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Monocle Winter Series

“I’m Tyler Brule. It’s Christmas Eve, the stockings are hung in the mantlepiece, the wind is picking up, the gluhwein is simmering on the stove and I’m here huddled around the christmas tree with editor Andrew Tuck waiting for our culture editor Rob to come in with some more wood for the fire and some extra presents,” das ist das atmosphärische Mise en place der aktuellen Monocle-Winterfolge.

Monocle? Wahrscheinlich kennen die meisten das nur als hochwertig fotografiertes Lifestylemagazin für Kosmopoliten, als eines der Beispiele dafür, wie man auch heute bei Beachtung einiger Punkte des Slow-Media-Manifests noch gutes Geld mit guten Medien verdienen kann (oder vielleicht auch als das München-freundlichste Magazin der Welt). Aber für mich, obwohl ich alle Hefte seit der ersten Ausgabe gelesen habe, ist die Zeitschrift längst nicht mehr das spannendste Produkt des Londoner Verlags.

Jede Woche produziert Tyler Brûlé einen etwa einstündigen Podcast mit den beiden Redakteuren Andrew Tuck und Rob Bound sowie wechselnden Gästen. Im Sommer und im Winter gibt es dann jeweils Sonderserien zu hören, in denen viel Jahreszeitliches diskutiert wird. In der jüngsten Folge zum Beispiel ist neben der hinreißend verkitschten koreanischen Popband W&Whale der Philosoph und Slow-Media-Theoretiker Alain de Botton zu Gast. Er erzählt zum Beispiel von seinem Living-Architecture-Projekt, das mit Hilfe von modernistischen Ferienhäusern die Briten von den Vorzügen der zeitgenössischen Architektur überzeugen möchte.

Besonders faszinierend fand ich aber ein weiteres Projekt von Alain de Botton, mit Hilfe von “Unterhaltungsmenüs” die Gesprächskultur bei Tisch zu fördern. Auf den Speisekarten sind hier nicht nur die Speisenfolge und die dazu gereichten Weine verzeichnet, sondern auch die Konversationsthemen, die den Gästen dieser Runde jeweils zum aktuellen Gang nahe gelegt werden. Sehr schön die Vorstellung, begleitend zu den Fines de Claire den Tischnachbarn nach seinem Sexualleben fragen zu dürfen.

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Jenseits der digitalen Autobahn – OpenStreetMap und das Wissen der Vielen

The Google Map is not the territory
Frei nach Alfred Korzybski

Die digitale Zwangsneurose der Google StreetView-Aktivisten und ihr Schimpfen auf die verpixelten Häuser deutscher Großstädte wirkt fast schon niedlich, wenn man sich einmal die richtig großen Datenlöcher in der Googlewelt ansieht. Schon einmal versucht, den kabuler Park Bagh e Babur auf Google Maps zu finden? Fehlanzeige. Die Stadt Kabul gibt es, abgesehen von dem Autobahndreieck der A01 und A76 in dieser Welt nicht. Da die Lizenz von Google Maps es mir nicht erlaubt, diese Leerstelle per Screenshot zu dokumentieren, hier der Link.

Aber zum Glück müssen sich die Einwohner Kabuls keine Sorgen darüber machen, dass sie als einzige keine Einwohner der Googlewelt sind. Ihren knapp 20 Millionen Nachbarn in Pjöngjang, Bagdad, Tiflis geht es nicht anders. Diese Städte gibt es entweder nur als kleinen Schriftzug, als Autobahnkreuzung oder gar nicht (Pjöngjang) bei Google Maps. Ob diese Datenlöcher einen geopolitischen Grund haben, wie zum Beispiel nach dem russischen Einmarsch 2008, als entweder die georgischen Städte von Google Maps verschwunden sind bzw. als das den Internetnutzern aufgefallen ist, oder ob es wirklich daran liegt, dass für diese Gegenden zu wenige Daten vorliegen, wie Google selbst behauptet, sei dahingestellt.

Was jedoch unzweifelhaft ist: die Welt von Google hat mehr Lücken als man sich vorstellt. Wer sich auf diese Repräsentation der Welt unkritisch verlässt – und das würde ich ohne Zögern als einen der großen digitalen Trends der 2000er Jahre sehen -, dessen Weltbild bleibt lückenhaft.

Die positive Botschaft lautet aber: Es gibt eine Alternative. Es gibt zumindest eine kartographische Darstellung der Welt, die zumindest so weit reicht wie das Internet. Natürlich spreche ich hier von OpenStreetMap. Dieses Projekt funktioniert in wie Wikipedia, nur dass man hier keine enzyklopädischen Textbeiträge erstellen kann, sondern Städte, Straßen und Supermärkte. Jeder kann die Daten ergänzen und korrigieren. Genau wie bei der Wikipedia bleibt eine Nonsense-Änderung nur wenige Sekunden bestehen und wird sofort wieder von der Community aus mittlerweile 330.000 Usern zurückgesetzt.

Wie anders sehen die oben genannten Städte auf OpenStreetMap aus! Das hier zum Beispiel ist die Gegend um den Zoo von Bagdad, der lange Zeit der früher einmal der größte Tierpark des Nahen Ostens gewesen ist und im Kampf um Baghdad 2003 traurige Berühmtheit erworben hat (alle folgenden Abbildungen © OpenStreetMap und Mitwirkende, CC-BY-SA):

Oder das hier. Das ist die Gegend zwischen Samhung-Universität und dem zweitgrößten Stadium Pjöngjangs, dem Kim Il Sung-Stadium:

Dritter Screenshot-Beweis, dass die weißen Flecken nicht allein auf Datenmangel beruhen können, hier ist der oben erwähnte Park in Kabul, die letzte Ruhestätte des ersten Mogulkaisers Babur:

Eine letzte Karte eines Ortes, der für Google Maps nicht existiert, der Hauptbahnhof der Georgischen Hauptstadt Tiflis:

Anders als bei den Häuserfassaden auf Google StreetView geht es hier nicht darum, die Privatsphäre (oder sagen wir besser: das, was viele Menschen als Privatsphäre empfinden) unter einer ökonomischen Zielsetzung zu veröffentlichen, sondern darum, ein politisch-nationalstaatliches Wissen der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Die Erstellung von Karten war von Anfang an eine politische Herrschaftstechnik und wird jetzt Schritt für Schritt der staatlichen Kontrolle entzogen und ver-öffentlicht. Dafür sollten sich die digitalen Aktivisten einsetzen.

Also beteiligt euch: Man kann Mitglied der OpenStreetMap-Foundation werden, OpenStreetMap etwas spenden, die eigene Stadtverwaltung immer wieder dazu auffordern, ihre Geodaten dem Projekt zur Verfügung zu stellen oder selbst etwas zu dem Projekt beitragen. Wer dem Slow-Media-Blog etwas zu Weihnachten schenken möchte, eine Spende für OpenStreetMap wäre genau das richtige. Danke!

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Das Porzellan der Oma

Ich ähnelte dem Porzellan, in das ich mit einer Farbenwolke Einzug hielt.
Walter Benjamin

Langsame Medien, so haben wir Anfang des Jahres in unserem Manifest und danach auf zahlreichen Vorträgen immer wieder betont, erzählen eine Geschichte. Oft sind es gleich mehrere Geschichten, die sie uns erzählen, wenn wir nur aufmerksam genug zuhören. Den Begriff Medien darf man dabei nicht zu eng sehen. Es geht nicht nur um Zeitschriften, Bücher oder Internetseiten. Nein, wir bevorzugen einen breiten Medienbegriff, der alles einschließt, was dazu in der Lage ist, Informationen zu übermitteln.

Diese Kiste zum Beispiel erzählt eine solche Geschichte. Die Großmutter, vielleicht väterlicherseits, vielleicht mütterlicherseits, lag lange Zeit darnieder und ist schließlich entschlafen. Einige Dinge hat man für den eigenen Haushalt in einem der wohlhabenderen Münchener Vororte vielleicht brauchen können, die anderen Sachen hat man auf dem Bauhof entsorgt. In mehreren Fuhren, denn in den Kofferraum des 5er BMW passt nicht so viel hinein. Dann war da noch das Geschirr.

Einerseits passt es eigentlich überhaupt nicht in die reduzierte Inneneinrichtung – “so Zen-like wie es mit Kindern halt möglich ist” – andererseits hat die Oma wirklich an den Tellern gehangen. Das erste Kaffeegeschirr hatte sie sich damals Ende der 1950er gekauft als die von Löffelhardt entworfene schlanke Form 2025 noch richtig gewagt wirkte.

Fast schon etwas unvernünftig, sich das einfach so zu leisten. Aber irgendwie ist es ihr ans Herz gewachsen, so dass sie immer wieder nachgekauft hat. Es war längst nicht mehr ein Porzellan, sondern ihr Porzellan.

Während sie immer wieder die kaputtgegangenen Stücke durch neue ersetzte, wurde das alte Arzberg-Werk, das mittlerweile der Firma Kahla gehörte, modernisiert. Dann kam in den 1960ern die erste Porzellankrise. Die Leute fingen an, Steingut zu kaufen und wussten den ästhetischen Wert der zarten Porzellanwände, durch die Kaffe und sogar Tee milchig hindurchschimmerten, nicht mehr zu schätzen.

Auch die radikale Modernisierung des Arzberger Corporate Design brachte nicht mehr als einen Aufschub der Krise. Zeitgleich mit der Ölkrise rollte bereits die zweite Porzellankrise heran und die Zeichen standen auf Marktbereinigung. Die Kahla AG ging mit den Hutschenreuthers zusammen und die Arzberg war auf einmal nur noch eine Marke der Hutschenreuther-Gruppe.

Das hielt die Oma nicht davon ab, weiterhin das 2025er nachzukaufen, auch wenn die langgezogenen Griffe an Teekanne, Kaffeekanne und Terrinen im Laufe der Zeit längst nicht mehr so avantgardistisch wirkten wie damals Ende der 1950er. Nachdem die Hysterie verflogen war, blieb jedoch die zeitlose gute Form des Porzellans. Die Oma war inzwischen weit mehr gealtert und wurde zum Pflegefall. Das Porzellan hat sie schließlich überlebt. Auch wenn der Goldrand an einigen Stellen etwas abgewetzt ist und ein, zwei der insgesamt 30 Teller schon eine Macke hatten, war es immer noch so gut in Schuss, dass es sich lohnen könnte, es nicht wegzuschmeißen, sondern per Kleinanzeige für den Wert eines ordentlichen Essens in einem Fastfood-Restaurant loszuwerden. Vielleicht sucht jemand noch Geschirr für den Polterabend.

An so einer Geschichte kann man doch einfach nicht vorübergehen, oder? Auch wenn es bedeutet, dass ich jetzt im Küchenschrank Platz schaffen muss für ein weiteres Porzellan aus Arzberg.

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Le Conseil de l’Europe à Strasbourg. Ein Fotoessay.

Im November war ich in den Europarat in Strasbourg eingeladen. Dort fand eine Konferenz statt, die “Assises internationales du journalisme et de l’information”. Die Konferenz in Kooperation mit dem Europarat und dem französischen Kultusministerium hatte den Titel “Du bruit ou de l’info?”. Besonders am Herzen liegt Jérôme Bouvier, dem Organisator der Konferenz, das Thema “slow journalisme” und wie die journalistische Qualität in der heutigen Zeit rentabel sein kann. Ich war eingeladen, auf dem Podium zum Thema “Contre l’Info low cost, vive la Slow Info!” zu sprechen – als Vertreterin des “Mouvement Slow Media allemand”. Mit mir im Saal der Librairie Kléber waren Patrick de Saint-Exupéry, David Dufresne und Thomas Baumgartner, die alle – auf ihre eigene Weise und in jeweils anderen Medien – Slow Media Praxis par excellence betreiben, auf Papier, im Web, im Radio. Sehr gewinnend, dieser Eindruck über den nationalen Tellerrand. Von ihren Projekten und Geschäftsmodellen wird noch im Laufe des kommenden Jahres zu sprechen sein.

Hier nun zunächst, weil sie mich so beeindruckt hat, ein Fotoessay über die völlig abgefahrene retro-futuristische Architektur des Europarates. Sie wurde von dem französischen Architekten Henry Bernard entworfen und stammt aus dem Jahr 1977. So sah damals die Zukunft aus.

Der Plenarsaal von außen, ein organisch geschwungenes Pilzdach. Im umliegenden Gebäudetrakt befinden sich die durchnummerierten Sitzungssäle.

Kabelsalat im Europarat: Der Plenarsaal von innen.

Freie Zirkulation der Ideen: Das Interieur des Conseil de l’Europe im Eingangsbereich. Großartig. Ich widerstehe der Versuchung, den Handlauf als Kugelbahn auszuprobieren.

Die Sitzungssäle: N° 3…

… N° 6

… N° 8

… und die N° 11. Großartig.

Ich kann gar nicht genug davon bekommen.

So sehen die Sitzungssäle von innen aus: Schräge Architektur mit farblich abgestimmten Wänden, Sesseln und Simultanübersetzerkabinen.

Hier kommen schließlich die unterschiedlichsten Nationen zusammen, da wirkt Farbharmonie Wunder.

Ein Sitz im Rat.

Der abgedunkelte Saal 6, während einer Filmeinspielung. Thema der viereinhalb Stunden langen und tiefgründigen Debatte war das Bild der Banlieues in den französischen Medien. Ein sehr französischen Thema. “Dans les banlieues, les journalistes sont hors sol” – in den Vororten sind Journalisten außerhalb ihres Terrains.

Eine kleine Pause: Apéro-Presse. Auch eine sehr lobenswerte französische Erfindung.

Rauchen ist natürlich verboten. Klar, bei den Teppichböden an den Wänden…

Konferenzausrüstung mit Paul Steiger im Hintergrund. Von Pro Publica, New York (er vertritt das philantropische Geschäftsmodell).

Jetzt wieder raus, die geschwungene Treppe hinab. Beim Ausgang den Ausweis zum Auschecken aus der Sicherheitsschleuse nicht vergessen.

Das Gebäude des Conseil de l’Europe von außen: eine Festung. Erkennbar sind die schrägen Außenwände der Sitzungssäle.

Gleich nebenan: Das Europaparlament. Der Taxifahrer sagt, dass die Abgeordneten an drei Tagen im Monat statt in Brüssel in Strasbourg tagen. Als ich vorbeikam, war Licht.

Auf zum Straßburger Bahnhof, auch eine schöne Architektur. Gute 100 Jahre früher als das Gebäude des Europarates, Stahlbögen vom Ende des 19. Jahrhunderts. Von wann war noch der Eiffelturm?

Frankreich. Ein Kranz für die Helden der Résistance unter den Bahnangestellten. Zwölf Minuten Bahnfahrt später bin ich wieder in Deutschland.

[zu der Konferenz in Strasbourg siehe auch diesen Beitrag]
[Essay auch hier veröffentlicht]

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Let it slow: Weihnachtsempfehlungen Teil III

Und nun auch von mir zwei Empfehlungen für Weihnachten. Sie sind beide sowohl zum Schenken geeignet wie auch dazu, sich ausgiebig mit ihnen zwischen den Jahren zu beschäftigen. Das ist ein Faktor, den man beim Schenken – und erst recht beim slowen also nachhaltigen Weihnachts-Beschenken – nicht unterschätzen sollte. Denn zwischen den Jahren haben wir Z e i t. Und vielleicht haben wir auch Kinder, die bekanntermaßen nach Heiligabend zur Erfüllungsdepression neigen und gehegt werden wollen.

Kommen wir zur ersten Empfehlung:

1. Filme von Jacques Tati.

Jacques Tati ist – wie auch sein berühmterer Kollege Charly Chaplin – ein Perfektionist gewesen, der seine Filmszenen akribisch choreographiert und minutiös durchkomponiert hat. Am Ende des Boulevard Saint Michel, dort wo er auf die Seine stößt, gab es früher in Paris ein Kino, in dem nur Tatifilme liefen.

Einer meiner Lieblingsfilme (die es auch auf DVD gibt, sonst könnte man sie ja nicht verschenken) ist „Die Ferien des Monsieur Hulot“ (“Les Vacances de Monsieur Hulot”). Es passiert: eigentlich nichts. Außer Ferien am Meer, um genau zu sein in der Bretagne. Das bedeutet: Es gibt dort Ebbe und Flut. Und das ist es,was auch in dem Film passiert: das Meer kommt und geht. Es kommt wieder und geht wieder und dazwischen passieren Dinge. Man geht an den Strand, zum Mittagessen und wieder zurück. Es wird Tag und Nacht. Die Feriengäste kommen an und am Ende des Filmes gehen sie wieder.

Auch als Zuschauer kommt man immer wieder zu den Filmen zurück. Es macht also Sinn, die Filme auch zu besitzen. Jedesmal wird der aufmerksame Zuschauer neue Neben- und Hintergrundszenen entdecken und sich an ihnen erfreuen. Ich empfehle ausdrücklich, einzelne Szenen zurückzuspulen und nochmals (gegebenenfalls in slow motion) mit der Familie genauer anzusehen und sich an der Präzision der Abläufe zu erfreuen: Die Eingangsszene am Bahnhof oder das Kartenspiel im Hotel de la Plage. Das wird mit jedem Hinschauen schöner.

Auch und immer wieder sehenswert ist „Jour de Fête“: Das Erstlingswerk des Regisseurs und Schauspielers Jacques Tati. Er ist – wie ich soeben beeindruckt bei Wikipedia nachgelesen habe – „französisch-russisch-holländisch-italienischer Herkunft“, eine wilde Mischung. Ein Postbote (gespielt von Tati selbst) versucht, inmitten von Tradition und Moderne, mit der Technik Schritt zu halten. „Rapidité! Rapidité!“ Schon 1953 gab dieser Ruf unerbittlich den Takt an. Ein schöner Film, um über Langsamkeit, Schnelligkeit und über die Zeit nachzudenken. Wer übrigens meint, Kinder hätten nur Sinn für schnelle Schnitte, kann sich mit Tati-Filmen eines Besseren belehren lassen.

2. Die zweite Empfehlung: das Buch „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel“ von Franz Fühmann.

Ein sperriger Titel, ein großartiges Buch. Und das für jede Phase im Leben, also für Kinder und Erwachsene gleichermaßen geeignet. Das Sprachspielbuch mit Illustrationen von Egbert Herfurth erschien zuerst 1978 im Kinderbuchverlag in Ostberlin und ist inzwischen in einem schönen gebundenen Nachdruck im Hinstorff-Verlag neu aufgelegt worden.

Es beginnt alles mit Langeweile, diesem Zustand, den zu verhindern man heute den Kindern allerlei an die Hand gibt. Dabei kann Langeweile durchaus fruchtbar sein. Wer weiß schon, was einem einfallen würde, wenn man sich ihr eine Weile lang aussetzen würde? Wie in diesem Buch: Große Ferien, endloser Regen und fünf Kinder, die aus Langeweile mit Sprachspielen beginnen. Heraus kommt ein Buch über die deutsche Sprache, antike Philosophen und türkische Umlaute.

Erstes ist dieses Buch wahnsinnig gelehrt, und zwar auf ganz leichtfüßige Weise. Zweitens befasst es sich mit dem, woraus unsere Kommunikation besteht, mit der Sprache, ihren Philosophen, ihren Regeln, ihren Sonderheiten und mit dem Material, aus welchem die Sprache gewebt wird, mit Vokalen, Konsonanten, Umlauten. Es ist drittens wunderbar typografisch gesetzt und illustriert und fühlt sich – viertens – gut an. Außerdem und fünftens: Es ist ein unschätzbares Zeitzeugnis. Wie Franz Fühmann (der fünf Jahre vor dem Fall der Mauer 1984 verbittert über seinen Staat starb) inmitten des sozialistischen Realismus darlegt, welche Wahrheit in biblischen Texten steckt – das ist ein großer Moment. Eine Gratwanderung, die heute kaum mehr nachvollziehbar ist. Es ist wieder die Sprache, die einen Alltag abbildet, in dem eine Einstufungskommision darüber befand, ob man Kultur machte, und der in Begriffen wie “Staatsapparat” (Wort mit fünf A) und “Kulturbundschulung” (Wort mit fünf u) wieder aufscheint. Ein historisches Glossar gibt im Anhang Aufschluss über diese inzwischen fremden Alltagsvokabeln. Es gehört also einfach – sechstens – in jeden Haushalt.

Weiterlesen:
Langsame Weihnachten (Weihnachtsempfehlungen, Teil I)
Slow-Media Weihnachtsgeschenke von jbenno (Teil II)

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Slow-Media Weihnachtsgeschenke von jbenno

Nach Benedikts Langsamen Weihnachten bin ich heute dran, mit vier ganz materiellen Geschenken, die sich im weiteren Sinn um das Sammeln drehen.

1. Das Periodensystem der Elemente – in echt

“The Periodic Table is the universal catalog of everything you can drop on your foot. There are some things, such as light, love, logic and time, that are not in the periodic table. But you can’t drop any of those things on your foot.”
Theodore Gray, The Elements

Sammeln ist eine wunderbare Sache. Eine Sammlung setzt ein System voraus, eine Ontologie: man muss schließlich wissen, welche Dinge in die Sammlung gehören, und welche man weglassen kann. Am schönsten ist Sammeln, wenn man bestimmte Objekte der Sammlung nur sehr schwer bekommt. Zum einen, weil man eine gute Gelegenheit hat, “auf die Jagd zu gehen”; bei guten Sammlungs-Gegenständen wird man regelrecht auf Reisen gehen müssen, um die letzten, fehlenden Stücke zu bekommen – und entlang dieser Reisen kommt man zu Plätzen, zu denen man “normalerweise” nie gefahren wäre! Zum zweiten, weil der subjektive Wert der fehlenden Sammlungsstücke immer weiter steigt, je weniger einem fehlen – das letzte fehlende Stück mag gar den Wert der ganzen restlichen Sammlung aufwiegen.

Das Periodensystem der chemischen Elemente ist eines der schönsten, von natur vorgegebenen Sammungssysteme. Die wenig mehr als hundert verschiedenen Atome mit ihren Isotopen, sind gewissermaßen das Alphabet der Materie.

Elementsammlung
Es gibt einige gute Gründe, diese Elemente zu sammeln: es ist lehrreich; wichtige Eigenschaften der Materie werden einem in eigener Anschauung sofort klarer, als es je durch Nachlesen möglich ist; zum Beispiel folgen die Eigenschaften der Elemente einer schöne Regelmäßigkeit, fast einer Art Melodie. Ordnet man sie, ihrer (Atom-)Masse nach an und bricht die Zeilen jeweils bei den Edelgasen um, wird diese Periodizität wirklich anschaulich. Dann gibt es Elemente, die extrem schwer zu beschaffen sind – weil sie sehr giftig sind (Thalium zum Beispiel; dann muss man vielleicht sogar darauf verzichten …), weil sie sehr reaktiv sind, also unverzüglich mit anderen Elementen chemische Verbindungen eingehen (die Halogene) oder radioaktiv zerfallen (etwa Polonium), weil sie sehr flüchtig sind (Helium diffundiert über die Zeit z. B. selbst durch sehr dichte Behälter), oder weil sie einfach sehr sehr teuer sind (wie etwa die Platin-Metalle oder gar Diamant, der als natürliche Form von Kohlenstoff nicht fehlen darf!).

Aber – wie bei vielen Sammlungsgebieten – wird man als Elemente-Sammler nicht allein gelassen. Es gibt einige Spezialversender, die einem bei der “Grundausstattung” der Sammlung helfen – und es gibt eine weltweite Community, deren Mitglieder oft gerne bereit sind, zu tauschen oder Doubletten abzugeben. Es gibt schöne Bücher zum Thema (die wir in diesem Blog auch schon empfohlen haben). Ganz großartig auch die Video-Serie “periodicvideos.com” des genialen britischen Videomachers Brady Haran – und die wunderbare Periodic-Table-App für’s i-Phone.

Eine Sammlung von Elementen aufzubauen, wird man über Jahre hinweg. Weihnachten ist eine gute Gelegenheit, damit anzufangen!

Nützliche Links zum Start der Sammlung:
Periodictable.com von Theodore Gray.

RGB Research Ltd., Smart Elements und Metallium, bei denen man man Muster fast aller Elemente kaufen kann.

2. Zettels Traum: endlich gesetzt

jaja;ganz=allgemein:’Sâmmler’ kommt von ‘Samen’/

Zettels Traum von Arno Schmidt war die allererste Empfehlung in diesem Blog. Es ist eines der slowsten Bücher überhaupt, schildert es doch in seinem ungeheuren Umfang die Ereignisse nur eines einzigen Tages und bleibt beschränkt auf einen einzigen Ort.

Zettels Traum

Das Buch war, als es erstmals verlegt wurde aus editorischer Not nicht gesetzt, sondern lediglich als Typoskript fotografisch vervielfältigt worden. Jetzt, nach vierzig Jahren, kann man es endlich in lesbarer Form genießen. Und man sollte bald damit beginnen, denn wenn man jeden Tag eine Seite durcharbeitet, ist man nach vier Jahren durch!

Arno Schmidt: Zettels Traum. Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe IV: Das Spätwerk: Band 1. Standardausgabe
Suhrkamp Verlag ISBN 978-3518803103

3. Papier von Gmund

Gmund Papier

Papier ist ein wunderbares Medium – es hält seinen Inhalt unter einigermaßen guten Bedingungen über Jahrhunderte lesbar. Keine Abspielgeräte sind notwendig, keine Stromversorgung.
Hab ich selbst vor einiger Zeit geschrieben.

Die Papierfabrik in Gmund am Tegernsee stellt das schönste Papier her, das ich kenne. Größere Sorgfalt bei der Produktion eines so alltäglichen Materials, habe ich noch nirgends je gesehen. Selbstverständlich folgt die Produktion den Regeln der FSC und strengsten ökologischen Auflagen – das Fabrikgebäude steht direkt an der Mangfall, aus der das Trinkwasser für München entnommen wird.

Und nichts ist besser, als auf die schöne Oberfläche der Gmund-Papiere mit einem weichen Bleistift zu schreiben.

Website von Gmund Papier: http://www.gmund.com

4. Collator Papiersammler

Vom Sammeln und von Papier haben wir schon gesprochen. Zum Schluss also die Empfehlen, wohin man dann eben Papier sammeln kann. Statt unübersichtliche Haufen daraus zu schichten oder die Blätter zu lochen und bürokratisch in Ordner abzuheften, bietet der Collator Papiersammler von Radius Design einen schönen Mittelweg. Konstruktion und Material sind denkbar einfach; Zeitschriften, Manuskripte, Notitzen – selbst die Belege der Reisekostenabrechnung verlieren ihren Schrecken.

Collator-Seite bei Radius-Design.com

Collator

Weiterlesen:
Langsame Weihnachten (Weihnachtsempfehlungen, Teil I)
Let it Slow: Weihnachtsempfehlungen, Teil III

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Langsame Weihnachten

Da liegt es, das Kindle, auf Heu und auf Stroh
Weihnachtslied, frühes 21. Jh

In der Generation meiner Großeltern und Eltern waren es Pfeffernüß, Äpfelchen, Mandeln, Korinth, die sich artige Kinder zum Weihnachtsfest wünschen konnten. Heute gehören iPad, iPod, DS und PS3 zu den wichtigsten Posten auf den Wunschzetteln der digitalen Eingeborenen zwischen 6 und 12. So wird dieses Jahr der Weihnachtsbaum nicht nur von den brennenden Lichtern, sondern auch von dem kühlen Licht der Bildschirme festlich glänzen. Welche Alternativen hat man? Was schenkt man, wenn man sich den Slow-Media-Ideen verpflichtet fühlt? Welche Geschenke eignen sich dafür, den Blick zu lenken auf die “kleine Zeitlücke, in der sich die Menschen auf Erden einrichten müssen”, wie Harald Weinrich das formuliert?

Eines der wichtigsten Objekte, die eigentlich jeder in seinem Zuhause haben sollte, ist ein ordentlicher Ofen. Wer viel Platz und Zeit hat, findet in den Kleinanzeigen mit etwas Glück in Einzelteile zerlegte herrschaftliche Kachelöfen. Wer weniger von beidem hat, kann sich zum Beispiel bei Attika einen schlanken Kaminofen kaufen, der in ein bis zwei Stunden fertig montiert ist und auch in nicht ganz so herrschaftliche Zimmergrößen passt. Die Folgekosten sollte man nicht unterschätzen, denn das Ofenfeuer möchte man natürlich von einem passenden Sitzplatz aus genießen, so dass früher oder später garantiert je nach Rustikalität auch eine Ofenbank bzw. ein paar hochlehnige Sessel dazu kommen. Nicht vergessen darf man auch die Feuerböcke und den ein oder anderen Blasebalg. Wer auf einen gemauerten Ofen verzichtet, kommt hier natürlich etwas günstiger weg. Aber wenigstens sollte man dann die Cheminées à la moderne von Jean la Pautre aus dem Jahr 1661 auf dem Beistelltisch liegen haben, um sich wenigstens bewusst zu sein, was man verpasst.

Das Thema Nachhaltigkeit hat man mit dem Kamin schon einmal abgehakt. Auch ein paar weitere Forderungen des Slow-Media-Manifests erfüllt man im Handumdrehen, so zum Beispiel die Kommunikation. Wo lässt sich besser über das knappe Leben disputieren als vor einem munter flackernden Feuer. Die Asche ist sozusagen direkt in greifbarer Nähe. Aber auch in einem anderen Sinne agiert man hier nachhaltig, nämlich in der der Wahl des Heizstoffes. Die Wärme kommt nicht aus einer russischen Pipeline, mit der man womöglich noch Berlusconis barocke Orgien mit finanziert, sondern aus heimischen Wäldern – und das gleich auch noch CO2-neutral. Die Qual der Wahl betrifft natürlich die Frage: selbst gehackt oder fremd gehäckselt? Ich halte es so: Wenn sich Besuch ankündigt, der sein Leben normalerweise in Ohrensesseln verbringt, schmeiße ich mich in Lederhose und Loden, greife zur Axt und empfange die Gäste Holzscheit-spaltend vor der Gartenhütte. Der passende Lesetipp ist hier natürlich Thomas Bernhards Holzfällen. Wem das zu übertrieben ist, kann sich das Brennmaterial auch liefern lassen, zum Beispiel aus Wunsiedel, die Tonne Fichten-, Eichen- oder Buchenbrickets zur Zeit um die 200 EUR. Das reicht für einen Winter.

Feuer wirkt am besten, wenn es sich in einem edlen Metall spiegeln kann. Daher sollte man sich das Weihnachtsfest zum Beispiel mit einer Investition in Tafelsilber versüßen. Was ist schöner als das Gefühl, die Bank-Runs und Eurokrisen links liegen lassen zu können und sich von einem wertbeständigen im Atelier der Heilbronner Firma Bruckmann 1925 entworfenen Sahnelöffel die Sahne in den Tee fließen zu lassen, so dass eine herrliche Sahnewolke in der Tasse erblüht. Auch wenn man es vorzieht, den Tee ohne Sahne zu trinken, ist das eine lohnenswerte Investition, vielleicht kündigt sich einmal Besuch aus England oder Ostfriesland an oder aber man “nutzt” das Silber allein des feuerumflackerten Glanzes wegen. Zum Heilbronner Silber gibt es übrigens einen ganz großartigen Katalog der städtischen Museen, den man immer mal wieder antiquarisch erwerben kann.

Was fehlt? Die Musik. Weihnachten ohne Zithermusik ist kein Weihnachten. Wer noch keine Zither spielt, sollte unbedingt das nahende Weihnachtsfest zur Gelegenheit nehmen, dieses Instrument zu lernen. Für mich gibt es nichts, das mehr mit der stillen Zeit verknüpft ist, als der Klang von 35 Saiten in Münchener Stimmung. Wer keine Zither auf dem Dachboden liegen hat – zumindest in Bayern kenne ich niemanden, für den das nicht zutrifft – kann sich auf eBay problemlos ein schönes Instrument zulegen, zum Beispiel eine Zither von Joh. Hornsteiner aus Passau, gefertigt zwischen 1903 und 1925. Allein das meditative Stimmen der vielen Saiten lohnt die Investition in dieses Gerät. Darüber hinaus bin ich sicher, dass die Fingerkoordination des Zitherspiels für die geistige Leistungsfähigkeit eine lebensverlängernde Übung ist. Wer regelmäßig Zither spielt, braucht keine Sudokus mehr. Ich glaube, ich ersteigere gleich noch ein paar Zithern und spende sie den Altenheimen meiner Gegend.

Dazu passt als Lektüre neben den unverzichtbaren Noten – ich habe das Spielen mit der Theoretisch-practischen Zitherschule von Friedrich Gutmann, gekauft in der Königlich-Bayerischen Hofmusikalienhandlung in der Weinstraße 4, gelernt – auch Carl Amerys Untergang der Stadt Passau. Dort kommen zwar keine Zithern vor, aber Passau ist in diesem großartigen Roman schließlich auch schon untergegangen.

Was fehlt? Nach dem glanzvollen und klingenden Festmahl bleibt die Aufgabe, das gute Porzellan und das Tafelsilber wieder auf Vordermann zu bringen. Dafür benötigt man selbstverständlich das geeignete Werkzeug. Die Silberpolitur von Hagerty bekommt man in jedem Drogeriemarkt, die zuverlässigen Quellen für Messertücher, mit dem man die Klingen abtrocknet, sind schon lange versiegt. Hier muss man hoffen, dass ab und zu eine Kollektion dieser unentbehrlichen Textilien den Weg in die Onlineauktionsplattformen findet oder sich selbst auf die Flohmärkte machen.

Aber das wäre fast schon ein guter Vorsatz für das neue Jahr: Für jedes Küchenutensil das passende Tuch.

Weiterlesen:
Slow-Media Weihnachtsgeschenke von jbenno (Teil II)
Let it Slow: Weihnachtsempfehlungen, Teil III

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Schrott-Nachtrag

DEN Schrott, Herr Ringier, / gibt’s nur auf Papier.

Wenn Print sich in Echtzeit versucht: Bericht über eine Show, die nicht stattgefunden hat.

(Dank an Dietmar Näher/Politblogger für das Foto)


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