und MP3 sind diese Läden selbst zu einer bedrohten oder aussterbenden Spezies geworden und die sozialen Funktionen, die sie einst erfüllt haben (wie zum Beispiel musikalische Sozialisation, Beratung, Treffpunkt, Zufallsfunde oder Kulturförderung), werden von anderen Institutionen übernommen.

Insofern kann man den Recordstore Day fast als so etwas wie ein Artenschutzprogramm sehen. Aber es ist ein Artenschutzprogramm, dass nicht als Wehklage über die untergehende Welt der gut sortierten kleinen Geschäfte zu verstehen ist (“Who’s gonna do that now?”), sondern als lebensfrohes Zelebrieren einer Subkultur, für die David Weinbergers These “Everything is Miscellaneous” zwar längst zur Wirklichkeit geworden ist (z.B. der unbegrenzte Platz und die dyamische Ordnung in den digitalen Warenhäusern), aber deshalb noch lange nicht akzeptiert werden muss.

Viel von dieser Freude, aber auch dem Widerstandsgeist vermittelt die Oral-History-Dokumentation von Brendan Toller, “I Need That Record!“, den es ab sofort für eine Woche in ganzer Länge auf Pitchfork zu sehen gibt. Zu Wort kommen u.a. Noam Chomsky, Thurston Moore, Mike Watt und Chris Frantz.

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Zeitschriften

Make: Magazine

Was für eine Zeitschrift! Ich muss gestehen, dass ich trotz regelmäßige Boingboing-Lektüre erst relativ spät auf Make: (herausgegeben von Mark Frauenfelder) gestoßen bin, aber bei dem Thema DIY3DManufacturing im aktuellen Heft bin ich aufgesprungen. Beim Durchlesen einiger Artikel im Online-Archiv habe ich dann sofort gespürt, dass ich das schon vor fünf Jahren hätte tun müssen. Für mich gibt es wenige Magazine, die so gut die Tugenden von Slow Media veranschaulichen wie dieses Heft.

Das Thema des Heftes: Basteln in allen Varianten. Digital oder analog. Alleine im Keller oder in der Gruppe in der Schule. Nützliches oder Spinnereien. Für Kleinkinder oder Großeltern. Schnelle Experimente oder lebenslange Projekte. Die Zeitschrift richtet sich also an die v.a. in den USA anscheinend sehr ausgeprägte DIY-Szene. Aber das Thema ist in allerhöchster Qualität umgesetzt: Das Layout, der Titel, die Papierqualität, die Farben – alles das fühlt sich sehr gut an und machen das Heft zu einer angenehmen Offline-Erfahrung.

Aber das Heft ist nur der Anfang. Online gibt es im Archiv (für Abonnenten) alle Beiträge der Hefte und (für alle) einige Heftbeiträge sowie im Blog kontinuierlich neue Bauanleitungen, Ergänzungen zu den gedruckten Beiträgen. Fast jeder Beitrag im Heft verweist auf Ressourcen im Web, detaillierte Baupläne und die Webprojekte der Gastautoren. Wer zum Beispiel die ESP Lampe von John Iovine, die auf der Basis der Registrierung radioaktiver Teilchen in echten Zufallszahlenrhythmen aufleuchtet und zum Beispiel benutzt werden kann, um außersinnliche Wahrnehmungsfähigkeiten zu testen, nachbauen möchte, könnte dies theoretisch auch mit den frei verfügbaren Informationen auf der Webseite tun. Naja, vielleicht wenn sie oder er sehr geübt ist.

Was mich durchweg begeistert, sind die Autoren, viele darunter auch Gastautoren, deren Begeisterung für ihre Projekte in jedem Satz zu spüren ist. Zum Beispiel in einem der schönsten Projekte des letzten Heftes: “The Drill Rod“. Russ Byrer, Pensionär und Bootsbesitzer in Florida, suchte nach einem leicht verstaubaren Gefährt für die abendlichen Bierholfahrten im Yachthafen. Er fand ein kleines Kindermotorrad, das er mithilfe eines Akkuschraubers als Antriebsquelle aufmotorisierte. Sein Text ist allerbeste Technounterhaltung mit einem feinen Gespür für die Ironie der Leser. Am Schluss steht eine Episode (die leider nur mit dem Foto richtig gut verständlich ist), in der er beschreibt, wie er nach dem Heckenschneiden auf seinem “Drill Rod” die heruntergefallenen Äste einsammelt:

I decided to ride the Drill Rod. On the way back home, I passed a city maintenance truck. The guy inside just stared and shook his head as if to say, “You know that people can see you, don’t you?”

Und am Wochenende, wenn ich von der re:publica zurück bin, mache ich mich endlich an die kindersicheren Bambusschwerter. Versprochen!


Auch andere Zeitschriften haben ihre slowen Seiten:
Spektrum der Wissenschaft
Die Brand Eins
Wired Magazine
Kunstforum International: 200 Ausgaben
Widerspruch – Münchner Zeitschrift für Philosophie

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Philosophie Slow theory

Das Ende der Geschichte – für Kreativ-Berufe.

Félicien Rops: Pornocrates[Read Post in English]

Eternal must that progress be
Which Nature through futurity
Decrees the human soul;
Capacious still, it still improves
As through the abyss of time it moves,
Or endless ages roll

Its knowledge grows by every change;
Through science vast we see it range
That none may here acquire;
The pause of death must come between
And Nature gives another scene
More brilliant, to admire.

Philip Freneau

Heute Morgen habe ich mir aus der IMSLP ein Lied von Schubert ausgedruckt.

Bevor ich daran gedacht hatte, auch nur einen Ton daraus am Klavier zu spielen, habe ich mir in Youtube nacheinander sieben verschiedene Versionen dieses Liedes angehört – aus allen Jahrzehnten von 1930 bis heute. Warum? Weil ich daraus meine eigene Interpretation des Stückes zusammenkomplieren wollte.

Einmal davon abgesehen, dass ich die Notenblätter einfach in genau dem Moment aus dem Netz gezogen habe, in dem mir in den Sinn kam, das Stück zu spielen, greife ich also jetzt in meiner Interpretation nicht nur auf meine eigenen Lehrer zurück oder auf den Stil meiner Zeitgenossen, den ich übernehmen oder mich davon abgrenzen kann, sondern es stehen mir zahllose Varianten aus 100 Jahren Musikaufzeichnung zur Verfügung!

***
Kunst schien stets von Fortschritt geprägt, weil die Künstler immer einen Lehrer hatten, einer Schule angehörten, deren Stil und Theorie für sie das Fundament ihres eigenen Schaffens wurde, Generation nach Generation. Gerade aus der Abgrenzung zum Stil des Lehrers, aus dem Wunsch, etwas besser machen zu wollen, entstand diese Schrittweise Entwicklung der Kunst, die in der Rückschau nicht selten eine Weiterentwicklung gewesen zu sein schien.

Auch wenn die Maler sich in der Regel in den landesfürstlichen Kunstsammlungen auch ein Bild von der Kunst vergangener Epochen machen konnten, blieben diese Werke doch anachronistisch, Relikte aus einer Vergangenheit, zu der nur noch indirekt ein Bezug herzustellen war.

Noch drastischer war die Situation in der Musik – vor Erfindung der Schallplatte war die Interpretation der vergangenen Zeiten verloren, greifbar blieb nur, was live gehört werden konnte.

Mein Musik-Beispiel oben soll illustrieren, wie fundamental sich die Bedingungen der Stilbildung geändert haben, dadurch, dass schier das gesamte bisherige Schaffen der Menschheit wohlgeordnet und durch Suchmaschinen bestens indiziert für jedermann zur Verfügung steht.

***
Auf der diesjährigen Transmediale hat Bruce Sterling einen bemerkenswerten Vortrag gehalten: “Atemporality for Creative Artists” – Das Ende der Geschichte – für Kreativ-Berufe, sinngemäß übersetzt.

Stirling nimmt das Wort Atemporality, zeitlich Autonom, als einen Begriff für die Verfügbarkeit allen Wissens und aller Werke unabhängig von ihrer Entstehungszeit. Ein Phänomen, das – wie oben geschildert – unsere Zeit charakterisiert.

Den Punkt, an dem die Menschen geistig vollkommen Unabhängig von Zeit und Raum werden, hat der französische Anthropologe und Philosoph Pierre Teilhard de Chardin SJ den Omega Punkt genannt. Angelehnt an die biblische Eschatologie “Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.” (Apo 22,13) markiert dieser Punkt der menschlichen Evolution das Ende der Geschichte und den Eintritt der Menschheit in eine Zeit in der die Vorstellung von Fortschritt überflüssig geworden ist.

Die Idee, dass der Fortschritt irgendwann zu Ende geht, ist vermutlich so alt, wie der Begriff Fortschritt selbst. Das Konzept Fort=Schritt, dass also der Weltgeist sich langsam und schrittweise zur Vollendung bewegt (wie in Frenaus Gedicht oben), ist Grundüberzeugung vieler Religionen und Ideologien. Auflösung im Nirvana wie im Buddhismus, Eintritt in die klassenlose Gesellschaft wie im dialektischen Materialismus oder Endsieg des Marktes wie bei Fukuyama – am Ende steht ein Zustand der Bewegungslosigkeit, das Ende der Räusche und Geräusche.

***
Ohne gleich zu sinnieren, wie eine Rückkehr des Messias oder das Ende des Klassenkampfes uns bevorstehen könnte – stellt Bruce Stirling ganz pragmatisch die Frage, welche Wirkung diese Unabhängigkeit des Künstlers von Zeit und Raum nach sich zieht.

Die Welt wird – anders als Fukuyama oder Marx uns hoffen machen – keineswegs einfacher: “The situation now is one of growing disorder. A failed state, a potentially failed globe, a collapsed WTO, a collapsed Copenhagen, financial collapses, lifeboat economics.” “Aber”, tröstet er uns, “ich glaube nicht, dass wir deshalb in Hexenwahn verfallen müssen. Ich denke es könnte mehr damit verglichen werden, in eine neue Stadt zu ziehen”.

Und damit uns die Panik vor dem Neuen nicht blind macht, empfiehlt uns Bruce Stirling, uns einen distanzierten Standpunkt zu suchen. Wenn wir nach der Avantgarde von heute suchen, sollten wir dies aus der Perspektive von zwanzig Jahren später tun, “entblättert von allem Chrom und allen Mirakeln: lassen Sie sich nicht länger vom Eindruck technischer Neuartigkeit blenden. Gehen Sie nicht mit. Nehmen Sie an, dass alles schon vergangen wäre und entwickeln Sie [ihre Perspektive] von diesem Standpunkt aus.” – If it works, it’s obsolete.

Der köstliche-Leichnam-trinkt-den-neuen-Wein

Wie macht man Kunst in einer post-historischen Zeit, wenn also ein Fortschritt so gut wie unmöglich scheint? Kunst nach dem Ende der Kunst? Bruce Stirling öffnet in Ansätzen zwei Wege, in welchen – nicht alternativ sondern komplementär – sich Kunst heute entwickeln kann: Favela Chic und Gothic High-Tech. Die dekadente Ruine einer Burg, dem Zerfall geweiht, steht hocherhoben über dem Wirrwar eines Slums, kein angenehmer Ort, aber immerhin noch lebendig.

Gothic High-Tech lebt vom Glanz der Vergangenheit, von der Sehnsucht nach einer alternativen Gegenwart.

Punk ist die naheliegende Reaktion auf unsere Epoche ohne Zukunftsperspektive: “You have taken my future now I Kill somebody, kill myself, throw bricks to policemen” – eine primitive Anti-Haltung wäre heute allerdings genauso sinnlos, wie die anderen ideologischen Posen des 20. Jahrhunderts. Aber Punk bedeutet auch, sich etwa seine Kleider und Accessoires selber zu fertigen – die Bricolage – die Bastelei, wie man das wohl am besten übersetzt, die Verweigerung von Massenkultur und Pop durch eigene Kreativität.

Das Frankenstein Mashup ist die logische Folge, der Eklektizismus aus zusammengeklebten Fundstücken wie in der DJ-Musik und der postmodernen Architektur. Und aus den verlorenen Utopien der Vergangenheit werden schließlich sehnsüchtige Lost Futures collagiert: where is my space age? Steampunk, Atompunk, Dieselpunk.

Favela Chic liefert keine große Inszenierung mehr, keine geniale Schöpfung eines Jahrhundert-Künstlers, sondern lebt vom Gewimmel, welches sich im Netz gelegentlich locker organisiert findet.

Daraus entwickeln sich zwei ganz neue Ansätze. Generative Art wird durch Software geschaffen, ist streng genommen nur noch indirekt Kunst, weil die sichtbare oder hörbare Erscheinung technisches Produkt eines Algorithmus ist. Collaborative Art macht sich die Möglichkeit zum gemeinsamen Schaffen im Netz zu Nutze, nur locker organisiert als Wiki-Art, als Art-Mob.

Diese Ansätze zur Kunst nach dem Ende des Fortschritts sind genauso auf andere Bereiche der Kultur zu übertragen: auf Publizistik, Filmproduktion, Küche, aber sogar die Gesetzgebung, die kollaborativ ausgehandelt werden könnte.

Thus decomposed, or recombined,
To slow perfection moves the mind
And may at last attain
A nearer rank with that first cause
Which distant, though it ever draws,
Unequalled must remain.

Weiterlesen: Die rote Liste der bedrohten Medien

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Archäologie Slow theory Webseiten

Rote Liste der bedrohten Medien

maxell ud1

Medien entstehen, Medien vergehen. Die junge Wissenschaft der Medienarchäologie hat sich vorgenommen, diesen 5000jährigen Entwicklungsstrom von den ersten geritzten Steinen bis Chatroulette genauer zu untersuchen. Wolfgang Riepl hatte 1913 mit dem folgenden Satz eine Art “Naturgesetz” der Medienevolution formuliert:

[D]ie einfachsten Mittel, Formen und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert und für brauchbar befunden worden sind, auch von den vollkommensten und höchst entwickelten niemals wieder gänzlich und dauerhaft verdrängt und außer Gebrauch gesetzt werden können, sondern sich neben diesen erhalten, nur daß sie genötigt werden, andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen.

Je weiter man jedoch in die Vergangenheit blickt, desto häufiger stößt man auf Medienartefakte, ja ganzen Medienkomplexe, die nicht nur in der Gegenwart nicht mehr in Gebrauch sind, sondern für die nicht einmal ihr ursprünglicher Sinn und Zweck rekonstruiert werden kann. Außer eben, dass es sich um Medien handelt, die menschliche Sinne und Denkprozesse einmal auf irgendeine Weise erweitert haben. Im günstigsten Fall geraten Medien nicht vollkommen in Vergessenheit, sondern werden von kleinen Subkulturen als sinn- oder identitätsstiftende Praktiken adoptiert. Die besten Beispiele dafür sind Phänomene wie die Steampunk– oder Retrofuturismusbewegung.

Was z.B. in der Bronzezeit einmal ein Rechenhilfsmittel gewesen sein könnte, wird heute als Talisman verehrt. Oder Steine, in die möglicherweise die Geschichte eines jungsteinzeitlichen Stammes eingeschrieben wurde oder die für die Zeitrechnung verwendet wurden, werden heute als Kraftorte von esoterischen Reisegruppen besucht. Meine Ergänzung zur Rieplschen These wäre:

Je länger der Verlust der ursprünglichen Aufgaben und Verwertungsgebiete her ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass diese Mittel, Formen und Methoden von esoterischen Subkulturen adaptiert werden.

Klar ist, es gibt unterschiedliche Grade der Vergessenheit und des Verschwindens von medialen Praktiken. Daher liegt es nahe, für weit verbreitete, bedrohte, ausgestorbene und wiederauferstandene Medien eine Art “Rote Liste der bedrohten Medien” anzulegen analog zu entsprechenden Listen für das Tier- und Pflanzenreich:

0: ausgestorben oder verschollen
1: vom Aussterben bedroht
2: stark gefährdet
3: gefährdet
R: extrem selten
G: Gefährdung anzunehmen
D: Daten mangelhaft
V: Vorwarnliste (noch ungefährdet, verschiedene Faktoren könnten eine Gefährdung in den nächsten zehn Jahren herbeiführen)

Eine ähnliche Idee hat Bruce Sterling gemeinsam mit Richard Kadrey 1995 zur Formulierung des “Dead Media Manifestos” gebracht, das zunächst die Rieplsche These im Großen und Ganzen akzeptiert, dann aber relativiert:

[S]ome media do, in fact, perish. Such as: the phenakistoscope. The teleharmonium. The Edison wax cylinder. The stereopticon. The Panorama. Early 20th century electric searchlight spectacles. Morton Heilig’s early virtual reality. Telefon Hirmondo. The various species of magic lantern. The pneumatic transfer tubes that once riddled the underground of Chicago.

Leider ist die Seite des “Dead Media Projects” zur Zeit nicht mehr erreichbar – also bezeichnenderweise selbst zu einem toten Medium geworden -, aber über Seiten wie archive.org sind die zahlreichen Notizen zu ausgestorbenen Medien noch erreichbar, darunter zum Beispiel die militärische Nutzung von Brieftauben, der Volksempfänger, die Sonnentelegraphie (Heliographie), ausgestorbene Techniken von TV-Fernbedienungen wie z.B. die Ultraschallfernbedienung, das PALplus-Fernsehformat, Dioramen und Panoramen oder die Camera Obscura.

Nicht nur ist das Dead Media Project und die vielen dort versammelten Notizen (mit der Aufforderung, daraus etwas zu machen, daran weiterzuarbeiten) ein großartiges Beispiel einer slowen Internetseite, die inspiriert und zum Austausch und Weiterdenken anregt. Sondern die Medienarchäologie ist ein sinnvoller wissenschaftlicher Unterbau für unser Slow Media Projekt, da es wie von selbst zu den Fragen führt:

  • Wie bedroht sind die langsamen Medien derzeit?
  • Welche Slow Media sind bereits vom Aussterben bedroht?
  • Wie sieht medialer Artenschutz aus?
  • Was können wir tun, um inspirierende und faszinierende Mediengattungen zu erhalten?

Einen Besuch lohnt auch die Webseite Radiomuseum, auf der es ziele Informationen über ausgestorbene Rundfunktechnologien gibt. Oder diese Seite mit Abbildungen gängiger Audiokassetten.

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Blogs Kunst Religion Slow theory Sprache

Von Steinen lernen – Medienfasten in Südtirol

Medienfasten funktioniert. Die letzten 10 Tage auf einem abgelegenen Bergbauernhof in Südtirol waren für mich auch 10 Tage sehr wertvolles Medienfasten. Das heißt also: Brotlaibidole, Figurenmenhire, Römerstraßen, Votivtafeln, Fresken und autochthone Dialekte wie das Sarnerische und das Ladinische statt Fernsehen, Internet und Telefon. Also alles Paradebeispiele für Slow Media, wenn nicht schon No Media, also Medien, deren Übermittlungsfunktion innerhalb mehrerer Tausend Jahre nur noch auf einen kleinen Kreis von Personen beschränkt ist, wenn sie nicht bereits erloschen ist. Medienskelette, die von uns nicht mehr sinnvoll zusammengefügt und gelesen werden können.

Südtirol

Je mehr man sich mit solchen vom Aussterben bedrohten oder gar ausgestorbenen Medien befasst, desto größer wird der Appetit auf lebendige Medien. Das Make-Magazin, die Wired-Titelgeschichte über das iPad in der Post oder die jüngsten Blogposts von Bruce Sterling

Eines der größten Missverständnisse des Medienfastens ist der verbreitete Irrglaube, es gehe dabei um Leere und Verzicht. Stattdessen geht es um Fülle und Genuss. Beziehungsweise die dialektische Beziehung zwischen diesen beiden Polen. Wahrscheinlich kann das eine nicht ohne das andere haben. Ebenso ist es mit Slow Media und Fast Media. Genausowenig wie das Fasten als Versuch missverstanden werden darf, die ausgewogene Nahrungsaufnahme zu bekämpfen oder gar aufzuheben, zielen Slow Media auf das Ende der schnellen Massenmedien. Für mich sind Slow Media vielmehr der Versuch, die eigene Mediennutzung zu schärfen und in einen wertvolleren Teil des eigenen Alltags zu verwandeln. In Anlehnung an Alexander Kluge: Mit Slow Media gewinnt man Zeit, statt dass man sie verliert.

Figurenmenhir von Latsch

Dem Mediengebrauch haftete immer etwas zauberhaftes an – das wird besonders im Blick auf archaische Formen wie zum Beispiel dem Latscher Figurenmenhir (s.o.) deutlich, in den die jungsteinzeitlichen Vorfahren der Blogger in einer heute nicht mehr entschlüsselbaren Zeichensprache eine Botschaft eingeschrieben haben: Äxte, Kreissymbole, Strichmännchen und Tiere. Die Aura ist kann hier mit den Fingern berührt werden: Ein Artefakt aus einer fremden, vergangenen und doch räumlich nahen Kultur – ganz im Sinne Walter Benjamis einmalig und dauerhaft. Eine Bedeutung von Slow Media, die sich hiervon ableiten lässt: Medien darauf hin zu untersuchen, inwiefern sie einen derartigen Zauber – ob man ihn Aura, Inspiration oder Nachhaltigkeit nennt – vermitteln können.

Semantischer Nachtrag: Wenn man im Internet nach steinzeitlichen Medien sucht, stößt man sofort auf den Begriff “Kraftort” (wie passend, dass es hierzu kein Lemma in der Wikipedia gibt), unter dem solche Steine und ihre Fundorte heute einsortiert werden (oft flankiert von skurrilen GoogleAds zum Thema “Sind Sie ein Kelte? Finden Sie heraus, ob Sie keltische Vorfahren haben”). Dabei kommen auch Medien immer wieder vor – aber gemeint sind nicht die abstrakten Vermittler oder Extensions of Man, sondern Extensions of Ghosts, die Botschaften aus dem Jenseits übermitteln. Ich frage mich, wie lange es dauert, dass ein Science-Fiction-Roman seinen Protagonisten zukünftige “Kraftorte” besuchen lässt, in der Hultschiner Straße oder in der ZDF-Straße, deren genaue Bedeutung nicht mehr genau entschlüsselt werden kann. Oder wurde dieser Roman schon geschrieben?

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Slow theory

SLOW MEDIA,
FAST MEDIA,
NO MEDIA?

auf der re:publica

GIBT ES EINEN WEG ZWISCHEN ALWAYS-ON UND MEDIENZÖLIBAT?
Wer mit uns auf der re:publica 2010 diskutieren möchte, sei herzlich eingeladen:

Wann: Donnerstag, 15. April 2010, 19:00 Uhr

Location: Kalkscheune Kleiner Saal
Dauer: 60 Minuten
Mit: Benedikt Köhler,
Martina Pickhardt,
Sabria David,
Jörg Blumtritt

http://re-publica.de