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Die Moderne ist unsere Antike

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(1) “A Vernacular is like a crumbled streetversion of a classic language. Like Italian is a vernacular language and Latin is a classic language. What does acutal vernacular online video sound like, that’s native to the Internet and speaks vernacular Internet ease? I’ll just read you the categories of an unnamed [Online Video Network] here: ‘LOL, OMG, WTF, Cute, Games, Geeky and Trashy’. Those are actual terms, coined on the Internet. Now, you could think, to be classy, you would like to expunge that vernacular, and instead of them saying ‘LOL’ they should say something like ‘commedy’, instead of ‘OMG’ something like ‘experimental’. – Allright. That’s not how it works. It is a little hard to understand this, but the actual path to classiness is to upgrade the vernacular. You have to get through LOL, OMG, WTF, Cute, Games, Geeky and Trashy and somehow come out the other side. You have to make network culture classy on its own terms. You have to ennoble the vernacular – not by teaching people Latin, but by writing Dante’s Inferno!”
Bruce Sterling, Closing Keynote: Vernacular Video from Vimeo Festival. (Mein Transkript)

(2) klassisch zu lat. classis “militärisches Aufgebot; Abteilung; Klasse” stellt sich das Adjektiv classicus “die ersten Bürger-Klasse betreffend …
Duden, “Das Herkunftswörterbuch”

(3) “Die Moderne ist unsere Antike” – unsere Klassik
Mantra von Roger M. Buergel als Kurator der Documenta 12

“Der Gedanke, heute eine internationale Ausstellung der Kunst des 20. Jahrhunderts in Deutschland zu veranstalten, liegt so nahe, daß er keine nähere Begründung zu erfordern scheint.”, leitet Werner Haftmann den Katalog zur ersten Dokumenta 1955 in Kassel ein. Offenbar war den Machern dieser ersten Kunst-Großschau ganz genau klar, was die Kunst ihres Jahrhunderts ausmacht. Nach dem Rundgang über die Documenta 12 war ich mir dagegen darüber klar, dass dies die letzte Dokumenta gewesen sein würde, die ich besuchte. Hatten die Kuratoren der drei Vorgänger-Ausstellungen wohl noch versucht, mit der Documena ein Bild der Kunst von heute zu zeichnen – und waren jeder auf ihre Art gescheitert, so hatte die Ausstellung 2007 aufgegeben, etwas wie “klassische Kunst unserer Zeit” zu definieren. Was zunächst wie Nachlässigkeit oder Denkfaulheit des Kurators wirken mag, erscheint mir heute als Symptom für einen Umbruch in der Kunst, die in ähnlicher Weise erschüttert wird, wie die Medien, die Musikindustrie und all die anderen sogenannten Kreativ-Bereiche.

Die Moderne – die Kunst der Neuzeit, wie sie sich in den letzten dreihundert Jahren entwickelt hatte – ist unsere Antike, genau, wie Roger Buergel es sagt. Ähnlich, wie das scholastische Festhalten an der Antike noch weit in die Neuzeit hinein das Denken und Schaffen des Abendlandes beherrscht hatte, gelten uns die neuzeitlich-modernen Begriffe und Kategorien immernoch als Maß für “klassiche” Qualität. Bestandsaufnahmen und Zustandsbestimmungen zeitgenössischer Kunst münden entweder in blutleeren Formalismus, wie etwa das jüngste Kunstforum, oder enden in totaler Beliebigkeit, wie eben die letzte Dokumenta.

Ratlos blickt man sich um: muss es nicht etwas geben, das an die Stelle des Alt-Ehrwürdigen tritt? Eine neue Generation? Eine neue Richtung? Bruce Sterling gibt uns die Antwort, in seiner fast einstündigen Rede zum Abschluss der Vimeo-Konferenz. Das Neue ist schon da, und zwar als Mundart, Volkssprache, Räubersprache, kurz: es steht außerhalb der klassischen Kultur. Das Neue findet sich in der Vernakular-Kultur des Netzes.

Man mag einwenden, dass diese Erkenntnis weder neu noch originell ist; dass das Internet die Kultur durch und durch umkrempelt, davon sprechen ganze Jahrgänge von Wired und tausende von Stunden TED-Konferenz. Aber Sterling sagt etwas anderes: Um das Neue zu erkennen, müssen wir darüber sprechen können. Die (Fach-)Sprache der Kulturwissenschaften und der Kritiker ist aber immernoch die Lingua Franca der Moderne. Gleichzeitig ist das Vernakular der Netzkultur noch nicht viel mehr, als ein Jargon.

Die Formen der zukünftigen Kunst (falls man diesen durch Genie-Kult und bürgerlichen Produktionsprozess ohnehin korrumpierten Begriff überhaupt perpetuieren möchte) können unter anderem so etwas wie Urban Art oder Generative Art sein – Favela Chic, um mit Sterling zu sprechen – oder der der Netzkultur eigentümliche Eklektizismus, die Bricolage, das Collagieren, der Punk – Sterlings Gothic High Castle.

Diese Vernakularkultur unterscheidet sich insbesondere durch ihre Produktionsbedingungen von der klassischen zeitgenössischen Kultur. Der klassische Schriftsteller, Künstler oder Komponist erhält seine Entlohnung durch juristisch saktionierte Transfersysteme wie GEMA, VG Wort, VG Bild/Kunst – oder er ist direkt beim Staate angestellt, als Professor, als Mitglied eines Staatsorchesters oder als Rundfunkredakteur. Dagegen steht die viel bejammerte scheinbare “Kultur des Kostenlosen” der Blogs, der Online Videos, der Remixes und Covers, des sogenannten “Bürgerjournalismus” und so weiter und so weiter. Und obwohl es manchem als naheliegend erscheinen mag, der vernakularen Kreativität des Netzes die Produktionsweise der klassischen Kultur zu übertragen, ist dies doch zum Scheitern verurteilt: die Kategorien der alten Welt greifen nicht mehr; die Menschen wollen kein Latein mehr sprechen, weil ihnen Italienisch in viel flüssigerer Weise Ausdruck verleiht.

Enhances
“Stand on the shoulders of Giants”
Accessibility of knowledge
Retrieves
everybody a publisher
oral tradition
dilettante / amateur

Non-Commodity-
writing

(Decay of Copyright)

Reverses
Bricolage (Ecclecticism)
Generative Art
New definition of Public Space
Obsolesces
Assembly-line book
mass-marketing for books
book-fairs

In der Tabelle links habe ich versucht, diese Entwicklung mit der Tetrade von Herbert Marshall McLuhan zu interpretieren:

Als Folge dieses Wandels wird es allerdings nur noch wenig große Romane geben, nur selten wird jemand das Risiko auf sich nehmen, einen teuren, abendfüllenden Spielfilm zu produzieren oder mit einem Orchester ein sinfonisches Werk der Musica Viva einstudieren. Was wir erleben, ist die Rückkehr des Dilettanten, durchaus im besten Sinne, des Enthusiasten; “Everybody a Publisher” bedeutet: Non-Commodity-Production of Culture.

Mehr dazu:
“So literature collapses before our eyes” – Non-Commodity Production
Das Ende der Geschichte – für Kreativ-Berufe.

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Das Ende der Geschichte – für Kreativ-Berufe.

Félicien Rops: Pornocrates[Read Post in English]

Eternal must that progress be
Which Nature through futurity
Decrees the human soul;
Capacious still, it still improves
As through the abyss of time it moves,
Or endless ages roll

Its knowledge grows by every change;
Through science vast we see it range
That none may here acquire;
The pause of death must come between
And Nature gives another scene
More brilliant, to admire.

Philip Freneau

Heute Morgen habe ich mir aus der IMSLP ein Lied von Schubert ausgedruckt.

Bevor ich daran gedacht hatte, auch nur einen Ton daraus am Klavier zu spielen, habe ich mir in Youtube nacheinander sieben verschiedene Versionen dieses Liedes angehört – aus allen Jahrzehnten von 1930 bis heute. Warum? Weil ich daraus meine eigene Interpretation des Stückes zusammenkomplieren wollte.

Einmal davon abgesehen, dass ich die Notenblätter einfach in genau dem Moment aus dem Netz gezogen habe, in dem mir in den Sinn kam, das Stück zu spielen, greife ich also jetzt in meiner Interpretation nicht nur auf meine eigenen Lehrer zurück oder auf den Stil meiner Zeitgenossen, den ich übernehmen oder mich davon abgrenzen kann, sondern es stehen mir zahllose Varianten aus 100 Jahren Musikaufzeichnung zur Verfügung!

***
Kunst schien stets von Fortschritt geprägt, weil die Künstler immer einen Lehrer hatten, einer Schule angehörten, deren Stil und Theorie für sie das Fundament ihres eigenen Schaffens wurde, Generation nach Generation. Gerade aus der Abgrenzung zum Stil des Lehrers, aus dem Wunsch, etwas besser machen zu wollen, entstand diese Schrittweise Entwicklung der Kunst, die in der Rückschau nicht selten eine Weiterentwicklung gewesen zu sein schien.

Auch wenn die Maler sich in der Regel in den landesfürstlichen Kunstsammlungen auch ein Bild von der Kunst vergangener Epochen machen konnten, blieben diese Werke doch anachronistisch, Relikte aus einer Vergangenheit, zu der nur noch indirekt ein Bezug herzustellen war.

Noch drastischer war die Situation in der Musik – vor Erfindung der Schallplatte war die Interpretation der vergangenen Zeiten verloren, greifbar blieb nur, was live gehört werden konnte.

Mein Musik-Beispiel oben soll illustrieren, wie fundamental sich die Bedingungen der Stilbildung geändert haben, dadurch, dass schier das gesamte bisherige Schaffen der Menschheit wohlgeordnet und durch Suchmaschinen bestens indiziert für jedermann zur Verfügung steht.

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Auf der diesjährigen Transmediale hat Bruce Sterling einen bemerkenswerten Vortrag gehalten: “Atemporality for Creative Artists” – Das Ende der Geschichte – für Kreativ-Berufe, sinngemäß übersetzt.

Stirling nimmt das Wort Atemporality, zeitlich Autonom, als einen Begriff für die Verfügbarkeit allen Wissens und aller Werke unabhängig von ihrer Entstehungszeit. Ein Phänomen, das – wie oben geschildert – unsere Zeit charakterisiert.

Den Punkt, an dem die Menschen geistig vollkommen Unabhängig von Zeit und Raum werden, hat der französische Anthropologe und Philosoph Pierre Teilhard de Chardin SJ den Omega Punkt genannt. Angelehnt an die biblische Eschatologie “Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.” (Apo 22,13) markiert dieser Punkt der menschlichen Evolution das Ende der Geschichte und den Eintritt der Menschheit in eine Zeit in der die Vorstellung von Fortschritt überflüssig geworden ist.

Die Idee, dass der Fortschritt irgendwann zu Ende geht, ist vermutlich so alt, wie der Begriff Fortschritt selbst. Das Konzept Fort=Schritt, dass also der Weltgeist sich langsam und schrittweise zur Vollendung bewegt (wie in Frenaus Gedicht oben), ist Grundüberzeugung vieler Religionen und Ideologien. Auflösung im Nirvana wie im Buddhismus, Eintritt in die klassenlose Gesellschaft wie im dialektischen Materialismus oder Endsieg des Marktes wie bei Fukuyama – am Ende steht ein Zustand der Bewegungslosigkeit, das Ende der Räusche und Geräusche.

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Ohne gleich zu sinnieren, wie eine Rückkehr des Messias oder das Ende des Klassenkampfes uns bevorstehen könnte – stellt Bruce Stirling ganz pragmatisch die Frage, welche Wirkung diese Unabhängigkeit des Künstlers von Zeit und Raum nach sich zieht.

Die Welt wird – anders als Fukuyama oder Marx uns hoffen machen – keineswegs einfacher: “The situation now is one of growing disorder. A failed state, a potentially failed globe, a collapsed WTO, a collapsed Copenhagen, financial collapses, lifeboat economics.” “Aber”, tröstet er uns, “ich glaube nicht, dass wir deshalb in Hexenwahn verfallen müssen. Ich denke es könnte mehr damit verglichen werden, in eine neue Stadt zu ziehen”.

Und damit uns die Panik vor dem Neuen nicht blind macht, empfiehlt uns Bruce Stirling, uns einen distanzierten Standpunkt zu suchen. Wenn wir nach der Avantgarde von heute suchen, sollten wir dies aus der Perspektive von zwanzig Jahren später tun, “entblättert von allem Chrom und allen Mirakeln: lassen Sie sich nicht länger vom Eindruck technischer Neuartigkeit blenden. Gehen Sie nicht mit. Nehmen Sie an, dass alles schon vergangen wäre und entwickeln Sie [ihre Perspektive] von diesem Standpunkt aus.” – If it works, it’s obsolete.

Der köstliche-Leichnam-trinkt-den-neuen-Wein

Wie macht man Kunst in einer post-historischen Zeit, wenn also ein Fortschritt so gut wie unmöglich scheint? Kunst nach dem Ende der Kunst? Bruce Stirling öffnet in Ansätzen zwei Wege, in welchen – nicht alternativ sondern komplementär – sich Kunst heute entwickeln kann: Favela Chic und Gothic High-Tech. Die dekadente Ruine einer Burg, dem Zerfall geweiht, steht hocherhoben über dem Wirrwar eines Slums, kein angenehmer Ort, aber immerhin noch lebendig.

Gothic High-Tech lebt vom Glanz der Vergangenheit, von der Sehnsucht nach einer alternativen Gegenwart.

Punk ist die naheliegende Reaktion auf unsere Epoche ohne Zukunftsperspektive: “You have taken my future now I Kill somebody, kill myself, throw bricks to policemen” – eine primitive Anti-Haltung wäre heute allerdings genauso sinnlos, wie die anderen ideologischen Posen des 20. Jahrhunderts. Aber Punk bedeutet auch, sich etwa seine Kleider und Accessoires selber zu fertigen – die Bricolage – die Bastelei, wie man das wohl am besten übersetzt, die Verweigerung von Massenkultur und Pop durch eigene Kreativität.

Das Frankenstein Mashup ist die logische Folge, der Eklektizismus aus zusammengeklebten Fundstücken wie in der DJ-Musik und der postmodernen Architektur. Und aus den verlorenen Utopien der Vergangenheit werden schließlich sehnsüchtige Lost Futures collagiert: where is my space age? Steampunk, Atompunk, Dieselpunk.

Favela Chic liefert keine große Inszenierung mehr, keine geniale Schöpfung eines Jahrhundert-Künstlers, sondern lebt vom Gewimmel, welches sich im Netz gelegentlich locker organisiert findet.

Daraus entwickeln sich zwei ganz neue Ansätze. Generative Art wird durch Software geschaffen, ist streng genommen nur noch indirekt Kunst, weil die sichtbare oder hörbare Erscheinung technisches Produkt eines Algorithmus ist. Collaborative Art macht sich die Möglichkeit zum gemeinsamen Schaffen im Netz zu Nutze, nur locker organisiert als Wiki-Art, als Art-Mob.

Diese Ansätze zur Kunst nach dem Ende des Fortschritts sind genauso auf andere Bereiche der Kultur zu übertragen: auf Publizistik, Filmproduktion, Küche, aber sogar die Gesetzgebung, die kollaborativ ausgehandelt werden könnte.

Thus decomposed, or recombined,
To slow perfection moves the mind
And may at last attain
A nearer rank with that first cause
Which distant, though it ever draws,
Unequalled must remain.

Weiterlesen: Die rote Liste der bedrohten Medien