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Leistung oder Wirkung?

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Remember that time is money.
Benjamin Franklin, Advice to a Young Tradesman

Als Benjamin Franklin mit dem Blitzableiter erst “dem Himmel den Blitz” und in der amerikanischen Revolution auch noch “den Tyrannen das Szepter” entrissen hatte, konnte kaumnoch irgenjemand an den Worten dieses titanenhaften Helden der Aufklärung zweifeln. Dessen berühmtestes Zitat aber hat weder mit Naturforschung noch mit Staatskunst zu tun, sondern stellt eine Regel auf, die für die kommenden zweihundert Jahre das Credo einer effizienzorientierten Wirtschaft werden sollte: “Zeit ist Geld”.

Der physikalische Begriff der Leistung P ist definiert als Arbeit W (beziehungsweise Energie, dann auch mit E abgekürzt), die pro Zeiteinheit t erbracht (bzw. verbraucht) wird. Damit entspricht die Formel P = W / t auch ziemlich gut dem alltagssprachlichen Verständnis von Leistung: fertigt ein Fabrikarbeiter 100 Werkstücke pro Stunde, so erbringt er die doppelte Leistung seines Kollegen, der für die selbe Anzahl zwei Stunden braucht. Und selbstverständlich gehen wir davon aus, dass der erste Arbeiter für seine höhere Leistung auch mehr Lohn erhalten sollte.

Und genau da endet auch schon die Analogie von Physik und Wirtschaft. Denn es ist sicher nicht so, dass eine hochbezahlte Führungskraft tatsächlich mehr leistet, als der Angestellte auf Sohle 7 der Unternehmenshierarchie. Diesen Gedanken verfolgt der Blogger und Filmemacher Werner Große in seinem Post auf den Wissenslogs. Ein anderer physikalischer Begriff erklärt nämlich viel besser, wonach sich in der post-industriellen Wirtschaftswelt Gehaltsunterschiede idealer Weise gründen: die Wirkung.

Die Wirkung in der Physik ist nicht zu verwechseln mit der Kausalität (Ursache/Wirkung). Wirkung S ist hier definiert als Arbeit mal Zeit (bzw. Energie mal Zeit). In Formel

S = E ⋅ t

Die einfachen mathematischen Gleichungen, indenen sich die Begriffe ausdrücken lassen, führen schnell zum Punkt, was das alles mit Slow Media zu tun hat: Nachdem die Leistung gleich Arbeit durch Zeit ist (P = E / t), hängen Wirkung und Leistung ebenfalls eng zusammen: S = P ⋅ t2
In Worten: ich kann die selbe Wirkung erzielen mit halber Leistung, aber in vierfacher Zeit.

Damit ist klar, dass Leistung, an sich betrachtet, schnell in hirnlose Energieverschwendung mündet – Hauptsache viel geschafft! Von anderer Seite betrachtet, wird die Bedeutung der Wirkung noch klarer. Auf ihrer lesenswerten Seite über “Grundfragen der Physik, neu gestellt und beantwortet von einer Frau” schreibt Brunhild Krüger:

Angenommen, mir stünden 1 kWh an Energie zur Verfügung:
Mit einer Glühlampe, die eine Leistung von 100 Watt hat, könnte ich damit einen Raum für 10 Stunden ausleuchten. […] Will ich jedoch nur ein Buch lesen, genügt eine Tischlampe mit 40 Watt, die ich 25 Stunden lang betreiben kann, ehe die verfügbare Energie verbraucht wäre.[…]
Je geringer die eingesetzte Leistung ist, um so mehr hat man von der vorhandenen Energie.

Immer mehr Leistung – das bedeutet immer mehr Energie in noch kürzerer Zeit zu verbrauchen. Aber in der Regel kommt es doch darauf an, welche Wirkung erzielt wird. Das gilt für Maschinen genau wie für Publikationen. Statt auf Leistung zu pochen, wie in der grauenhaften Diskussion um den sogenannten Leistungsschutz der Verlage, sollten die Publizisten besser dafür sorgen, dass ihre Arbeit Wirkung zeigt.

Mit etwas Glück und Salz und mit Pfeffer
Erzielt man manchmal völlig ungeahnte Treffer
Ist denn Verlass, dass das nachher schmeckt?
Die Hauptsache ist der Effekt

Günter Neumann, “Giftmischerrumba”

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Wozu noch Verlage?

Was konnte er dafür, daß er in der Literatur sein ganzes Leben lang ›nur‹ Verleger gewesen war? Er hatte begriffen, daß die Literatur einen Verleger nötig hatte, und er hatte das sehr zur rechten Zeit begriffen; dafür sei ihm Ehre und Ruhm – natürlich von der Art, wie es einem Verleger zukommt.
(F.M. Dostojewski)

Online-Journalismus? Ich habe diese Bindestrich-Journalismen sowieso nie so richtig verstanden, aber mit Online-Journalismus (Wikipedia: “Aufbauprinzip ist der nicht-lineare Hypertext” tue ich mich besonders schwer. Geht es um Online als Werkzeug für die journalistische Recherche oder redaktionelle Abläufe oder um Online als Gattung? Auf dem 6. Frankfurter Tag des Online-Journalismus bin ich auf beide Strömungen gestoßen. Ich glaube, dass etwas mehr Klarheit in dieser Unterscheidung für den Online-Journalismus (wie auch immer gemeint) wichtig wäre.

So plätscherte das Abschlusspodium zwischen Jakob Augstein (Der Freitag), Mercedes Bunz (Guardian), Stephan Baumann (DFKI) und mir eher beschaulich vor sich hin, ohne dass das Diskussionspotential dieser Fragen genutzt wurde. Zum Beispiel für die Klärung der Frage, ob das Thema Blogger vs. Journalisten heute noch relevant sei. Hier wurde munter durcheinander und aneinander vorbei von Bloggern als Persönlichkeiten, Bloggen als Erwerbsquelle, Blogs als Publikationstechnologie und Blogposts als journalistische Form gesprochen.

Welche Funktion werden Verlage in Zukunft ausüben?

Für mich die spannendste Frage blieb leider unbeantwortet: Welche Funktion werden Verlage in Zukunft ausüben? Der klassische Verlagsbegriff sieht seit der frühen Neuzeit die Aufgabe des Verlegers darin, finanzielle Mittel und Rohstoffe wie Werkzeuge herbeizuschaffen (= “verlegen”), die für die Produktion einer Ware notwendig sind – ganz gleich ob es sich dabei um einen Teppich oder ein Buch handelt. Mit dem Aufkommen der industriellen Massengesellschaft bzw. Aufmerksamkeitsökonomie und der Zuspitzen des Verlagsbegriffs auf die Medienproduktion wurde dann der zweite Aspekt der Herstellung von Aufmerksamkeit für das Medium hinzu.

Wenn wir heute von digitalen Medien wie z.B. Blogs oder eBooks sprechen, passt die klassische Verlagsdefinition nicht mehr. Die Werkzeuge und Rohstoffe der Medienproduktion sind mittlerweile demokratisiert. WordPress und Mediawiki sind frei verfügbar. Jeder könnte also theoretisch publizistisch tätig werden. Viele tun genau dies. Auch für das Herstellen von Aufmerksamkeit kann die Verlagswelt kein Monopol mehr beanspruchen, da zunehmend die Empfehlung innerhalb sozialer Netzwerke bzw. einer themenbezogenen Community für die Rezeption eines Mediums wichtiger ist als klassische Marketingmaßnahmen. Buchbesprechungen in Zeitungen und das Auslegen von Flyern haben keinen nennenswerten Effekt auf den Absatz mehr, während Marketinginstrumente wie AdWords oder Suchmaschinenoptimierung Verlagen wie unabhängigen Publizisten gleichermaßen zur Verfügung stehen.


Wo also liegt heute noch die Aufgabe des Verlags? Auf dem Podium rückte ziemlich schnell der Aspekt der Finanzierung in den Mittelpunkt. So betonte Mercedes Bunz, dass guter Journalismus eben Geld koste und dafür brauche es einen Verlag. Ein Modell wie Wikipedia funktioniere nicht für den Journalismus. Diese Argumentation ist aus einer Slow-Media-Perspektive ebenso empirisch falsch wie politisch gefährlich.

Zum einen gibt es genügend Beispiele von Blogs, Foren oder Wikis, die außerhalb von Verlagen qualitativ hochwertigen Journalismus in Form von Kommentaren, Essays, Berichten etc. produzieren. Viel problematischer ist jedoch der andere Punkt. Wenn Verlage und Redakteure sich auf die Argumentation einlassen, dass die wichtigste Aufgabe des Verlags im digitalen Zeitalter in der Finanzierung von Journalismus liege, dann sehe ich keinen zwingenden Grund, warum die Medienlandschaft überhaupt noch Verlage braucht. Diese Aufgabe könnten auch Banken erledigen.


Wem daran liegt, dass Verlage auch in Zukunft noch eine Bedeutung haben sollen, der sollte sich nicht auf diese Argumentation einlassen und etwas mehr Phantasie bemühen, wenn es um die verlegerische Selbstbeschreibung geht. Wenn man gute, langsame Medien wie z.B. Wired, Brand eins oder Intelligent Life ansieht, dann machen die Verlage und Redakteure hier so unglaublich viel mehr als ihre Journalisten finanziell über Wasser zu halten. Sie diskutieren und setzen Themen, verbinden Design und Inhalt, arbeiten Ausgabe für Ausgabe am roten Faden ihres Mediums, garantieren ein hohes Qualitätsniveau und entwickeln ein Gespür für die Wünsche wie Erwartungen ihrer Leser. Dafür benötigt man Verlage heute wie in Zukunft und nicht allein für das regelmäßige Auszahlen des Taschengelds an ihre Mitarbeiter.

An diesen Stellen entsteht auch der Mehrwert zwischen den Gedanken im Kopf eines Autors und dem fertigen Produkt. Verlage, die ihrem Publikum nicht glaubhaft demonstrieren können, dass sie mehrwertfähig sind, haben nicht nur ein Kommunikationsproblem, sondern sind früher oder später in ihrer Existenz bedroht. Und das zu Recht.

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Papier und ökologische Nachhaltigkeit

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Traunsteiner Salzmeierzyklus “Nachhaltigkeit”, sagt der Mann in dem Video auf der Leinwand, “das ist für mich wenn man immer dasselbe macht. Das Gegenteil von flexibel”.
– Für mich einer der stärksten Momente auf dem Mediamundo Kongress zur nachhaltigen Medienproduktion, der dieser Tage in Berlin stattfand.

Für die einen ist der Begriff schon zum Marketing-Buzzword verkommen, während er für die meisten Menschen schlicht missverstanden wird. Gute Voraussetzungen, eine leere Hülse zu werden, ein toter Begriff.

Der Term Nachhaltigkeit stammt aus der Forstwirtschaft. Den Waldbauern ist bereits seit Jahrhunderten klar, dass man nur soviel abholzen darf, wie nachwachsen kann – da in dieser Industrie oft zwei oder mehr Generationen zwischen Saat und Ernte vergehen, ist es nicht verwunderlich, dass spätestens mit Aufkommen sehr holzintensiver Produkte am Ende des Mittelalters, wie den wachsenden Flotten immer größerer Segelschiffe oder den Salinen mit stark zunehmendem Bedarf an Brennstoff zum Verdampfen der Sole, die nachhaltige Wirtschaft explizit in die Ökonomie Eingang gefunden hatte. Erst im Zeitalter des Stahl und der Steinkohle – später des Erdöls – wurde das Konzept Nachhaltigkeit zunächst scheinbar überflüssig.

***

Von den etwa 390 Millionen Tonnen Papier, die jährlich produziert werden, verbrauchen Europa und die USA alleine knapp die Hälfte. Deutschland, mit einem pro-Kopf-Verbrauch von 256 kg pro Jahr (1950 waren es gerade einmal 40 kg), liegt dabei nur knapp hinter den USA und weit über dem europäischen Durchschnitt. Alleine der Anteil von 7,4 Millionen Tonnen Papier in Deutschland, die aus frisch geschlagenem Holz und nicht aus Altpapier hergestellt werden, entspricht etwa der Menge die Afrika als Ganzes verbraucht. Zunächst sind es die gewaltigen Waldflächen – 20% der globalen Holzernte werden für Papier verwendet; mehr als 50 Millionen Kubikmeter alleine in Deutschland. Daneben schlägt vor allem der Wasserverbrauch bei der Papierherstellung zu Buche. 7 Liter Wasser werden für ein Kilogramm Papier verbraucht, der größte Teil davon bleibt als giftiges Abwasser zurück.

Bis Druckerzeugnis nachhaltig produziert werden, scheint es also noch ein weiter Weg. Zwar werden Tageszeitungen heute vollständig aus Altpapier hergestellt, bei allen anderen Drucksachen ist der Altpapieranteil aber seit Jahren rückläufig. Es gilt drei Ziele zu verfolgen, sollen Printmedien ökologisch nachhaltig werden:

1) Vermeiden
Insbesondere bei Werbedrucksachen bleibt es unverständlich, wie selbst grundsätzlich wertvolle Marken ungeniert Spam-Mailings an nahezu ungefilterte Verteiler schicken. Auch die Katalogversender schaffen es so gut wie nie, sich auf Kunden einzustellen, die das Altpapier leid sind, das regelmäßig Briefkasten und Papiertonne verstopft. Von den Schweinebauchanzeigen und Beilegern, die die meisten Zeitungsleser ohnehin aus der Zeitung direkt in die Tonne schütteln (“de-bonning” – ja, das hat sogar einen Namen!). Dann das Ausdrucken von Mails und anderem Büro-Kram. Und schließlich auch ein Appell an die Drucker-Hersteller: solange es selbst technisch geschultes Personal nicht schafft, auf Anhieb zweiseitig Auszudrucken, bleibt die Rückseite eben ungenutzt.

2) Wiederverwerten
Recycling-Papier muss wieder Standard werden. Die öffentlichen Verwaltungen in Deutschland berufen oft sich auf EU-Recht und sehen in der Einschränkung auf bestimmte Papiersorten eine Wettbewerbsverzerrung. Auch bei öffentlichen Ausschreibungen wird keine Recycling-Quote vorgegeben. Dass dies nur ein Vorwand ist, belegen die Niederlande mit ihrer Selbstverpflichtung zu ökologischem Papier in der Verwaltung. Aber auch hier sind die Hardware-Hersteller gefragt: solange unklar bleibt, inwieweit Recycling-Papier zu höherem Verschleiß und häufigerer Wartung der Geräte führt, bleibt beim Einsatz von Recycling-Papier zumindest Unsicherheit.

3) Zertifizieren
Auch eine strikt ökologisch Ausgerichtete Druckerei ist auf Papier mit Frischfasern angewiesen. Auf Bäume als Rohstoff ist nicht zu verzichten. Aber genau hier liegt ja eine der Stärken von Papier im Vergleich etwa zu elektronischen Medien: es ist nachwachsender Rohstoff, ja in gewissem Umfang wird sogar CO2 in Papier dauerhaft gebunden. Es ist Zeit für eine Rückbesinnung auf die Waldwirtschaft der Zeit vor der industriellen Revolution – das Holz, dass geschlagen wird, nachwachsen lassen.

International transparente Testate wie die Zertifizierung der Forest Stewardship Council geben den Papierverarbeitern die Sicherheit, tatsächlich nachhaltig produzierten Rohstoff zu kaufen und nicht nur Greenwashing zu betreiben. Erfreulicher Weise wird das FSC-Zertifikat bereits in weiten Teilen der Industrie anerkannt und eingesetzt. Die Nachfrage nach sauberem Holz ist allerdings so stark, dass es kaum möglich ist, den Bedarf mit FSC-Zertifiziertem Wald zu decken. Damit es nicht reine Utopie bleibt, muss ein Zertifikat Kompromisse eingehen, was natürlich auch nicht unproblematisch ist. “Während wir für die einen schon als unglaubwürdig gelten, sind unsere Kriterien für viele andere gleichzeitig immernoch unbezahlbar.”, beschreibt Uwe Sayer von FSC Deutschland die Zwickmühle zwischen Glaubwürdigkeit und Praxis.

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Papier ist ein wunderbares Medium – es hält seinen Inhalt unter einigermaßen guten Bedingungen über Jahrhunderte lesbar. Keine Abspielgeräte sind notwendig, keine Stromversorgung. Unter diesem Aspekt ist Papier an sich schon immer nachhaltig. Umso wichtiger ist es, jetzt den Schritt zu gehen, auch der Papiererzeugung eine langfristige Perspektive für die Zukunft zu geben!

“Nein, das ist eine Überraschung! Und eine herrliche Überraschung!” sagte das Papier. “Nun bin ich feiner als zuvor, und nun werde ich beschrieben werden! Was kann nicht alles geschrieben werden! Das ist doch ein außerordentliches Glück!” Es wurden die allerschönsten Geschichten darauf geschrieben, und die Leute hörten, was darauf stand, und es war richtig und gut, es machte die Menschen weit klüger und besser, als sie bisher waren, es war ein wahrer Segen, der dem Papier in den Worten gegeben war. Hans Christian Andersen, Der Flachs.

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Die “brand eins”

 

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“Slow Media,” sagt meine Freundin Anna, “das ist für mich die brand eins.” Immer, wenn sie bei ihrem Freund Peter – einem brand eins Abonnenten – zu Besuch ist und Zeit und Muße hat, nimmt sie sich eine Ausgabe des Wirtschaftsmagazins. Es ist jedesmal schön, darin zu lesen, sagt sie. “Ganz egal, ob es die aktuelle Ausgabe ist, oder eine aus dem letzten Jahr. Die brand eins ist immer lesenswert und gut gemacht, auch wenn mir nicht jeder Beitrag gefällt.” Das ist ziemlich genau auf den Punkt und beschreibt etwas, was ich mediale Nachhaltigkeit nennen möchte: Die souveräne Strahlkraft eines gut gemachten Print-Magazins über die Aktualität und den einzelnen Abonnenten hinaus. Eine brand eins bleibt über Monate und Jahre frisch. Und sie reicht für mehrere Leser.

Slow Media, sagen wir, sind von Menschen gemacht und das merkt man. Und so spürt man hinter der brand eins auch immer die Menschen, die sie machen und die immer schon, auch nach dem Scheitern des Vorgängers Econy, an dieses Wirtschaftsmagazin geglaubt haben. Daran, dass Wirtschaft und Ethik zusammenzudenken sind. Daran, dass Wirtschaftsthemen und hochwertiges Editorial Design (nach wie vor in der Verantwortung von Mike Meiré) zusammengehören. Nicht dass die Chefredakteurin Gabriele Fischer und ihr Team alle Beiträge selbst schrieben. Aber die Haltung, mit der sie der Welt und ihren Lesern gegenübertreten, und die Werte, nach denen sie ihr Magazin realisieren, schwingen bei allem wie ein durchgehender Grundton mit.

Alles Show? Nein. Diese Werte finden sich – ohne ins Detail gehen zu wollen – konsequenterweise auch in den Autorenverträgen wieder. Autoren geben hier in dem selbem Umfang Nutzungsrechte ab wie bei anderen Zeitschriften, aber sie tun es hier als geschätztes und respektiertes Gegenüber. Hinter den Kulissen wird Praktikanten vermittelt, dass ein Beitrag auch nach einem Jahr noch mit Gewinn zu lesen sein muss. Die Wirkung der brand eins auf meine Freundin Anna ist also kein Zufall, sondern erklärtes Ziel. Ein Qualitäts-Luxus, bei dem es eben nicht nur um das Abverkaufen geht, sondern auch um das Nachwirken.

Das Aprilheft 2000 der brandeins

Diese Haltung macht mutige Entscheidungen möglich. Wie das Aprilheft des Jahres 2000 (Nachhaltigkeit: bisher 10 Jahre). Es ist ein Sonderheft. Die ersten 30 Seiten sind dem damals noch weitgehend unbekannten Cluetrain-Manifest und seinen 95 Thesen zum Wandel der Märkte durch das Internet gewidmet (heute ist es längst ein visionärer Klassiker mit ungebrochener Aktualität). Es hat die Menschen, die brand eins machen, damals bewegt. Und sie haben sich von ihrer Inspiration leiten lassen, mitten im Aktienrausch, der gerade Mitte März 2000 seinen Höhepunkt hatte. “Hatten wir uns bei aller Begeisterung für den Gründer-Boom von der Neuen Wirtschaft nicht mehr erhofft als immer neue Millionäre?”, fragt Gabriele Fischer im Editorial dieser Ausgabe. Konzern-Manager und Politiker wollten zu dieser Frage keine Stellung nehmen, sie “ließen sich durch ihre Pressesprecher mit Zeitmangel entschuldigen.” Sie aber fanden es wichtig.

Wann entstand das Aprilheft? Vor dem Absturz? Im Moment der Wende? Wie es auch war. Es war mutig, in diesem Moment so deutlich auf einen krassen Gegenentwurf zu setzen. Wenn es einem nur ums Verkaufen geht, macht man sowas nicht.

Die gute Nachricht also für alle, die die Kategorie “Slow” für realitätsfern halten, lautet: Mediennutzer merken, mit welcher Haltung und welchem Anspruch ein Medium produziert wird. Sie sind bereit, dafür zu bezahlen. Slow Media können gut und erfolgreich sein.

Nun mag man einwenden, dass Anna die brand eins, die sie so schätzt, nicht selbst gekauft hat – dass Inspiration schön und gut ist, dem Verlag aber kein Geld bringt. Eine Antwort darauf gibt Annas Freund Peter: Loyalität. Der treue brand eins Abonnent gestand mir neulich, dass er selbst in den letzten Monaten gar keine Zeit mehr findet, das Magazin zu lesen. Aber dass er trotzdem nie im Leben auf die Idee käme, deswegen sein brand eins Abo zu kündigen.  Dass sie für ihn einfach dazugehört, egal wieviel Zeit er grade zum Lesen hat. Das ist Bindung zwischen einem Medium und seiner Leserschaft.

Cluetrain-These 2 in der brandeins 3/2000

Nachtrag:

Die Frage “Wann entstand das Aprilheft?” hat Gabriele Fischer soeben per Mail beantwortet: Die Dotcom-Blase blähte sich tatsächlich noch auf, als die April-Ausgabe in der ersten Märzwoche 2000 produziert wurde. Als sie nach dem 13. März platzte, war das Cluetrain-Sonderheft der brand eins schon in Druck. Auch Ulf J. Froitzheim bestätigt dies später in seinem Kommentar (s.u.).

 

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