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Moving towards Slow Communication

“Zeit ist wertvoll” lautet der Claim des neuen Peugeot 508. Das Auto wurde erst kürzlich – Mitte März – präsentiert. Aufbau, Inhalt und Optik stimmen frappierend und geradezu gespenstisch mit dem Werbespot zu einem anderen neuen Auto überein: dem VW Eos (“Das Auszeitauto”), über den mein Kollege Benedikt Köhler Anfang Februar in seinen Beitrag “Slow Advertising” bereits berichtet hat. Diese offenbar zufällige Gleichzeitigkeit lässt den Schluss zu, dass das Thema Slowness den Sprung in die Mittte der Gesellschaft bereits geschafft hat und als marktgängiges Thema betrachtet wird. Mediale Überforderung, Be- und Entschleunigung und bei näherem Hinsehen auch eine qualitativ andere Art der Kommunikation treffen sich in diesen Slow-Interpretationen.

Der Spot: Ein beruflich und privat erfolgereicher Mann hastet rastlos vom Stakkato der Termine und Medien angetrieben durch seinen Tag. Ruhe, Versekung, Genuss findet er erst in seinem Auto wieder. Ton aus, slow motion. Soweit so üblich.

Klickt man aber auf die Website zur Präsentation des Peugeot 508, so wird aus dem Claim für das Auto (“Zeit ist wertvoll”) die leicht verzögert (also als wohltuend langsam empfundene) einlaufende Titelzeile: “Ihre Zeit ist wertvoll” [Hervorhebung von mir]. Darunter erscheint das gängige aber in dieser Plazierung völlig anders und glaubwürdiger wahrgenommene Angebot “Intro überspringen”. Dieses Intro drängt sich nicht auf, es nötigt den Nutzer nicht. Auch der Ausknopf für den Ton ist typografisch deutlich sichtbar und nicht versteckt. In der nächsten Einstellung heißt es: “Sagen Sie uns, wie viel Zeit Sie haben und erleben Sie den neuen 508”. Hier kann der Nutzer zwischen 20, 40, 60, 80, 100 und einer 180 Sekunden dauernden Produktpräsentation wählen (in der längsten Version gibt es zur Belohnung den Designer, der in Originalsprache über sein Werk spricht).
Es geht um den Nutzer. Das ist neu. Das ist im Grunde das Gegenteil üblicher Werbung, bei der es in der Regel darum geht, den Kunden eben nicht ausschalten zu lassen, den “Schließen”-Button zu verstecken und den Ton immer etwas lauter als nötig zu fahren. Es wirbt nicht nur, es kommuniziert.

Damit gehen Peugeot und die Leadagentur EuroRSCG in ihrer Kommunikation einen wichtigen Schritt über die rein inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Slow-Ansatz hinaus: Sie lässt das rein inhaltliche Sprechen über das Thema “Slow” hinter sich und wendet das Konzept “Slow” auch auf die ART des Kommunizierens an. Während die Beipiele, von denen Benedikt sprach, sich dem Thema Entschleunigung und Slowness thematisch nähern (mit leicht ironischem Approach bei Mercedes, mit ungebrochenem Duktus im Falle von VW), so bemühen sie sich hier, aus dem, wovon sie thematisch sprechen (“Zeit ist wertvoll”) auch Konsequenzen für den Nutzer und die Kommunikation zu ziehen. Dieser Ansatz nähert sich in der Tat unserer Definition von Slow Media: Er versucht den Nutzer und seine kostbare Zeit zu respektieren, ihn nicht wider Willen mit Werbung zu überschütten.

Bei der vergleichsweisen Betrachtung der Online-Präsentation des VW Eos musste ich feststellen, dass auch Volkswagen und ihre Agentur DDB einen Schritt in diese Richtung versuchen: Sie bieten nach dem Spot eine Auszeit-App an, die dem medial überforderten Nutzer eine vorübergehende Auszeit seiner digitalen Verpflichtungen ermöglichen soll.

Eine Spielerei, die kaum mehr als ein Gimmick ist – allerdings einer mit möglichwerweise hohem Kommunikations-Kollateralschaden: Bei der Online-Recherche stößt man schon als erste Nennung auf die ratlose Frage eines mutmaßlichen Nutzers, wie der Kontakt zu den gesperrten Portalen nach dem Absturz des Programmes wohl wieder herzustellen sei. Diese Werbeidee scheint so hartnäckig zu sein, dass sie auch nach De- und Reinstallierung aller Programme dennoch auf einer dauerhaften Auszeit seines Nutzers beharrt.

(Übrigens auch ein gutes Beispiel dafür, dass Unternehmen in einer solchen Situation das Kommentarfeld von Foren als Kommunikationskanal für sich entdecken sollten. Dass sie also kommunizieren statt nur werben sollten.)

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Mehr zum Thema Slow Communication und Autos: http://www.slow-media.net/slow-communication-und-falsche-tramper

 

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Ägypten und der Rest der Welt

Klassische Revolutionsikonografie. Foto: Richard Gutjahr

Ich weiß nicht, welche alten Reflexe mich am vergangenen Wochenende dazu bewegt haben, doch immer wieder durch die öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramme und deutsche Nachrichten-Sender zu schalten. Völlig ungerührt vom historischen Geschehen im Maghreb wurde hier das traditionell nachrichtenfreie Wochenendprogrammschema samt Florian Silbereisen und Wintersport abgehakt (ähnlich stoisch übrigens wie Präsident Mubarak seine Regierungssimulation weiterführt). Das Fernsehen hätte bei mir wirklich eine Chance gehabt, als nationales Lagerfeuer in historischen Situationen. Aber während Ereignisse wie Schnee oder Hochwasser echte Sondersendungen wert sind, schafften es 100.000ende Ägypter, die ihr Leben für etwas riskieren, das möglicherweise Freiheit ist, nicht.

Eugène Delacroix: La Liberté guidant le peuple

Stattdessen wurde fast nur während der schmalbegrenzten Norm-Nachrichten berichtet, und auch hier merkte man den Redaktionen geradezu an, wie verzweifelt sie nach “Relevanz” für die quotenrelevante Zielgruppe suchte (hier gilt offenbar der vermutete Zuschauerwunsch als Maßstab für Nachrichtentauglichkeit): Was an der Lage in Ägypten könnte den deutschen Zuschauer bloß interessieren? Und so wurde schamlos von der Lage an den ägyptischen Badestränden berichtet und von den möglichen Auswirkungen auf die deutsche Börse. Ich finde das noch heute beschämend. Das ist eine Beleidigung aller Zuschauer.

Anzeige im "Express", 30. Januar 2011

Ich sparte mir das dann und hielt es so, wie CNN mir ohnehin vorschlug: “stay with CNN”. Und mit dem englischen Al-Jazeera-Livestream. Und mit Twitteraccounts, die aus Ägypten berichteten. Und mit Richard Gutjahr. Der Nachrichtenmann des Bayrischen Rundfunks und Journalist reiste kurzentschlossen von Israel nach Kairo und berichtet per Twitter und auf seinem Blog. Alleine für die Fotos lohnt es sich, dort hinzusehen. Wer seinem Twitterstream folgt, weiß, dass er sich öfter in Israel aufhält und so eine höchst interessante Perpektive auf die Entwicklungen hat: die hiesige und die dortige. Wer weiß, dass Ägypten und Israel Nachbarstaaten sind und ein wenig im Geschichtsunterricht aufgepasst hat, muss zugeben, dass das ein Grund ist, da zuzuhören – trotz möglicher gleichzeitiger Selbstdarstellung. Der eine hält es eben so, der andere so. Thomas Knüwer meint, dass eine Unterstützung für die Roaminggebühren Richard Gutjahrs besser angelegtes Geld ist als GEZ-Gebühren. Ich bin nach den letzten Tagen geneigt, ihm zuzustimmen.

Sie sind bewaffnet: mit Fotohandys. Foto: Richard Gutjahr

So schwerfällig sich die öffentlich-rechtlichen und privaten (ja, jetzt muss man es leider sagen: alten) Medien zeigen, so schnell und unbürokratisch handeln die neuen Medien: die Unternehmen Twitter, Google und SayNow legten kurzerhand eine Wochenendschicht ein und das Ergebnis war “speak2tweet“: ein Service, der es jedem erlaubt, per Telefon Nachrichten auf Twitter zu veröffentlichen. Man wählt eine Telefonnummer, spricht seine Nachricht auf Band und diese wird unter dem Twitter-Account http://twitter.com/speak2tweet veröffentlich. Das verleiht den vom Internet abgeschnittenen Ägyptern im wahrsten Sinne des Wortes eine Stimme. Und so oft wir auf diesem Blog kritisch über Google berichtet haben (z.B. hier und hier): genau das ist es, was Medien können und auch tun sollten. Das ist wohltuend angesichts des Versagens klassischer Medien.

Foto: Richard Gutjahr

Man mag einwenden, dass diese Stimmen subjektiv sind. Ja, das sind sie. Sie sind subjektiv. Und ja, Fakten sind wichtig, aber subjektive Eindrücke eben auch (ein schönes Beispiel aus dem österreichischen Fernsehen hier). Diese Eindrücke sind wichtig und informativ – nicht nur obwohl, sondern gerade weil sie subjektiv sind. Was zählen Fakten in diesen Zeiten? Die Fakten und verifizierten Informationen können wir in Ägypten derzeit in der offiziellen Presse und den Staatssendern nachlesen und ansehen: scheinbar aufrechte Ägypter demonstrieren für Mubarak, der Präsident hat die Sicherheitslage im Griff, der Vizepräsident ist bereits dabei, die geforderten Reformen anzuweisen  und auch sonst gibt es keinerlei Grund zur Unruhe. Das ist die offizielle Version derjenigen, die gewohnt sind, Fakten zu schaffen. Alles andere sei nur Hörensagen*, die Meinung Einzelner, Subjektivität.

Aber das ist genau da, wo grade Geschichte passiert.

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* Nachtrag: “Hütet euch vor Gerüchten und hört auf die Stimme der Vernunft” heißt es in einer Propaganda-SMS, die zu verschicken die ägyptische Regierung Vodafone genötigt hat.

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Eine Auswertung dieser Situation und welche Rolle die Reaktionsfähigkeit für die Medienevolution hat, finden Sie nebenan auf dem Slow-Media-Institutsblog