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Routen

So wenig als möglich sitzen;
keinem Gedanken Glauben schenken,
der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung –
in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.
(Friedrich Nietzsche)

Gestern passten endlich einmal wieder Terminkalender und Wetter zusammen, so dass ich mit dem Fahrrad die insgesamt 34km zur Arbeit und wieder zurück fahren konnte. Ein bisschen ist das Fahrradfahren durch die Stadt wie das Flanieren – wenn man sich die Zeit dafür nimmt und auch nach rechts und links schaut. Ist Walter Benjamin ein Radler gewesen? Ich denke nicht. Aber zu Benjamins Zeit waren die Autos wohl eher das, was die Räder heute sind.

Besonders angenehm ist an einem solchen Sommertag mit Temperaturen über 30 Grad natürlich die Fahrt aus der Stadt hinaus. Man spürt mit jedem Kilometer, wie das Städtische weicht. Am Stiglmaierplatz und in der Papenheimstraße spürt man noch ganz deutlich die Stadt (obwohl es gar nicht so lange her ist, dass dort, wo heute der Augustinerbiergarten ist, vor den Toren der Stadt die Verbrecher hingerichtet wurden) und radelt an ehemals staatstragend-repräsentativen Bauwerken wie die massige Oberpostdirektion mit ihrem expressionistischen Gebäudeschmuck vorbei – heute hat sich irgend ein halbgebildeter Gentrifizierer in der Hoffnung auf zahlungsfreudige Werbeagenturmieter die sinnfreie Bezeichnung “Art-Deco-Palais” dafür ausgedacht.

Viel zu oft radelt man in der Stadt in einem Pulk. Hier ist die Bezeichnung “Individualverkehr” für das Fahrrad eigentlich gar nicht mehr zutreffend. Die Fahrradkolonne ist in Wirklichkeit schon längst ein öffentliches Personennahverkehrsmittel. Je weiter man sich aber vom Zentrum entfernt, desto mehr Platz hat man zum Fahren. Immer häufiger trifft man auf andere Radfahrer, die nicht in die selbe Richtung fahren, sondern einem entgegenkommen oder den eigenen Weg kreuzen. In der Stadt scheint alles in eine Richtung zu fahren: in die Vorstadt.

Je öfter man denselben Weg zu und von der Arbeit nimmt, desto mehr wird der Weg zur Route, deren Verlauf sich fast schon körperlich in einen hineinschreibt. Meine Route sagt mir genau, an welcher Stelle ich eine Straße überquere und wo ich an einer Ampel stehenbleibe. Sogar die Variationen sind von der Route festgelegt. An mehreren Stellen habe ich die Möglichkeit, von der schnellsten, kürzesten, am besten befahrbaren Route abzuweichen. Aber es sind keine spontan gewählten Veränderungen des Weges, sondern so etwas wie “Standardabweichungen”. Alles andere wäre schon Verfahren. An dieser Stelle hat das Radfahren nicht mehr sehr viel mit dem Flanieren zu tun, wie wir uns das aus 160 Jahren Abstand vorstellen. Wahrscheinlich waren aber auch die professionellen Flaneure des 19. Jahrhunderts viel stärker auf ihre jeweiligen Pfade oder Routinen festgelegt als der Begriff des ungezwungenen, ziellosen Flanieren es uns heute suggeriert.

Wer Tag für Tag immer dieselbe Route nimmt und dabei wenigstens ein bisschen flaniert, wird sensibilisiert für alle Veränderungen, die sich auf dem Weg ereignen. Plakate werden überklebt, Häuser werden abgerissen und neu gebaut, Vorstadtidyllen werden zu Hauptverkehrsachsen oder nationalsozialistische Vorzeigesiedlungen verwandeln sich in, nun ja, ehemals nationalsozialistische Vorzeigesiedlungen mit Stoffsegeldekoration und Buddhastatuen. Manche Veränderungen passieren so langsam, dass man sie ohne den Zeitrafferblick des täglichen Vorbeifahrens gar nicht so richtig erkennt.

Die Gleise der ehemalige Straßenbahnlinie 16 zum Beispiel, die noch bis in die 1980er Jahre zum Lorettoplatz gefahren ist, wachsen von mal zu mal dichter zu, bis man sie kaum noch erkennen kann. Jetzt sollen sie endgültig entfernt werden und an ihrer Stelle soll ein Naturlehrpfad entstehen. Nicht dass ich der Meinung wäre, man müsse alles konservieren und auch die ehemalige Verkehrsinfrastruktur, die viel mehr verrät über das Bild der Stadtplaner von ihrer Stadt als die programmatische Literatur des städtischen Bauamts, unter Denkmalschutz stellen. Aber zumindest dokumentieren sollte man die Spuren, die noch übrig geblieben sind von der Zeit, in der man mit der Straßenbahn auf die Gräber gegangen ist und nicht wie heute mit dem Bus. Überhaupt lässt sich der Rückbau des städtischen Schienenverkehrs hin zum Busverkehr an diesem Beispiel sehr deutlich sehen.

Obwohl in diesem Fall die Dokumentation bereits von den Schienenhistorikern übernommen wurde, die vor allem im Internet alle Veränderungen der Verkehrsnetze dokumentieren. Wahrscheinlich treffen sie sich im Kastaniengarten, Münchens gemütlichsten Eisenbahnerbiergarten im Westend mit ordentlicher kroatischer Küche, und tauschen dort ihre Erinnerungen über historische Fahrten aus.

Irgendwann lässt man dann die Stadt ganz hinter sich und taucht ein in die vorstädtischen Parks wie zum Beispiel den Forstenrieder Park oder Forst Kasten im Südwesten Münchens. Dort ist die Luft zwar noch nicht durchgehend kühler, aber wenigstens fährt man ab und zu durch Flecken, die von der Sonne den ganzen Tag über nicht berührt werden. Oder Flecken, an denen der Boden auch Stunden nach dem Gewitterregen noch aufgeweicht ist und die Pfützen nur langsam verdunsten. Die Luft ist vielfältiger hier. Auch werden die Hunde nicht mehr in Fahrradanhängern durch die Stadt gekarrt, sondern laufen neben den Joggern her.

Wenn die Schienen und die Wendeschleife der Tramlinie 16 schon längst verschwunden sind und allenfalls auf Google Maps oder von Luftbildarchäologen erkennbar sind, werden die Spuren der staatlichen Forstwirtschaft immer noch klar sichtbar sein. Die Geräumten Wege des Forstenrieder Parks oder von Forst Kasten werden auch noch die nächsten dreihundert Jahre überdauern, auch wenn es hier nicht mehr darum geht, das Wild dem jagenden Kurfürsten vor das Gewehr zu treiben.

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Leistung oder Wirkung?

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Remember that time is money.
Benjamin Franklin, Advice to a Young Tradesman

Als Benjamin Franklin mit dem Blitzableiter erst “dem Himmel den Blitz” und in der amerikanischen Revolution auch noch “den Tyrannen das Szepter” entrissen hatte, konnte kaumnoch irgenjemand an den Worten dieses titanenhaften Helden der Aufklärung zweifeln. Dessen berühmtestes Zitat aber hat weder mit Naturforschung noch mit Staatskunst zu tun, sondern stellt eine Regel auf, die für die kommenden zweihundert Jahre das Credo einer effizienzorientierten Wirtschaft werden sollte: “Zeit ist Geld”.

Der physikalische Begriff der Leistung P ist definiert als Arbeit W (beziehungsweise Energie, dann auch mit E abgekürzt), die pro Zeiteinheit t erbracht (bzw. verbraucht) wird. Damit entspricht die Formel P = W / t auch ziemlich gut dem alltagssprachlichen Verständnis von Leistung: fertigt ein Fabrikarbeiter 100 Werkstücke pro Stunde, so erbringt er die doppelte Leistung seines Kollegen, der für die selbe Anzahl zwei Stunden braucht. Und selbstverständlich gehen wir davon aus, dass der erste Arbeiter für seine höhere Leistung auch mehr Lohn erhalten sollte.

Und genau da endet auch schon die Analogie von Physik und Wirtschaft. Denn es ist sicher nicht so, dass eine hochbezahlte Führungskraft tatsächlich mehr leistet, als der Angestellte auf Sohle 7 der Unternehmenshierarchie. Diesen Gedanken verfolgt der Blogger und Filmemacher Werner Große in seinem Post auf den Wissenslogs. Ein anderer physikalischer Begriff erklärt nämlich viel besser, wonach sich in der post-industriellen Wirtschaftswelt Gehaltsunterschiede idealer Weise gründen: die Wirkung.

Die Wirkung in der Physik ist nicht zu verwechseln mit der Kausalität (Ursache/Wirkung). Wirkung S ist hier definiert als Arbeit mal Zeit (bzw. Energie mal Zeit). In Formel

S = E ⋅ t

Die einfachen mathematischen Gleichungen, indenen sich die Begriffe ausdrücken lassen, führen schnell zum Punkt, was das alles mit Slow Media zu tun hat: Nachdem die Leistung gleich Arbeit durch Zeit ist (P = E / t), hängen Wirkung und Leistung ebenfalls eng zusammen: S = P ⋅ t2
In Worten: ich kann die selbe Wirkung erzielen mit halber Leistung, aber in vierfacher Zeit.

Damit ist klar, dass Leistung, an sich betrachtet, schnell in hirnlose Energieverschwendung mündet – Hauptsache viel geschafft! Von anderer Seite betrachtet, wird die Bedeutung der Wirkung noch klarer. Auf ihrer lesenswerten Seite über “Grundfragen der Physik, neu gestellt und beantwortet von einer Frau” schreibt Brunhild Krüger:

Angenommen, mir stünden 1 kWh an Energie zur Verfügung:
Mit einer Glühlampe, die eine Leistung von 100 Watt hat, könnte ich damit einen Raum für 10 Stunden ausleuchten. […] Will ich jedoch nur ein Buch lesen, genügt eine Tischlampe mit 40 Watt, die ich 25 Stunden lang betreiben kann, ehe die verfügbare Energie verbraucht wäre.[…]
Je geringer die eingesetzte Leistung ist, um so mehr hat man von der vorhandenen Energie.

Immer mehr Leistung – das bedeutet immer mehr Energie in noch kürzerer Zeit zu verbrauchen. Aber in der Regel kommt es doch darauf an, welche Wirkung erzielt wird. Das gilt für Maschinen genau wie für Publikationen. Statt auf Leistung zu pochen, wie in der grauenhaften Diskussion um den sogenannten Leistungsschutz der Verlage, sollten die Publizisten besser dafür sorgen, dass ihre Arbeit Wirkung zeigt.

Mit etwas Glück und Salz und mit Pfeffer
Erzielt man manchmal völlig ungeahnte Treffer
Ist denn Verlass, dass das nachher schmeckt?
Die Hauptsache ist der Effekt

Günter Neumann, “Giftmischerrumba”

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Langsamkeitspflege

Die eigentliche Innovation, die mit der Hilfe des Bloggens in die Medienlandschaft geschwappt ist, war in Wirklichkeit nie die Echtzeit. Nein, der entscheidende Unterschied zwischen “normalen” Webseiten oder Portalen und Blogs ist das Archiv und die wundervollen Möglichkeiten der “Langsamkeitspflege” (Odo Marquard), die sich daraus ergeben, wie Don Alphonso hier feststellt.

Als Don Dahlmann vor drei Jahren geschrieben hatte, “man soll[t]e echt mal eine Übersicht über die deutsche Blogszene machen, denn da geht sehr schnell, sehr viel verloren,” habe ich das Blog History Project ins Leben gerufen. Der Versuch, eine Übersicht über die Geschichte der deutschsprachigen Blogosphäre aufzuzeichnen.

Von den ersten Anfängen vor 14 Jahren – Robert Braun, Cybertagebuch und Moving Target über die erste Bloggerwelle 2001, die sogar in der ein oder anderen Zeitung bemerkt wurde, bis zu der großen Blogeuphorie Mitte der 2000er Jahre. Jetzt ist diese Geschichtsschreibung selbst schon wieder drei Jahre her, aber das schöne ist: fast alle Blogs und ihre Archive sind immer noch vorhanden. So viel geht hier gar nicht verloren.

Interessanterweise habe ich in der oral history die Erfahrung gemacht, dass sich zentrale Infrastrukturen wie zum Beispiel Postämter, in die fast jeder Bürger einer Gemeinde mehrmals im Jahr, Monat oder gar in der Woche zum Geldabheben, Briefeaufgeben, Telefonnummern nachschlagen etc. gegangen ist, nach dem Abriss allerhöchstens 10 Jahre in der Erinnerung halten.

Teilweise sind sie trotz (oder wegen?) ihrer Banalität und Alltäglichkeit nicht einmal photographisch dokumentiert – oder vielleicht nur auf dem Medium, das alle immer für ebendiese Banalität kritisieren. Ich vermute, dass man auf Twitter mehr Abbildungen des auf seine Weise wunderschönen mittlerweile abgerissenen Aschaffenburger Bahnhofs findet als in den Archiven des Stadtbauamts.

Wahrscheinlich werden wir unsere Blogs auch in 20 Jahren noch kennen und zum Teil immer noch in ihren Archiven stöbern können, während politische Echtzeitfiguren wie Ursula von der Leyen oder Horst Köhler schon längst in verstaubten, vergilbten und mit Spinnenweben verhangenen Winkeln der Wikipedia vor sich hin schlummern. Und das ist gar nicht einmal die schlechteste Entwicklung.

Die Literaturempfehlung hierzu ist das sehr lesenswerte Buch von Florian Aicher und Uwe Drepper über den Architekten Robert Vorhoelzer, den Mittelpunkt der gleichzeitig so bayrischen wie unbayrischen Postbauschule der 1920er Jahre.

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Was vom Druck übrig blieb

Gestern war Sperrmüll bei der Druckerei nebenan. Nachdem ich gestern schon ein großes O und drei Schubladen mit zu mir nach Hause genommen habe, bin ich heute morgen noch einmal an derselben Stelle vorbeigekommen. Der Sperrmüllwagen mit der großen Müllpresse hatte schon die sperrigen Müllberge in seinem Inneren verdaut und war weitergefahren. Die städtischen Angestellten hatten die kleinteiligen Reste in vorbildlicher Weise auf dem Bürgersteig zusammengekehrt. Trotzdem fand ich in den Winkeln des Kopfsteinpflasters noch winzige Lettern, winzig, zu klein für den Kehrbesen.

Und beim Anblick dieser winzigen ös und is und einem zierlichen c mit mikroskopischem Cedille kommt mir ein Gedanke: Wie unglaublich mühselig es war, etwas mit diesen winzigen Lettern aufs Papier zu bringen. Fingergeschick, Augenmaß, Laufweite, Winkelhaken, krummer Rücken. Und heute klickt man auf “publish” und fertig.

Weitere Beiträge zum Thema Druck:

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Slow Media und die knappe Zeit

Hat einer dreißig erst vorüber,
so ist er schon so gut wie tot.

Goethe, Faust II

“Warum Slow Media?” Die Frage bekommen wir auf unseren Veranstaltungen und in vielen Gesprächen immer wieder gestellt. “Was hat euch dazu gebracht, für mehr Langsamkeit im Mediengebrauch einzutreten?” Für mich ist Hippokrates vielzitierter Aphorismus Ὁ μὲν βίος βραχύς, ἡ δὲ τέχνη μακρά (bzw. Senecas noch prägnantere Form vita brevis, ars longa) das Fundament von Slow Media – ja, überhaupt von allen Strömungen der Slow-Bewegung.

Das Leben ist schlicht zu kurz, um sich mit schlechten Dingen zu umgeben, von schlechtem Essen zu ernähren oder eben schlechte Zeitschriften, Internetseiten oder Bücher zu lesen. Gerade in der Mitte des Leben rückt die letzte deadline (was für ein passender Begriff) unaufhaltsam näher und lässt sich nicht mehr aufhalten. So mäht der Tod von Altötting die Sekunden der verbleibenden Zeit mit der Sense.

Die entscheidende Frage, die in der Geistesgeschichte zu unterschiedlichen Antworten geführt hat, lautet: Wie umgehen mit diesem Missverhältnis zwischen Begrenztheit des Lebens und Unbegrenztheit der Künste? Wie umgehen mit dem Bewusstsein, sich allenfalls mit einem winzigen Bruchteil aller Bücher, Filme, Zeitschriften, Menschen näher auseinandersetzen zu können? Ganz grob skizziert, gibt es einen quantitativen und einen qualitativen Weg durch diese Zwickmühle.

Der quantitative oder auch protestantische Weg sieht vor, mit Hilfe eines strikten Plans, einer timetable, möglichst viel von dem Potential auszuschöpfen. Benjamin Franklins Losung “Zeit ist Geld” ist der deutlichste Ausdruck dieser Philosophie, bei der es darum geht, jede Sekunde des Tages in Wert zu setzen und nichts von dieser kostbaren Ressource durch Faulenzen oder gar Genuss zu vergeuden. Sparsamkeit ist das Ideal, nach dem die kurze verbleibende Lebenszeit ausgerichtet werden soll.

Ganz anders sieht der andere Weg aus, in dem es um die Qualität der kurzen Zeit geht. Hier ist es nicht das Ziel, möglichst viel Geschäfte in die begrenzte Zeit hineinzupressen – junge Erwachsene in den USA schaffen es zum Beispiel durch Parallelnutzung unterschiedlicher Medien 10:45 Stunden Medienzeit in nur 7:38 Stunden Lebenszeit zu stopfen, so dass Franklin angesichts dieser Effizienz sicher Beifall klatschen würde  -, sondern die Zeit möglichst gut zu verbringen. Unser Slow-Media-Manifest könnte man auch in einem Satz zusammenfassen: Die Zeit ist zu knapp für schlechte Medien.

Der Collège de France-Romanist Harald Weinrich beschreibt in seinem Buch “Knappe Zeit”, das ich an dieser Stelle wärmstens empfehlen kann, alle denkbaren Facetten dieses Phänomens. Im Mittelpunkt steht dabei der Dualismus zwischen dem greisen Chronos, der wie der Tod z’Eding unerbittlich mit hohem Tempo dem Ende entgegenrast, und dem jugendlichen Kairos, der auch optisch den weisen Gebrauch der Zeit beschreibt:

[A]ls auffälligstes Merkmal trägt er den Kopf fast kahl geschoren. Nur an der Stirnseite ist ein Haarschopf stehengeblieben. Will ein Irdischer diesen behenden Gott fassen und festhalten, so muß er ihn frontal annehmen und versuchen, ihn beim Schopf zu ergreifen. Wenn dieser Zugriff mißlingt, dann findet die Hand an dem glatten Schädel keinen Halt, und schon ist die rechte Zeit verpaßt und entglitten.

Auf für Medien gibt es einen rechten Zeitpunkt. Nicht jedes langsame oder schnelle Medium ist für jeden, immer und überall das richtige. Aber in vielen Fällen ist die langsame, inspirierende und nachhaltige Option die angenehmere Wahl, die das Gefühl vermittelt, die knappe verbleibende Zeit des Lebens gut erfüllt zu haben.

Paradoxerweise ist dies häufig auch die kostengünstigere Option. So wie der Kauf eines sehr guten, nie benutzten Teeservices aus Porzellan von 1957 auf dem Flohmarkt viel günstiger kommt als der Einkauf von namenloser Industrieware bei schwedischen Einrichtungshäusern oder von wie-alt-produzierter Ware in Nostalgiesupermärkten, ist der Genuss sehr gut hergestellter Bücher, die bereits eine Patina besitzen, günstiger als das Sammeln von Billig-Editionen der Tageszeitungsverlage. Slow Media ist aber nicht als Plädoyer für etwas, was man in Anlehnung an Stilmöbel als Stilmedien bezeichnen könnte, zu verstehen, sondern für authentische Medien, seien es neu am Zeitschriftenstand gekaufte (Wired, Intelligent Life, Make, Brand eins) oder eben Erbstücke. Für alles andere ist die Zeit zu schade.

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Slow theory

Virtueller Rundfunk

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“What men share with all other forms of animal life was not considered to be human.”

“Action, the only activity that goes on directly between men without the intermediary of things or matter, corresponds to the human condition of plurality … this plurality is specifically the condition — not only the conditio sine qua non, but the conditio per quam — of all political life.”

“The distinctive trait of the household sphere was that in it men [sic] lived together because the were driven by their wants and needs.”

“Force and violence are justified in this [oiconomic] sphere because they are the only means to master necessity.”

“Society always demands that its members act as though they were members of one enormous family which has only one opinion and one interest”

Hannah Arendt, ‘The Human Condition’

Der Körper – unsere Conditio Humana – fesselt uns an die Erde und gibt unserem Verlangen nach Freiheit natürliche Grenzen. Diese alltägliche Erkenntnis führt Hannah Arendt zum zentralen Gedanken ihrer Philosophie von der ‘Human Condition’ (deutsch ‘Vita activa oder vom tätigen Leben’). Im Gegensatz dazu steht unsere Fähigkeit, zu Handeln, wenigstens zeitweise, aus der körperlichen Beschränktheit herauszutreten, uns als Personen zu unterscheiden, mit anderen zusammen die Polis zu bilden, die Öffentlichkeit.

Arbeit, Wirtschaft (Ökonomie) gehören in diesem aristotelischen Bild dagegen vollständig ins Reich des Privaten, des Oikos. In den modernen Gesellschaften ist eine Beschränkung von Arbeit und Produktion auf den privaten Haushalt nicht mehr möglich; Öffentlichkeit vermischt sich mit Privatheit – es kommt zu einer “Veröffentlichung” von Ökonomie und damit zu einer “Privatisierung” von Öffentlichkeit – mit gravierenden Folgen: die Freiheit, die den Öffentlichen Raum ausgemacht hatte, wird durch diese Vergesellschaftung, die Hannah Arendt als “rise of the social” bezeichnet, der “animalischen” Bedürfnisbefriedigung ökonomischer Interessen untergeordnet. In einer oikonomisierten Polis ist es nur noch schwer möglich, immaterielle Ziele zu setzen und Werte außerhalb der Ökonomie zu verfolgen.

***

Das Internet ist schon oft als moderne Agora bezeichnet worden – auch der Begriff Forum wird im Netz schließlich nicht von ungefähr verwendet. Tatsächlich schien zunächst das Internet als perfekter öffentlicher Raum, indem sich eine freiheitliche Gesellschaft perfekt entfalten könnte.

Wirtschaftsunternehmen wie Google, Facebook, Twitter etc. stellen heute elementare Bestandteile der Internet-Infrastruktur dar. Um im Bild von Hannah Arendt zu bleiben – der Einbruch des Ökonomischen in die politische Sphäre.

Ein Beispiel soll die sehr handfesten Folgen dieser – aus meiner Sicht notwendigen und kaum vermeidbaren Entwicklung – verdeutlichen:

Das „Collateral Murder“-Video, welches Wikileaks veröffentlicht hatte, war lange Zeit zuvor der Washington Post bekannt. Als Wikileaks schließlich das Video auf Youtube gestellt hatte, wurde es sogleich – wohl auf Druck der US Regierung – von wieder gelöscht. Nur internationaler Druck und die Prominenz von Wikileaks hat Google dazu gebracht, das Video wieder Online zu stellen.

Hier sehen wir elementar das Thema Pressefreiheit berührt – was nützt unabhängiger Journalismus, wenn die Veröffentlichung keinen mehr erreicht, weil die (Privat)-Unternehmen, die monopolistisch den Zugang kontrollieren, und viellicht sogar zensieren? Und zwar nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus ökonomischem Kalkül.

***

Eine Website, die auf Google nicht gelistet wird, existiert de facto nicht; ein Buch, dass Amazon nicht anbietet, kann man gleich wieder einstampfen; Musik, die i-tunes nicht listet, wird kaum gehört werden. Es ist höchste Zeit, dass wir – als Gesellschaft– aktiv werden, Initiative ergreifen, die Stimme erheben. Und zwar nicht, indem wir versuchen, über Regelungen und Gesetze alles in den alten Bahnen festzuzementierten (das wird ohnehin nichts bewirken). Nein, es ist vielmehr wichtig, eine aktive Rolle einzunehmen und nicht nur zu reagieren.

Über viele Jahrzehnte bestand kein Zweifel, dass die Medien Teil der Polis und nicht des Oikos sind. Für Medien als Öffentlichkeit gibt es minimale Rahmenbedingungen:

  • Diskriminierungsfreien Zugang (alle Informationen stehen allen Nutzern gleichermaßen zur Verfügung)
  • Netzneutralität (jeder Publisher hat das gleiche Recht, seine Inhalte zu distribuieren)
  • Pluralismus (der Angebote)
  • Gesellschaftlicher Einfluss (klare Repräsentation ethischer und kultureller Werte)

In der europäischen, aber vor allem (bundes)deutschen Medientradition seit dem zweiten Weltkriegs wird das besonders im Rundfunkrecht deutlich. Aus diesen Regeln demokratisch-politischer Medienkultur wurden die großen öffentlichen Rundfunkanstalten entwickelt, die über Jahrzehnte einen wesentlichen Platz im öffentlichen Leben der europäischen Gesellschaften eingenommen haben.

Indem das Internet den Rundfunk nicht etwa substituiert (dann wäre es einfach, die Regeln mehr oder weniger unverändert zu übertragen), sondern weit über diesen klassischen Medienbegriff hinausweist, die klassischen Medien dabei aber in ihrer Bedeutung ablöst, verschwindet auch der Einfluss dieser Medien auf unsere Gesellschaft.

Deshalb brauche wir eine Diskussion über ‚Virtuellen Rundfunk‘, über ein öffentliches (oder öffentlich-rechtliches) Internet.

Nachtrag

Das Konzept “Virtueller Rundfunk” ist inzwischen eine offizielle Position der Piratenpartei Nordrhein-Westfalen:
Position 7.5. **2**

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Architektur Kunst Slow theory

Springende Strahlen

So schön auch die Gärten angeleget sind,  ist doch ihre Schönheit wie todt, wenn keine Springbrunnen oder andere Wasserkünste darinnen sind.
(August-Charles d’Aviler, “Von der Verzierung der Gärten”, 1699)

Wir pflegen auf diesem Blog einen eher weiten Medienbegriff. Auch wenn es pensionierten Deutschlehrern und Krypto-Nationalisten ein Dorn im Auge sein mag – wir bleiben bei dem Lehnwort Medium, diesem “Gastarbeiter der Sprache“, der sich nur höchst plump und kaum verständlich durch Überträger oder Mittler ins Deutsche übersetzen ließe. Medien sind für uns alle möglichen Erweiterungen menschlicher Sinne, wie McLuhan das in der Formel “Extensions of Man” gefasst hat. Alles, was der Mensch in der Gegenwart verwendet und in der Vergangenheit verwendet hat, um sich auszudrücken oder um wahrzunehmen, ist für uns Medium genug.

Dazu gehören offensichtliche Medien wie Zeitungen, Zeitschriften oder Onlinedienste, aber auch nicht offensichtliche Medien wie Panoramen, Architektur oder die Haute Cuisine. Sogar die Fontäne hat mediale Eigenschaften. Wer meine Twittermeldungen verfolgt, hat vielleicht mitbekommen, dass ich derzeit mit dem Gedanken spiele, das defekte Steigrohr des Bassins in meinem Garten zu ersetzen. Aber bevor sich ein Nerd an so eine Arbeit macht, wird zunächst einmal die Literatur zum Thema gesichtet. Dabei gilt eine Art impliziter geisteswissenschaftliche Imperativ: “Verrichte jede Tätigkeit so, dass sie zur Grundlage einer Dissertation werden könnte.”

Für mich ist der Medienbegriff in erster Linie eine Werkzeug, präziser: eine Sonde. Man sieht bestimmte Dinge, wenn man Phänomene *als* Medien betrachtet und analysiert. Ob es in Wirklichkeit Medien *sind* oder nicht, ist für mich eher irrelevant. Alles was zählt ist, dass man sie als Medien benutzen und betrachten kann.

Zurück zur Fontäne. Das kunstvolle Wasserspiel ist schon länger ein sterbendes Medium. So bemerkt der Münchner Architekt und Zeichenlehrer Hermann Mitterer 1833 in seiner postum erschienenen Anleitung zur Hydraulik für praktische Künstler und Werkmeister mit vorzüglicher Hinsicht auf das Brunnenwesen:

Die springenden Strahlen wurden vormals als eine vorzügliche Zierde der Gärten angesehen, und kein Garten konnte damahls ohne springende Wässer angelegt werden; in unsern Tagen aber, wo die englische Gärtnerey die vormahlige Französische oder symetrische verdrängt hat, sind diese Kunstwerke fast gänzlich außer Anwendung gekommen. Was noch zum Teil besteht, sind die ganz dicken, und sehr hohen Wasserstrahlen, die sich in einigen fürstlichen Lustschlösschen befinden.

Auch hier also wiederholt sich die oben erwähnte Kritik an Anglizismen, wenn auch bezogen auf landschaftsgärtnerische statt sprachliche Anglizismen. Der Vergleich der Fontäne mit Kunstwerken weist in diesem Ausschnitt aus einem technischen Lehrbuch – der Hauptteil des Textes bezieht sich auf die Berechnung des notwendigen Rohrdurchmessers – schon in die Richtung eines medialen Verständnisses des Wasserspiels und die “englische Gärtnerey” bezeichnet eine Formensprache.


Auf die Medientheorie trifft man in den physikalischen Springbrunnenschriften des späten 18. Jahrhunderts ebenfalls wie etwa in dem Physikalischen Wörterbuch von Johann Gehler, in dem sogar einer der medienwissenschaftlichen Lieblingsbegriffe vorkommt:

Die Theorie der Springbrunnen ist höchst einfach und lässt in ihren Elementen leicht auf die Gesetze und Erscheinungen der communicierenden Röhren zurückführen […] Man drückt diesen Satz auch wohl so aus: das Wasser steigt so hoch, als es fällt.

Die Theorie gleitet hier ab ins Philosophische. Doch wie sieht’s mit der Praxis aus?

Blickt man etwas weiter in die Vergangenheit, zum Beispiel in die Ausführliche Anleitung zu der ganzen Civil-Baukunst des französischen Hofbaumeisters und Vignolisten Augustin-Charles d’Aviler gegen Ende des 17. Jahrhunderts, dann eröffnet der Blick auf die Funktion des Wasserspiels im französischen Garten.

Es geht um das System, die gesamte Grammatik der Gartenbaukunst, in die sich “Springbrunnen oder andere Wasserkünste” einfügen müssen, denn “es stehet zwar ein kleines Bassin in einem grossen Luststück lächerlich; aber eben so ungereimt kommet ein grosses heraus, welches den grösten Theil von dem Luststück einnimmet”. Auch ein zu hoher Trieb bei einem zu kleinen Becken – die runde Form ist zwar die gemeinste, aber zugleich die schönste – ist zu vermeiden, so dass “der Wind das Wasser nicht darüber hinaus treiben kan”. Man denkt zunächst an Gärten, die mit natürlichen Wasserquellen gesegnet sind und womöglich sogar eine Hanglage besitzen, aber auch im Falle eines trockenen, ebenen Gartens sind Wasserkünste möglich:

An Gärten, denen der Platz und das Wasser so vortheilig nicht liegen, kan man das Regenwasser samlen, oder Brunnen graben, und durch Pompen in die Höhe treiben, oder mit Druckwerken.

Regen gibt es hier zur Zeit in der Münchner Schotterebene bei weitem genug. Aber das Bassin ist nicht rund, sondern achteckig und nicht besonders groß. Vielleicht wird es dann doch nichts mit den munter zu Lullys musikalischen Wasserspielen springenden Künsten, sondern eher ein dicker englischer Wasserstrahl.

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Musik Slow theory

Slow in Oslo oder Das Wagen von Eigenartigkeit

Natürlich ist Authentizität eine Fiktion. Natürlich ist Lena nicht mehr wirklich “natürlich” und “authentisch” nach diesen Monaten. Und dennoch gibt es etwas, was diese Lena Meyer-Landrut von den anderen unterscheidet. Was ist das?

Sie hatte den Mut abzuweichen. “Sing etwas anderes”, sagten die Profis, als sie zu Beginn des “Unser Star für Oslo”-Auswahlverfahrens das Lied singen wollte, mit dem sie sich beworben hatte. “Sing ein Lied, das die Leute auch kennen.” Nein, sie bestand darauf, ihr eigenartiges Lied zu singen, das keiner kennt. Natürlich hätte das auch schief gehen können, aber dann wäre sie eben wieder zurück nach Hannover gefahren. Den Preis zu zahlen, war sie offenbar bereit. Es geht auch ohne. Ihre Mentoren, die Profis, gingen später dieses Wagnis mit. Präsenz, Aura, Ausstrahlung, das hatte ihr Schützling. Aber gepaart mit soviel Eigenartigkeit war das Neuland. Kommt das an? Keine Ahnung. Aber es ging auf. Ihre eigenartigen Lieder und ihre ungewöhnliche Art sind inzwischen zu ihrem Markenzeichen geworden. Sie beherrscht die hohe Kunst des Aneckens auf eine Art , die ihr Konturen verleiht. Jetzt haben sie sie sogar europaweit mit großem Abstand zur  Siegerin des Eurovision Songcontest gewählt, quer durch Europa, in Estland, in Spanien, in der Slowakei. Wer hätte gedacht, dass so etwas mehrheitsfähig ist?

Vielleicht möchte man jemanden sehen, der ganz bei sich ist (oder zumindest: jemanden, den man sich so denken kann). Das Neue lässt sich vorher nicht testen, es lässt sich nur ausprobieren. Keiner der Zuschauer hätte wohl vorher gesagt, dass er sich ein so merkwürdiges Mädchen auf der Bühne wünscht. Aber jetzt wo sie da war, mochten sie sie.

Ihr Sieg beim Eurovision Songcontest ist vielleicht auch ein Sieg der eigenen Kontur über die Stromlinienform, über die abgesicherte Planung von Effekten. Es ist der Sieg des Schrägen. Denn das Schräge kann manchmal auch das Richtige sein.

Ist das Slow? Es erinnert mich jedenfalls an die brandeins, die im  Jahr 2000, mitten im Dotcom-Boom ein Sonderheft über das Cluetrain-Manifest wagte. Das Eigene wagen, auch wenn es unpassend und schräg ist. Ich denke, ja, auch das ist slow.

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Foto: Vincent Hasselgård

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Nachtrag:

Jan Feddersen schreibt in seinem Beitrag “Alle lieben lovely Lena” auf Spiegel Online:

Gewonnen hat mit Lena vor allem ein Konzept des qualitätsbewussten Castings, das weniger auf Schmutz, Schande und üble Nachrede setzt, sondern auf musikalische Standards. In Allianz mit der ARD schneiderten Stefan Raab und seine Firma Brainpool ein Showformat, das die Kandidaten nicht zu bevormunden suchte. Stattdessen stachelte er ihre Leidenschaften an – musikalische in erster Linie.

Er benennt damit Aspekte, die in unserem Slow Media Manifest ebenfalls eine zentrale Rolle spielen: Qualität, das Nicht-Bevormunden-Wollen, Leidenschaft/Inspiration.