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Ägypten und der Rest der Welt

Klassische Revolutionsikonografie. Foto: Richard Gutjahr

Ich weiß nicht, welche alten Reflexe mich am vergangenen Wochenende dazu bewegt haben, doch immer wieder durch die öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramme und deutsche Nachrichten-Sender zu schalten. Völlig ungerührt vom historischen Geschehen im Maghreb wurde hier das traditionell nachrichtenfreie Wochenendprogrammschema samt Florian Silbereisen und Wintersport abgehakt (ähnlich stoisch übrigens wie Präsident Mubarak seine Regierungssimulation weiterführt). Das Fernsehen hätte bei mir wirklich eine Chance gehabt, als nationales Lagerfeuer in historischen Situationen. Aber während Ereignisse wie Schnee oder Hochwasser echte Sondersendungen wert sind, schafften es 100.000ende Ägypter, die ihr Leben für etwas riskieren, das möglicherweise Freiheit ist, nicht.

Eugène Delacroix: La Liberté guidant le peuple

Stattdessen wurde fast nur während der schmalbegrenzten Norm-Nachrichten berichtet, und auch hier merkte man den Redaktionen geradezu an, wie verzweifelt sie nach “Relevanz” für die quotenrelevante Zielgruppe suchte (hier gilt offenbar der vermutete Zuschauerwunsch als Maßstab für Nachrichtentauglichkeit): Was an der Lage in Ägypten könnte den deutschen Zuschauer bloß interessieren? Und so wurde schamlos von der Lage an den ägyptischen Badestränden berichtet und von den möglichen Auswirkungen auf die deutsche Börse. Ich finde das noch heute beschämend. Das ist eine Beleidigung aller Zuschauer.

Anzeige im "Express", 30. Januar 2011

Ich sparte mir das dann und hielt es so, wie CNN mir ohnehin vorschlug: “stay with CNN”. Und mit dem englischen Al-Jazeera-Livestream. Und mit Twitteraccounts, die aus Ägypten berichteten. Und mit Richard Gutjahr. Der Nachrichtenmann des Bayrischen Rundfunks und Journalist reiste kurzentschlossen von Israel nach Kairo und berichtet per Twitter und auf seinem Blog. Alleine für die Fotos lohnt es sich, dort hinzusehen. Wer seinem Twitterstream folgt, weiß, dass er sich öfter in Israel aufhält und so eine höchst interessante Perpektive auf die Entwicklungen hat: die hiesige und die dortige. Wer weiß, dass Ägypten und Israel Nachbarstaaten sind und ein wenig im Geschichtsunterricht aufgepasst hat, muss zugeben, dass das ein Grund ist, da zuzuhören – trotz möglicher gleichzeitiger Selbstdarstellung. Der eine hält es eben so, der andere so. Thomas Knüwer meint, dass eine Unterstützung für die Roaminggebühren Richard Gutjahrs besser angelegtes Geld ist als GEZ-Gebühren. Ich bin nach den letzten Tagen geneigt, ihm zuzustimmen.

Sie sind bewaffnet: mit Fotohandys. Foto: Richard Gutjahr

So schwerfällig sich die öffentlich-rechtlichen und privaten (ja, jetzt muss man es leider sagen: alten) Medien zeigen, so schnell und unbürokratisch handeln die neuen Medien: die Unternehmen Twitter, Google und SayNow legten kurzerhand eine Wochenendschicht ein und das Ergebnis war “speak2tweet“: ein Service, der es jedem erlaubt, per Telefon Nachrichten auf Twitter zu veröffentlichen. Man wählt eine Telefonnummer, spricht seine Nachricht auf Band und diese wird unter dem Twitter-Account http://twitter.com/speak2tweet veröffentlich. Das verleiht den vom Internet abgeschnittenen Ägyptern im wahrsten Sinne des Wortes eine Stimme. Und so oft wir auf diesem Blog kritisch über Google berichtet haben (z.B. hier und hier): genau das ist es, was Medien können und auch tun sollten. Das ist wohltuend angesichts des Versagens klassischer Medien.

Foto: Richard Gutjahr

Man mag einwenden, dass diese Stimmen subjektiv sind. Ja, das sind sie. Sie sind subjektiv. Und ja, Fakten sind wichtig, aber subjektive Eindrücke eben auch (ein schönes Beispiel aus dem österreichischen Fernsehen hier). Diese Eindrücke sind wichtig und informativ – nicht nur obwohl, sondern gerade weil sie subjektiv sind. Was zählen Fakten in diesen Zeiten? Die Fakten und verifizierten Informationen können wir in Ägypten derzeit in der offiziellen Presse und den Staatssendern nachlesen und ansehen: scheinbar aufrechte Ägypter demonstrieren für Mubarak, der Präsident hat die Sicherheitslage im Griff, der Vizepräsident ist bereits dabei, die geforderten Reformen anzuweisen  und auch sonst gibt es keinerlei Grund zur Unruhe. Das ist die offizielle Version derjenigen, die gewohnt sind, Fakten zu schaffen. Alles andere sei nur Hörensagen*, die Meinung Einzelner, Subjektivität.

Aber das ist genau da, wo grade Geschichte passiert.

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* Nachtrag: “Hütet euch vor Gerüchten und hört auf die Stimme der Vernunft” heißt es in einer Propaganda-SMS, die zu verschicken die ägyptische Regierung Vodafone genötigt hat.

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Eine Auswertung dieser Situation und welche Rolle die Reaktionsfähigkeit für die Medienevolution hat, finden Sie nebenan auf dem Slow-Media-Institutsblog

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Architektur Fotografie Sprache

Le Conseil de l’Europe à Strasbourg. Ein Fotoessay.

Im November war ich in den Europarat in Strasbourg eingeladen. Dort fand eine Konferenz statt, die “Assises internationales du journalisme et de l’information”. Die Konferenz in Kooperation mit dem Europarat und dem französischen Kultusministerium hatte den Titel “Du bruit ou de l’info?”. Besonders am Herzen liegt Jérôme Bouvier, dem Organisator der Konferenz, das Thema “slow journalisme” und wie die journalistische Qualität in der heutigen Zeit rentabel sein kann. Ich war eingeladen, auf dem Podium zum Thema “Contre l’Info low cost, vive la Slow Info!” zu sprechen – als Vertreterin des “Mouvement Slow Media allemand”. Mit mir im Saal der Librairie Kléber waren Patrick de Saint-Exupéry, David Dufresne und Thomas Baumgartner, die alle – auf ihre eigene Weise und in jeweils anderen Medien – Slow Media Praxis par excellence betreiben, auf Papier, im Web, im Radio. Sehr gewinnend, dieser Eindruck über den nationalen Tellerrand. Von ihren Projekten und Geschäftsmodellen wird noch im Laufe des kommenden Jahres zu sprechen sein.

Hier nun zunächst, weil sie mich so beeindruckt hat, ein Fotoessay über die völlig abgefahrene retro-futuristische Architektur des Europarates. Sie wurde von dem französischen Architekten Henry Bernard entworfen und stammt aus dem Jahr 1977. So sah damals die Zukunft aus.

Der Plenarsaal von außen, ein organisch geschwungenes Pilzdach. Im umliegenden Gebäudetrakt befinden sich die durchnummerierten Sitzungssäle.

Kabelsalat im Europarat: Der Plenarsaal von innen.

Freie Zirkulation der Ideen: Das Interieur des Conseil de l’Europe im Eingangsbereich. Großartig. Ich widerstehe der Versuchung, den Handlauf als Kugelbahn auszuprobieren.

Die Sitzungssäle: N° 3…

… N° 6

… N° 8

… und die N° 11. Großartig.

Ich kann gar nicht genug davon bekommen.

So sehen die Sitzungssäle von innen aus: Schräge Architektur mit farblich abgestimmten Wänden, Sesseln und Simultanübersetzerkabinen.

Hier kommen schließlich die unterschiedlichsten Nationen zusammen, da wirkt Farbharmonie Wunder.

Ein Sitz im Rat.

Der abgedunkelte Saal 6, während einer Filmeinspielung. Thema der viereinhalb Stunden langen und tiefgründigen Debatte war das Bild der Banlieues in den französischen Medien. Ein sehr französischen Thema. “Dans les banlieues, les journalistes sont hors sol” – in den Vororten sind Journalisten außerhalb ihres Terrains.

Eine kleine Pause: Apéro-Presse. Auch eine sehr lobenswerte französische Erfindung.

Rauchen ist natürlich verboten. Klar, bei den Teppichböden an den Wänden…

Konferenzausrüstung mit Paul Steiger im Hintergrund. Von Pro Publica, New York (er vertritt das philantropische Geschäftsmodell).

Jetzt wieder raus, die geschwungene Treppe hinab. Beim Ausgang den Ausweis zum Auschecken aus der Sicherheitsschleuse nicht vergessen.

Das Gebäude des Conseil de l’Europe von außen: eine Festung. Erkennbar sind die schrägen Außenwände der Sitzungssäle.

Gleich nebenan: Das Europaparlament. Der Taxifahrer sagt, dass die Abgeordneten an drei Tagen im Monat statt in Brüssel in Strasbourg tagen. Als ich vorbeikam, war Licht.

Auf zum Straßburger Bahnhof, auch eine schöne Architektur. Gute 100 Jahre früher als das Gebäude des Europarates, Stahlbögen vom Ende des 19. Jahrhunderts. Von wann war noch der Eiffelturm?

Frankreich. Ein Kranz für die Helden der Résistance unter den Bahnangestellten. Zwölf Minuten Bahnfahrt später bin ich wieder in Deutschland.

[zu der Konferenz in Strasbourg siehe auch diesen Beitrag]
[Essay auch hier veröffentlicht]

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Slow communication und falsche Tramper

Ich habe soeben einen Beitrag auf TEXT-RAUM geschrieben, in dem es um eine Daimler/Benz Kampagne geht (Details zur Kampagne und möglicher Vorläufer finden Sie dort).  Weil es auch ein Thema für slow ist, greife ich hier den Gedanken der slow communication noch einmal auf.

Ein junger Tramper macht sich auf den Weg, mit dem erklärten Ziel, sich nur von einem sicheren und warmen Benz mitnehmen zu lassen – und allenfalls lieber seinen modellgeeigneten Körper der Kälte auszusetzen. Da standhaft zu bleiben ist sicherlich bei einer Temperatur von minus 10 Grad eine große Herausforderung. Olaf Kolbrück (Off the Record)  vermutet anderes: Die vermeintlich experimentelle Reportage scheint von der Werbeagentur Jung von Matt für Mercedes Benz inszeniert  zu sein, der Schnee und die Kälte sind mithin nur die malerische Kulisse für eine Authentizitäts-Aufführung erster Klasse.

“Slow Media nehmen ihre Nutzer ernst. Sie treten ihren Nutzern selbstgewusst freundschaftlich gegenüber und haben ein gutes Gespür dafür, für wieviel Komplexität […] die Nutzer bereit sind”, lautet die achte These unseres Manifestes.

Auf die Kommunikation von Unternehmen bezogen bedeutet das: Der Verbraucher möchte ernstgenommen werden. Ihm gegenüber Authentizität zu simulieren, ihm wichtige Kontext-Informationen vorzuenthalten – das bedeutet: Ihn nicht ernstnehmen. Und auf das Markenprodukt bezogen, für das eine solche Inszenierung werben soll, bedeutet das im Umkehrschluss: Wenn der Verbraucher die Wahrheit über dein Produkt und deine Interessen erfahren würde, würde er es nicht kaufen. Das ist im Falle von Daimler nicht angemessen. Verbraucher wissen, dass Unternehmen Interessen haben. Sie können das einordnen. Sie können damit umgehen. Und sie sind durchaus bereit, sich von Unternehmen und ihren Produkten überzeugen zu lassen. Sie hätten eine Reise des frierenden Helden bestimmt auch gerne verfolgt, wenn sie gewusst hätten, dass er für den neuen Mercedes-Claim “Das Beste oder nichts” antritt. Bei echtem Einsatz und wirklicher Reportage – warum nicht? Es wäre doch geradezu ein schöner Gedanke, wenn man die Werbeversprechen der Claims auf diese Weise einmal auf Leib und Nieren prüft. Und selbst wenn auf der Reise Unerwartetes passiert, ja selbst wenn der Held in den Bergen die Reise abbrechen müsste – was hätte man denn verloren? Man hätte ein wenig Kontrolle über die Geschichte abgegeben, aber man hätte an Glaubwürdigkeit gewonnen.

“Slow Media werben um Vertrauen”, These 14. Sie lässt sich nahtlos auf die mitgedachte “slow communication” übertragen. Um Vertrauen Werben. Hinter slow communication stehen echte Menschen. Und das merkt man auch. Mit einem falschen Tramper lässt sich keine slow communication machen. Es sei denn, man sagt, dass er falsch ist. Dann vielleicht schon.

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Alltag Fotografie Geschichte Slow theory

Instagram – die digitale Avantgarde entdeckt den Shabby chic

Digital Photography Never Looked So Analog
Claim der iPhone-App Hipstamatic

Ich habe in den 1980er Jahren hin und wieder mit einer Kleinbildkamera fotografiert. Die Bilder die ich damals aufgenommen hatte, waren nichts besonderes, sondern Häuser, Straßenzüge, Bäume, Menschen und so weiter. Wenn man sich diese Bilder heute ansieht, wird sofort klar, dass dies Bilder aus der Vergangenheit sind. Auf den Bildern sieht man Autos der 1980er, Mode der 1980er und zahlreiche Häuser, die mittlerweile schon längst abgerissen wurden.

Das Postamt Forchheim in 1930er-Jahre-Farben aufgenommen. Mit Instagram braucht man dafür nur das passende Wetter und ein paar Klicks.
Das Postamt Forchheim in 1930er-Jahre-Farben aufgenommen. Mit Instagram braucht man dafür nur das passende Wetter und ein paar Klicks.

Aber nicht nur die Bildinhalte erinnern an die Vergangenheit, sondern auch die Farben, Texturen und Formate. Viele Fotos sind mittlerweile etwas ausgeblichen, und Bildformate wie das nahezu quadratische Polaroid-Bild sieht man heute auch nicht mehr so häufig. Kurz: Man erkennt die Zeit, die seit den Bildern meiner Kindheit und Jugend vergangen ist, sowohl an den Inhalten als auch an den Oberflächen ihrer Bilder.

Wahrscheinlich ist das auch die Faszination von Anwendungen wie Hipstamatic oder Instagram – die Möglichkeit, hier auf die eigenen Handyfotos eine falsche Patina aufzutragen, durch die diese Bilder dann so wirken, als ob sie in den 1960ern, 1970ern oder 1980ern fotografiert wurden. Es ist tatsächlich ein seltsames Gefühl, auf einmal per Facebook und Twitter mit lauter Shabby-chic-Fotos aus dem Leben meiner Freunde und Bekannten überschüttet zu werden, die so aussehen als würden sie in einer Parallelwelt leben (manche geben sich besondere Mühe und verwenden z.B. für die Fotografie eines Ford Granada den passenden Zeitfilter).

Ein Bahngebäude in der Nähe von Erlangen, nicht in den 1970er Jahren fotografiert, sondern 2010.

Hier entsteht en passant ein digitales Niemandsland, eine im wahrsten Sinne nostalgisch eingefärbte Utopie. Denn diese Welt hat es nie gegeben. Meine Jugend war genauso wenig verblichen oder knallbunt wie der Alltag meiner Großeltern schwarz-weiß. Hier lässt sich der Gedanke der Atemporalität noch eine Windung weiterdrehen: Nicht nur die Allgegenwart des Vergangen, sondern zugleich auch die wohlfeile Simulation einer Vergangenheit, die in Wirklichkeit nie stattgefunden hat, sich aber “einfach nur gut anfühlt”.

Dieser Wohlfühlkonservativismus, so meine Vermutung, kommt gerade in der digitalen Avantgarde besonders gut an. Ein bisschen erinnern mich diese visuell von Nostalgie triefenden Medienproduktionen immer an die Straßennamen der in Bayern überall anzutreffenden Vertriebenensiedlungen, die, wenn schon ihre alte Welt nicht mehr existiert, wenigstens die Möglichkeit bieten, auf dem Stadtplan noch in der Vergangenheit zu leben. Sind Apps wie Instagram die Graslitzer Straße oder der Egerlandplatz der heute 30-40-jährigen digitalen Immigranten?

Spätestens seit der ikonischen Wende ist klar geworden, dass Bilder immer auch eine politische Aussage in sich tragen. Barack Obama hat die Wahl mit einem an Warhol erinnernden Wahlplakat gewonnen. Gerade für neu- wie altkonservative Politiker müsste so etwas wie Instagram doch sehr attraktiv erscheinen: Die Möglichkeit, sich selbst in einer Welt präsentieren, die so aussieht wie die gute alte Zeit, in der Volksparteien noch Volksparteien waren und langhaarige Chaoten noch langhaarige Chaoten.

Kein Bild aus einem verschollenen Nachlass, sondern der Rosenheimer Bahnhof vor ein paar Tagen

Was bedeutet das alles aus unserer Slow-Media-Perspektive? Die Simulation von Slow ist noch längst nicht Slow. Ansonsten kann man nur die Empfehlung aussprechen, die heutigen Handyfotos doch einfach in fünf Jahren noch einmal anzusehen. Dann werden sie nämlich wie durch Zauberhand ebenfalls altmodisch aussehen. Ob die Erinnerung an das Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts dann einen ebenso wohlig-eskapistischen Geschmack hat, wie die Jugend- und Kinderjahre, ist allerdings zweifelhaft.

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Lesenswert ist auch die Kurzzusammenfassung dieser Debatte auf SAI: “Instagram backlash begins!

Nachtrag: Jetzt hat sich auch @bosch in seinem Blog der Frage, warum wir die ohnehin schon “unzulänglichen Handyaufnahmen” mit Hilfe von Appes noch weiter verschlechtern müssen.