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Das Slow Media Institut

Theorie und Praxis des digitalen Wandels:
Das Slow Media Institut entwickelt Anwendungsmodelle für eine produktive und resiliente digitale Gesellschaft.

– Digitaler Arbeitsschutz
– Mediennutzungsforschung & SlowTypes Studie
– Netzkultur & Reoralisierung

Hier ist die Website des Instituts: http://slow-media-institut.net
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Digitaler Arbeitsschutz: Slow Media Institut und TÜV Rheinland starten Kooperation

Eine kurze Meldung in eigener Sache:

Unser Slow Media Institut (dessen Website sich hier befindet) und TÜV Rheinland bieten ein gemeinsames Konzept zum Digitalen Arbeitsschutz an.

Ziel ist es, Rahmenbedingungen für ein kooperatives mediales Arbeitsklima und ein respektvolles, positives Leistungsumfeld zu schaffen.

Wissenschaftliche Basis für den Standard zum Digitalen Arbeitsschutz ist das “Interaktionsmodell Digitaler Arbeitschutz“.

Hier ist der Wortlaut unserer Pressemeldung:

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SLOWLOGO

Digitaler Arbeitsschutz“: Positives Arbeitsumfeld schaffen

TÜV Rheinland und Slow Media Institut entwickeln Verfahren zum Schutz vor digitaler Informationsflut / Moderner Arbeitnehmerschutz / Prüfverfahren ist Bestandteil des Standards „Ausgezeichneter Arbeitgeber“

Köln, 02. April 2014. Permanente Erreichbarkeit via Handy und E-Mail, zeitgleiches Reagieren auf eingehende Anfragen führen bei vielen Arbeitnehmern zu Stress. In ständiger digitaler Alarmbereitschaft ist für sie ein eigenverantwortliches Filtern, Priorisieren und Bearbeiten der vielen Informationen kaum noch möglich. Überforderung, Stress und damit einhergehende Krankheitssymptome sind oftmals die Folge. In den vergangenen zehn Jahren verzeichnete die AOK einen Anstieg der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen um zwei Drittel.[1] TÜV Rheinland und das Slow Media Institut haben mit dem neuen Verfahren „Digitaler Arbeitsschutz“ eine Basis geschaffen, den angemessenen Medienumgang im Unternehmen zu fördern und ein kooperatives, positives Leistungsklima im digitalen Arbeitsumfeld zu etablieren.

Konzept für den gesunden Medieneinsatz

Das Verfahren ist Bestandteil des Prüfzeichens „Ausgezeichneter Arbeitgeber“ von TÜV Rheinland. Neben einem obligatorischen Grundmodul können Unternehmen zusätzlich ihren digitalen Arbeitsschutz prüfen und zertifizieren lassen. Vor Ort prüfen TÜV Rheinland-Auditoren, inwiefern Unternehmen ein Konzept zum digitalen Arbeitsschutz etabliert haben und dieses von allen gelebt wird. Beispielsweise sollte es unter anderem klare und dokumentierte Regelungen zur Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit geben, die eine ausgewogene Work-Life-Balance fördern. Ein Unternehmen kann zum Beispiel festlegen, dass die Erreichbarkeit via Handy oder E-Mails außerhalb der Arbeitszeit und an Wochenenden untersagt wird, für welche Fälle es Ausnahmeregelungen gibt und wie ein entsprechender Zeitausgleich für die betroffenen Personen aussieht.

Systematische Einbindung von Führung und Mitarbeitern

In systematischer Weise werden Mitarbeiter-, Team- und Führungsebene in ein Unternehmenskonzept eingebunden. „Für den Erfolg des digitalen Arbeitsschutzes ist es wichtig, dass diese drei Ebenen kooperieren. Das ermöglicht eine langfristige positive Veränderung, denn ein leistungsstarkes, verantwortliches mediales Umfeld wirkt sich positiv auf Unternehmenskultur und Produktivität aus“, erklärt Sabria David vom Slow Media Institut.

Bessere Chancen für Arbeitgeber

Unternehmen, die erfolgreich die Prüfung durchlaufen haben, erhalten ein Prüfzeichen und ein entsprechendes Zertifikat von TÜV Rheinland. Mit einem Prüfzeichen verdeutlichen Unternehmen nach außen, dass sie für einen verantwortungsvollen, fortschrittlichen und den Mitarbeitern zuträglichen Einsatz digitaler Medien stehen. Das Prüfzeichen kann so die Entscheidung für einen Arbeitgeber positiv beeinflussen. „Arbeitnehmer achten zusehends auf diese weichen Faktoren. Unternehmen, die hier aktiv sind, verbessern ihre Chancen, Mitarbeiter und besonders Fachkräfte zu finden“, erklärt Arne Spiegelhoff, Projektleiter bei TÜV Rheinland.

Weitere Informationen unter www.tuv.com/ausgezeichneter-arbeitgeber sowie unter www.slow-media-institut.net/digitaler-arbeitsschutz im Internet.

Eine Langfassung der Presseinformation unter http://bit.ly/Ph2fh7 im Internet.

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TÜV Rheinland ist ein weltweit führender unabhängiger Prüfdienstleister mit über 140 Jahren Tradition. Im Konzern arbeiten 18.000 Menschen in 65 Ländern weltweit. Sie erwirtschaften einen Jahresumsatz von über 1,6 Milliarden Euro. Die unabhängigen Fachleute stehen für Qualität, Effizienz und Sicherheit von Mensch, Technik und Umwelt in fast allen Lebensbereichen. TÜV Rheinland prüft technische Anlagen, Produkte und Dienstleistungen, begleitet Projekte und gestaltet Prozesse für Unternehmen. Die Experten trainieren Menschen in zahlreichen Berufen und Branchen. Dazu verfügt TÜV Rheinland über ein globales Netz anerkannter Labore, Prüf- und Ausbildungszentren. Seit 2006 ist TÜV Rheinland Mitglied im Global Compact der Vereinten Nationen für mehr Nachhaltigkeit und gegen Korruption. www.tuv.com im Internet.

Das Slow Media Institut ist ein Forschungsinstitut, das zu den Auswirkungen und Potentialen des digitalen Wandels interdisziplinär forscht und berät. Das von Sabria David auf Basis des Slow Media Ansatzes entwickelte Interaktionsmodell Digitaler Arbeitsschutz (IDA) bezieht als systematischer Beratungsansatz unternehmensinterne Dynamiken und Wechselwirkungen ein. Es definiert Rahmenbedingungen für betriebliche Gesundheitsförderung und ist wissenschaftliche Basis für den in Kooperation mit TÜV Rheinland entwickelten Standard zum Digitalen Arbeitsschutz.

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Kontakt: http://slow-media-institut.net/kontakt


[1] Quelle: AOK-Bundesverband, Fehlzeiten-Report 2013, S. 8
http://www.aok-bv.de/imperia/md/aokbv/presse/medienservice/thema/ams-p_t_fzr_web.pdf

 

 

 

 

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Hoodies, Pixel und Blätterrauschen

Am Wochenende entspann sich im deutschen Blätter- und Pixelwald ein Aufruhr, der sich um den Hashtag #hoodiejournalismus herum bewegt. Ich wunderte mich zwar sonntags, warum meine Twitter-Timeline sich selbst so häufig in Kapuzenshirts ablichtete, ging der Sache aber zunächst nicht auf den Grund (man muss ja nicht jedes Mem und jedes Gate mitnehmen, außerdem sonntags, digitaler Arbeitsschutz…). Schließlich erreichte mich die Sache mit dem Hoodiejournalismus doch noch.

Die Kurzzusammenfassung lautet: Die Süddeutsche Zeitung erwägt Stefan Plöchinger, den Leiter der SZ.de in den Kreis der Chefredaktion aufzunehmen. Die ZEIT berichtet am Donnerstag über SZ-interne Widerstände, die es dagegen gäbe. Die FAS veröffentlicht am Sonntag einen Kommentar dazu. Er endet mit den Sätzen: “Wobei ja vielleicht wirklich nichts dagegen spricht, einen Internetexperten in die Führungsriege der Zeitung zu holen. Wäre es aber dann nicht sinnvoll, auch einen Journalisten in die Chefredaktion von “Süddeutsche.de” zu holen?”. Womit die Begriffe “Internetexperte” und “Journalist” als sich gegenseitig ausschließende Bezeichungen verwendet werden. Da der internetaffine Journalist Plöchinger im ZEIT-Beitrag als Kapuzenpulliträger dargestellt wurde, erhebt sich im digitalen Kulturraum von Twitter ausgehend ein Solidaritätsrauschen. Mit dem Stichwort #hoodiejournalismus posten Journalisten, Redakteure, Radiomoderatoren, Blogger und sonstige sich selbst im Selfie mit Kapuzenpulli.

Bei näherem Hinsehen entpuppt sich also der #Hoodiejournalismus tatsächlich als sehr interessantes Phänomen – das vor allem eines zeigt:

Die Gräben zwischen Print- und Online-Journalismus sind noch längst nicht zu. Im Gegenteil: Sie klaffen noch sperrangelweit auf.

Eigentlich überrascht mich das. Unser Slow Media Manifest – die Schaffung medienübergreifender Kriterien, der Entwurf eines dritten Weges jenseits von Alarmismus und Apologetik im Mediendiskurs – haben wir aus Unwillen über die unkonstruktiven Grabenkämpfe zwischen Pixel und Papier geschrieben. Das war 2010. Das ist eine Weile her.

Und doch scheint noch alles beim Alten zu sein. Der Kampf zwischen Print und Online, den manche als Generationskampf missverstehen, ist nach wie vor ein Kampf zwischen alten und neuen Ansätzen. Die Ritualisierung dieses Kampfes verhindert, dass sich etwas verändert. Bei differenzierter und unideologischer Betrachtung würde man festellen, dass keineswegs alles an bisherigen Konzepten überholt ist, noch dass alles am Neuen Segen bringt.

Fließt alles oder gelingt es uns, dass alles beim Alten bleibt? Auch dies eine Grundfrage der Debatte.

Jörg Hoodie    Benedikt Hoodie

Die Kollegen Blumtritt und Köhler mit Hoodie

In diesem Blog haben wir uns viel mit dem Selbstverständnis des Journalismus und dem Print/Online-Diskus befasst.

Da sie offenbar nach wie vor aktuell sind, hier eine kleine Parade unserer Beiträge zum Thema:

 

Benedikt Köhler: Der umgekehrte Turing-Test (16.3.2010)

Benedikt Köhler: Es gibt kein digitales Altpapier, oder: Die große Chance der Verlage im Web (14.1.2012)

Jörg Blumtritt: Das letzte Aufgebot

Sabria David: Wo verläuft die Grenze? (26.4.2010)

Sabria David: Tatorte, Gräben und drei Fragezeichen (2.4.2012)

Sabria David: “Jenseits der Grabenkämpfe. Eine Gesellschaft im Wandel.” In: “Öffentlichkeit  im Wandel. Medien, Internet, Journalismus”. S. 9-12. Herausgegeben von Heinrich Böll Stiftung. Mai 2012.
https://www.boell.de/sites/default/files/Endf_Oeffentlichkeit_im_Wandel_kommentierbar.pdf

Sabria David: Avantgarden, Halbwertszeiten und eine hochgezogene Augenbraue (14.5.2010)

 

 

 

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Die Grenzen der Beschleunigung

Eine Kurzversion dieses Essays erschien in dem Wirtschaftsmagazin “brand eins” (brand eins, 15. Jahrgang, Heft 03 März 2013, S. 110 – 113)

 

Wie verändert sich unsere Arbeitswelt? Die digitalen Technologien haben uns neue Möglichkeiten der Kollaboration und Flexibilität gebracht, agile Strukturen und weltweite Vernetzung. Zugleich steigt der Anforderungsdruck der globalen Märkte. Die ständige Suche nach Einsparmöglichkeiten, Steigerung der Effizienz, von Jahr zu Jahr steigende Umsatzziele werden von vielen Menschen als Beschleunigung empfunden. Sind dies Einzelfälle oder stehen sie für eine strukturelle Veränderung der Arbeitswelt? Sind wir eine Gesellschaft am Limit? Woran würden wir es merken, wenn wir uns der Grenze nähern? Eine Spurensuche.

„Jeder gibt immer sein Bestes.“ Diesem Satz, einem Leitsatz der neuen Arbeitswelt und Mitarbeiter-Motivation, möchte man spontan beipflichten. Natürlich, denkt man. Was sonst. Jeder gibt immer sein Bestes.

Bei genauerer Betrachtung aber enthüllt der harmlose Satz in seiner Grammatik einen fragwürdigen Anspruch: Das Subjekt „Jeder“ bezeichnet die maximale Anzahl von Subjekten. Das Temporaladverb „immer“ ist der Ausdruck des zeitlichen Maximums. Das „Beste“ wiederum ist ein Superlativ der Qualität, mit dem Possesivpronomen „sein“ an das Subjekt gebunden und Objekt zum Verb „geben“. Der Satz steht im erzieherischen Imperativ, der keinen Widerspruch duldet: „Jeder gibt immer sein Bestes.“ Er besteht in allen sprachlichen Bestandteilen aus Maximierung. Der Satz ist eng und dicht, da ist kein Raum. Er ist totalitär.

Digitale Technologie als Katalysator

Vor dem Hintergrund derzeitiger technologischer Möglichkeiten entfaltet dieser Satz eine besondere Brisanz. Es ist inzwischen tatsächlich möglich, dass jeder immer erreichbar, ansprechbar, verfügbar ist. Informationen und Kommunikationswege sind nicht mehr an Raum und Zeit gebunden, auch Datengrenzen gibt es praktisch keine mehr. Kein Arbeitnehmer kann sich inzwischen darauf zurückziehen, dass ihn eine Nachricht nicht erreicht hat. Jeder gibt immer sein Bestes. Es ist klar, dass es nicht die Technologie ist, die hier eine Grenze setzt. Die Technik kann immer ihr Bestes geben. Aber kann der Mensch das auch? Und wenn ja: Zu welchem Preis?

Beobachtungen

Eine Freundin hat in einem Unternehmen in Berlin gearbeitet. Eine qualifizierte, kompetente Frau, die auch bereit ist, Führungsverantwortung zu übernehmen. Für einen Langzeitkunden musste plötzlich kurzfristig ein Projekt über die Bühne gebracht werden, in eigentlich viel zu kurzer Zeit, mit eigentlich zu vielen Aufgaben und zu wenigen Leuten. Sie haben es trotzdem geschafft. Sie haben für ihren Langzeitkunden die Ärmel hochgekrempelt und es hinbekommen. Sie waren erschöpft und stolz, und das mit Recht. Herausforderungen gehören zum Berufsleben. Sie geben einem die Gelegenheit, über sich hinauszuwachsen. Es tut gut, wenn man etwas Unmögliches dann doch geschafft hat. „Positiver Stress“ nennt man es. Er ist die Würze eines Arbeitslebens. Er treibt uns an, im positiven Sinne.

Das Unternehmen, für das sie gearbeitet hat, hat dann aber dieses Projekt als Benchmark gesetzt. Der Zeit- und Personalaufwand für alle zukünftigen Projekte, die Jahresziele wurden von nun an nach diesem Ausnahmeprojekt kalkuliert. Es geht doch, hieß es. Das hatten sie ja eindeutig bewiesen.

„Ich habe nette Kollegen, ich liebe meine Arbeit, ich will das nicht aufgeben“, sagte meine Freundin noch letztes Jahr. Es muss irgendwie anders gehen, hat sie gedacht. Sie hat Gespräche geführt, ihrem Team den Rücken freigehalten, Verbesserungen vorgeschlagen, versucht, die Arbeitsprozesse umzustrukturieren und realisierbare Wege zu finden.

Schließlich hat sie doch gekündigt. Es geht nicht mehr, sagte sie. Am Ende hieß es: Sie oder ihre Arbeit. Es war ein trauriger Abschied, es flossen Tränen, auch bei ihr. Das Unternehmen wollte sie mit Geld zurückgewinnen. „Aber was nützt mir das Geld, wenn ich nicht mehr kann?“, sagt sie.

Gesellschaft am Limit

Sie ist – man kann es sich denken – nicht die einzige in ihrem Unternehmen. Andere werden bald folgen. Die Ursache liegt nicht in ihrer persönlichen Art, mit Anforderungen umzugehen. Die Ursache ist struktureller Natur. Das positive Leistungsklima des Unternehmens kippte in dem Moment, als die Maximalbelastung zum Durchschnitt gemacht wurde. Wenn der Ausnahmezustand die Benchmark ist, erzielt das kurzfristige Erfolge. Langfristig aber geht es auf die Substanz. Erst auf die Substanz der Mitarbeiter, dann auf die des Unternehmens.

Es kann nicht im unternehmerischen Interesse sein, wenn motivierte, kompetente, teamfähige und leistungsbereite Mitarbeiter das Unternehmen verlassen, obwohl sie eigentlich bleiben wollen. Es kann auch nicht im Sinne eines Unternehmens sein, wenn andere gute, kompetente Fachleute gar nicht erst bei ihnen als Arbeitgeber zu arbeiten anfangen, weil sie sonst befürchten müssen, dass sie sich eines Tages zwischen ihrer Gesundheit und ihrer Arbeit entscheiden müssen.

Ein neues Phänomen: Die präventive Kündigung

Ich beobachte das zunehmend, wenn Menschen von ihrer Arbeit erzählen. „Mit jedem Kollegen, der kündigt, muss ich noch mehr Projekte übernehmen“, sagt ein Freund, der in der Energiebranche arbeitet. Die Stellen werden nicht neu besetzt, die Arbeit wird verteilt, Kundenanfragen kann er nun erst nach Wochen bearbeiten. Die Kunden fangen an, unzufrieden zu werden, wer kann es ihnen verdenken. Sein Arbeitsalltag besteht daraus, Feuer auszutreten. Nur die größten, für die kleinen Feuer hat er keine Zeit.

Die Freundin einer Freundin arbeitet seit Jahren in Hamburg bei führenden Werbeagenturen mit großen Markenkunden. Sie berichtet dasselbe. Immer schneller, immer mehr musste sie arbeiten, von Pitch zu Pitch. Sie war eine zeitlang krank. Sie erholte sich und kam wieder. Befasste sich mit Gesundheitsmanagement, schlug Verbesserungen vor. Versuchte, ob es nicht doch geht. Es ging nicht. Auch sie hat gekündigt.

Die Geschichten ähneln sich. Ist es Zufall? In den gängigen Burnout-Statistiken der Krankenkassen, die seit Jahren einen zunehmenden Anstieg langer Ausfallzeiten beklagen, tauchen diese Fälle präventiver Kündigungen nicht einmal auf. Sind das alles Low-Performer? Ich bezweifle das. Es ist nicht hohe Leistung an sich, die fähige Leute belastet. Es ist die immerwährend erwartete weitere Leistungssteigerung.

Dass Unternehmen von ihren Mitarbeitern hohe Leistungen erwarten, ist richtig und sinnvoll. Eine strukturell implementierte kontinuierliche Leistungssteigerung aber ist ein Experiment. Wir wissen nicht, ob das auf Dauer funktioniert und wohin es uns führt. Wie reagiert die Ressource Mensch unter diesen Bedingungen? Welche Auswirkungen wird es auf die Gesellschaft haben, auf Unternehmen, auf die Wirtschaft?

Spurensuche

2012 geriet ein Mitarbeiter-Bewertungssystem in den Fokus der Medien, das die Leistungssteigerung für die Mitarbeiter zum Grundprinzip macht. Thomas Radermacher, Betriebsrat bei dem Unternehmen Microsoft, spricht im August 2012 im ZDF im Rahmen eines Frontal21-Berichtes über das microsoftinterne Mitarbeiter-Bewertungssystem [s. Update*]: An das klassische Schulnotensystem angelehnt, müssten in jedem Jahr ein vordefinierter Prozentsatz der Mitarbeiter mit schlechten Noten bewertet werden, unabhängig von ihrer tatsächlichen Leistung. Dieses führe, so sagt er, zu einer starken Belastung der Mitarbeiter und zu einem hohen Anstieg langer burnout-assoziierter Ausfallzeiten. Warum belastet dieses Bewertungssystem auch leistungsbereite und an sich belastbare Menschen? Weil eine weitere Steigerung ihrer Leistung von Jahr zu Jahr erwartet wird. Weil sie niemals das Gefühl haben können, gut genug zu sein.

Rank and yank, up or out

„Stack ranking“ heißt diese Methode. Auch im Bankenwesen wird sie beispielsweise angewandt. Der Amerikaner Jack Welch, der über 20 Jahre lang CEO von General Electric war, machte die Methode populär. Jährlich entließ er je 10 % seines Managements. Mitarbeiter wurden nach einem vorab festgelegten Proporz in top, good und poor Performer eingeteilt und entsprechend aussortiert, „rank and yank“. Man kann auch sagen: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Das System soll eine kontinuierliche Verbesserung der Performance erzielen, eine Art survival of the best Performer auslösen. Es ist fraglich, ob das auf lange Sicht gelingt. Denn die damit verbundenen Kollateralschäden können zum negativen Kostenfaktor für das Unternehmen werden. Der amerikanische Autor Kurt Eichenwald nennt das Stack Ranking das destruktivste Element der Managementkultur von Microsoft. Darin waren sich alle ehemaligen und gegenwärtigen Mitarbeiter des Konzerns einig gewesen, die er für eine Dokumentation für Vanity Fair interviewt hatte.

Gemeint war dabei nicht einmal die negative Auswirkung auf die Gesundheit der Mitarbeiter, sondern die destruktive Wirkung auf das Unternehmen selbst: Der interne Konkurrenzkampf behindere eine kooperative, konstruktive Zusammenarbeit. Je besser das Team, umso schlechter das eigene Ranking. Projekte von Kollegen würden sabotiert anstatt unterstützt, Informationen zurückgehalten. Der Anreiz, mit anderen brillanten Programmierern zusammenzuarbeiten und brillante Ideen zu realisieren, gehe verloren. Sein Fazit: „In the end, the stack-ranking system crippled the ability to innovate at Microsoft“.

Eine verwandte Management-Technik ist „up or out“, auch bekannt als „grow or go“. Sie wird vor allem bei großen Unternehmensberatungen praktiziert. Wer in einer festgelegten Zeit nicht befördert worden ist, soll das Unternehmen verlassen. Auch Zielleistungsverträge schreiben oft eine Leistungssteigerung vor. Sie setzen sich zunehmend auch im Gesundheitswesen durch. Jeder zweite Chefarzt arbeitet laut der ARD-Filmdokumentation „Vorsicht Operation“ unter einem Zielleistungsvertrag, zum Teil mit vereinbarten Fallzahlsteigerungen. Zeitgleich gibt es immer mehr Ärzte, deren Verträge befristet sind.

Die Steigerung als Grundzustand

Diesen Management-Techniken liegt derselbe Mechanismus zu Grunde: Eine Steigerung wird als Grundzustand definiert, um eine immerwährende Optimierung der Performance zu erzielen – ohne Regeln für das mögliche Erreichen der Optimierungsgrenze zu definieren. Dies aber wäre nötig, um Folgekosten vom Unternehmen fernzuhalten. De facto wird dem Problem derzeit mit immer neuem Nachschub an Mitarbeitern begegnet. Zynisch könnte man sagen, ein gewisser Verschleiß ist einkalkuliert. Das ist bei einem Technologie-Unternehmen nicht anders als im Agentur-Gewerbe.

Kollateralschäden

Eine zeitlang funktioniert dies. Überspannt man den Bogen aber, fangen die Kosten an, den Nutzen zu überwiegen. Während in die von allen avisierte Richtung immer weiter optimiert wird, reißt an anderen Stellen das Gewebe des Organismus auf und es bilden sich im Unternehmen unberechenbare Brüche und Risse. Zum Beispiel ein Unternehmen, das Arbeitsabläufe zu sehr strafft und dies auf der anderen Seite mit Unzufriedenheit, Fluktuation und hohen Ausfallzeiten des Personals zahlen muss. Oder der Betrieb, der Abteilungen auslagert, die Verwaltung und die Beauftragung externer Firmen aber die Einsparung wieder auffrisst. Oder das Logistikunternehmen, das die Reviere der Kuriere über den neuralgischen Punkt hinaus vergrößert. Die feinen Risse im System, die das an anderer Stelle produzieren kann, bekam meine Nachbarin zu spüren: Der Kurier hatte kurzerhand ihre Unterschrift gefälscht, um das Paket zu quittieren und seine Auslieferungsziele zu erreichen. Wer weiß, was dort im Schatten noch passiert? Folgekosten wie diese, die an anderer Stelle des Unternehmens auftreten, müssen sinnvollerweise beachtet und mitkalkuliert werden.

Fragwürdige Unternehmenskultur

Die Filmemacherin Carmen Losmann hat in ihrer Dokumentation „Work hard play hard“ die Mechanismen dieser neuen Arbeitswelt dokumentiert, mit unerbittlicher, unkommentierter und nüchterner Kamera. Auch die hier dokumentierten Unternehmen stehen stellvertretend für eine allgemeine Entwicklung. Im Gespräch sagt sie, es sei ihr nicht darum gegangen, einzelne Unternehmen an den Pranger zu stellen, sondern es gehe ihr um die generelle Entwicklung der Arbeitswelt, für die sie exemplarisch sind.

In ihrer Dokumentation klagt niemand. Keiner der gefilmten Mitarbeiter oder Führungskräfte spricht über Belastung oder gar Burnout. Und doch zeigt die Dokumentation deutlich den Nährboden, auf dem so etwas gedeihen kann. Im Mitarbeiter-Training in den Bäumen gelobt ein Mitarbeiter, von jetzt ab Prozesse und Aufgaben schneller und zielführender zu erledigen, um für sein Unternehmen mehr Umsatz zu generieren. Eine „Mega-Wachstums-Mentalität“ gibt ein Konzernleiter in der Neujahrsansprache unter Applaus seiner Konzernmitarbeiter als Devise aus und es wird einem merkwürdig unwohl dabei. Es ist die Rede von operationalen Spitzenleistungen, die – „täglich“ – angestrebt werden. Eine Change Management Expertin erklärt ihre Vision der ständigen Verbesserung, die sie für das Unternehmen hege und dass sie diese „wirklich nachhaltig in die DNA jeden Mitarbeiters verpflanzen“ möchte.

Jemand liest ein Beispiel für einen Teamkodex vor und verspricht sich an signifikanter Stelle. Der O-Ton ist aussagekräftiger als jeder Kommentar es sein könnte: „Jeder ist verpflichtet, sein Bestes zu geben. Jeder übernimmt sich…“ (hier stockt er und setzt neu an): „übernimmt für sich und andere Verantwortung und sucht nach Schwachstellen und Verbesserungsmöglichkeiten“. Der Versprecher ist tatsächlich so passiert, die Regisseurin hat ihn nicht herausgeschnitten und im Film gelassen.

Growing Faster in a Fast-Growth Economy?

Ständige Verbesserung klingt gut. Doch ganz so einfach ist es bei näherer Betrachtung nicht. Gerade das Qualitätsmanagement zeigt dies: Aus jedem Einzelnen das Maximum herauszuholen bedeutet nicht automatisch, dass sich in der Summe auch das Optimum für das ganze Unternehmen ergibt. Es ist zum Beispiel nur bedingt sinnvoll, in einem Prozesschritt mehr Bauteile zu produzieren als im nächsten weiterverarbeitet werden können. Wichtiger als die maximale Einzelleistung ist, dass die Taktung der Prozesschritte sauber koordiniert ist. Wenn der Prozess nicht stimmt, kann der Einzelne dies mit seiner eigenen Leistung nicht auffangen, so sehr er sich auch anstrengt. Es gibt dann nichts Richtiges im Falschen.

Der amerikanische Physiker und Statistiker William Edwards Deming gilt als Pionier des prozessorientierten Qualitätsmanagements und hatte nach 1950 großen Einfluss auf Japans Automobilindustrie. Ausgerechnet er identifiziert als zwei der „sieben tödlichen Krankheiten eines Managementsystems“: performanceorientierte Mitarbeiter-Rankings wie das Stack Ranking und die Fixierung auf kurzfristigen Gewinn. Es ging Deming also um eine Verbesserung der Qualität, aber nicht um jeden Preis. Das Management sollte ebenso darauf achten, dass die Bodenhaftung und der Bezug nicht verloren gehen. Denn wenn die Gesamtkosten einer Maßnahme steigen, sinkt auch die Qualität.

Der Amerikaner Jack Welch, der das Stack Ranking populär gemacht hat, gilt auch als der Vater des Prinzips des Shareholdervalue als Unternehmensziel. Der Anfang des Shareholdervalue-Gedankens wird in einer Rede gesehen, die Jack Welch 1981 in New York hielt. Sie hieß „Growing Fast in a Slow-Growth Economy”. 2009 gab Jack Welch, inzwischen über 70-jährig, in einem Interview gegenüber der Financial Times und angesichts der Finanzkrise folgendes zu Protokoll: “On the face of it, shareholder value is the dumbest idea in the world. Shareholder value is a result, not a strategy… Your main constituencies are your employees, your customers and your products.” Er rät den Unternehmen nun – ob aus Altersweisheit oder aus feinem Gespür für Humor – statt auf „quarterly profit“ auf eine Zunahme der „longterm values“ der Unternehmen zu achten.

Was ist in der Zwischenzeit passiert? Vielleicht ist es genau das, was den Eindruck der Beschleunigung hervorruft: Was 1981 noch „Growing Fast in a Slow-Growth Economy” war, ist inzwischen zu einem “Growing even Faster in a Fast-Growth Economy“ geworden. Das eine geht. Das andere offenbar nicht.

Grenze und Schwelle

Es scheint tatsächlich so, dass wir an die Grenze von etwas geraten. Die Beobachtungen gleichen sich in allen Branchen. Was Kollegen und Freunde erzählen, wovon die Controllingabteilungen der Unternehmen berichten, was die Studien der Krankenkassen ermitteln, der Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin – dies alles ergibt ein sich wiederholendes Muster. Es ist das Muster einer Steigerung, die an ihre Grenzen gerät. Aber was sollen wir tun mit dieser Erkenntnis?

Es hilft, sich diese Grenze, die möglicherweise bald erreicht wird, als Schwelle vorzustellen. Es hebt den Blick für das, was danach kommt. Zwar funktionieren bestimmte Mechanismen nicht mehr, die uns über 20, 30 Jahre begleitet haben, aber es werden sich neue entwickeln. Methoden und Mechanismen, die sich sinnvoll einer sich ständig wandelnden Welt anpassen können.

Was uns bevorsteht, ist kein quantitativer, sondern ein qualitativer Wechsel. Es kann nicht mehr darum gehen, dasselbe schneller, öfter und mehr zu machen, sondern wir müssen etwas Anderes machen. Wie dieses neue Andere aussehen kann, das ist die Grundfrage des von uns entwickelten Slow Media Ansatzes. Er lässt sich auch auf die Arbeitswelt und Unternehmen übertragen: Wie nutzen wir den technologischen Fortschritt sinnvoll? Wie lässt sich ein positives Leistungsklima schaffen und erhalten? Wo lassen sich Dehnungsfugen einbauen, die das Gewebe des Unternehmens vor einem Zerreißen schützen? Welche Perspektive müssen wir einnehmen, um das Ganze sehen und langfristig sinnvoll handeln zu können?

Ein wachsender Organismus mit positivem Leistungsklima

Die Aufgabe für die Zukunft wird sein, sich differenziert mit Wachstum zu befassen. Dazu gehört, die feinen Unterschiede zwischen einem positiven und nährenden Wachstum und einem Wachstum, das verzehrend und zerstörerisch wirkt, zu analysieren. Beispiele für ein ständiges Wachsen hin zum Besseren gibt es: Aus dem Bereich der digitalen Welt ist es der Permanent-Beta-Gedanke von Open Source Software, die sich in der Nutzung und ständigen Rückkopplung kontinuierlich immer weiter verbessert und anpasst. Kulturhistorisch lassen sich Erzeugnisse mündlicher Tradition wie Volksmärchen als eine ständige Optimierung und Anpassung an Bedürfnisse und Erwartungen von Erzählern und Zuhörern verstehen. Der Mensch selbst ist mit seinem lebenslangen Lernen und Wachsen ein gutes Vorbild. Ebenso die menschliche Sprache als System, das sich der verändernden Welt anpasst. Immer sind solche Anpassungs- und Wachstumsprozesse mit der Gratwanderung zwischen Anpassung und Wahrung von Identität und Bezug verbunden.

Auch Unternehmen können sich als wachsenden und lernenden Organismus verstehen und jeden Tag besser werden, ohne sich selbst aufzuzehren. Gefordert ist dabei eine aufmerksame Fehlerkultur, eine Optimierung, die die eigenen Grundannahmen an der Wirklichkeit überprüft und rückkoppelt. Verbesserung heißt: Aufmerksam werden, wenn die Fluktuation unter der Belegschaft steigt, die Resignation, die Ausfallzeiten. Hinhören, wenn gute Mitarbeiter signalisieren: So geht es nicht mehr, wir müssen andere Wege finden. Die Steigerung absolut zu setzen, ohne die Folgen für das Gesamtsystem im Blick zu halten, ist mit zu hohen Kosten verbunden. Wer wachsen will, muss für Dehnungsfugen sorgen. Soll Leistungssteigerung dem Unternehmen langfristigen Erfolg sichern, muss sie im Unternehmen als Ganzes funktionieren.

Was bedeutet das für unseren Satz am Anfang, „Jeder gibt immer sein Bestes“? Ich möchte den Satz gerne modifizieren: „Jeder handelt so, wie es für das Gesamte am besten ist“. Die ständige Maximalleistung des Einzelnen ist dann nicht mehr nötig. Stellen wir uns also für die Zukunft jenseits der Schwelle Unternehmen vor, denen es gelingt, auf dem Weg des Wachstums auch die mitzunehmen, die sie dort brauchen: ihre Kunden, die Qualität ihrer Leistungen, ihre eigene Identität und ihre Mitarbeiter.

 

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[Update*]:
Inzwischen (seit November 2013) hat das Unternehmen Microsoft das umstrittene Mitarbeiterbewertungssystem Stack Ranking abgeschafft: http://www.theverge.com/2013/11/12/5094864/microsoft-kills-stack-ranking-internal-structure

 

Wie lässt sich ein produktives, effizientes und gesundes Leistungsklima in einer digitalen Arbeitswelt etablieren? Lesen Sie hier mehr zum “Interaktionsmdell Digitaler Arbeitsschutz”: http://slow-media-institut.net/digitaler-arbeitsschutz

 

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Serendipity nach dem Ende der Antiquariate

Wieviele Städte haben sich mir nicht in den Märschen erschlossen, mit denen ich auf Eroberung von Büchern ausging.
Walter Benjamin, “Ich packe meine Bibliothek aus”

I once read a silly fairy tale, called the three Princes of Serendip: as their Highnesses traveled, they were always making discoveries, by accidents and sagacity, of things which they were not in quest of.
Horace Walpole, Brief an Horace Mann vom 28. Januar 1754

2005 hatte ich zur Vorbereitung unserer Ausstellung “Splendor Solis” nach Literatur auf ZVAB gesucht. Einer der gesuchten Titel war bei einem münchner Antiquariat verfügbar. Statt also ein paar Tage auf die Lieferung zu warten, bin ich einfach auf meinem Weg durch die Stadt bei dem Ladengeschäft vorbeigegangen und habe mir das Buch direkt vor Ort gekauft. Da es mich interessierte, fragte ich den Buchhändler, wie wichtig der Vertriebskanal ZVAB für ihn sei. Ohne zu zögern sagte der: Online stünde für zwei Drittel der Verkäufe und für einen Zuwachs an Geschäft von mindestens 25 Prozent. Das war 2005.

Ich erzähle diese Begebenheit, weil es mein letzter expliziter Besuch in einem Antiquariat gewesen ist.

Nicht, dass ich nicht vorher schon das Meiste an Büchern nach Katalogen bestellt hätte – aber es war stets eine 1:1-Beziehung, stets der Katalog eines Antiquariats. Inzwischen gibt es für mich Used&Rare Books nur noch auf ZVAB und Amazon.

Amazon ist ein perfektes modernes Antiquariat; aktuelle Lehrbücher, vergriffene Texte der letzten 20-30 Jahre sind hier gut erreichbar. Das liegt meiner eigenen Erfahrung nach darin, dass Buchverkäufe über Amazon wesentlich einträglicher sind, als sie je über den stationären Antiquariatshandel gewesen wären. Es greift das Long-Tail-Prinzip: für spezielle Titel ist die Wahrscheinlichkeit einen Käufer zu finden hier einfach größer. Und die Marge, die Amazon sich behält ist entsprechend klein.

ZVAB bietet wiederum ein ganz anderes Sortiment – die gesamten Kataloge fast aller Antiquariate in Deutschland und vielen anderen Ländern sind verfügbar. Im Gegensatz zu Amazon bietet ZVAB die besten Treffer bei alten und auch bei wertvollen Büchern.

Ich kaufe mir heute Bücher vor allem gezielt. Ich stoße auf ein Thema, recherchiere danach und kaufe mir die fehlenden Texte. Stöbern tu ich aber so gut wie nicht mehr, ganz zu schweigen davon, extra in einer Stadt herumzufahren, um Antiquariate zu besuchen.

Der Tod der Serendipity durch Google, Amazon, Ebay etc. ist oft beklagt. Der Information Highway bedeutet – wie bei einer Autobahn “im Real Life” – zum einen, gezielt dorthin zu gelangen, wo man hinmöchte, aber auch zu übersehen, was links und rechts des Weges gelegen hätte.

Aber in Wirklichkeit ist das Rad schon viel weiter gedreht. Während ich diesen Post schreibe, habe ich die Literatur dazu online aufgerufen. Das Benjamin-Zitat oben habe ich noch konventionell aus der Suhrkamp-Ausgabe abgetippt – ich wusste genau wo es steht; Walpoles bemerkenswerte Erfindung des Wortes Serendipity aber habe ich von Google Books geholt – bei aller Liebe zum 18. Jahrhundert – den Briefwechsel mit Horace Mann in vier Bänden habe ich dann doch nicht griffbereit zu hause.

Oft höre ich, ‘ja, aber das Meiste, besonders aber entlegene Sachen findet man eben doch nicht online”. Das stimmt zum Teil noch (wobei ich den besagten Briefwechsel, der bei Google komplett digitalisiert vorliegt, schon recht weit abseits gelegen finde). Aber es ist doch nur noch eine Frage der Arbeit weniger Jahre und praktisch alle Buchveröffentlichungen werden online verfügbar stehen. Amazon verkauft auch in Europa bereits mehr Ebooks als gedruckte Bücher [1]. Schon bald also wird auch die Suche nach gedruckten Büchern auf ZVAB oder Amazon auf Bibliophilie reduziert – nur noch das wird gekauft, was wir materiell in den Händen halten wollen.

Um meine Rede eingangs wieder aufzugreifen: ich halte diese Entwciklung für positiv und begrüßenswert, von der persönlichen Bequemlichkeit abgesehen, bietet die Verfügbarkeit der Literatur online unglaubliche Chancen für Menschen, die fern der Zentren keinen Zugang zu Bibliotheken haben. Es geht mir nicht darum zu beklagen, dass Literatur und Flanieren nicht mehr gekoppelt sind, auch wenn sich beim Gedanken an diesen “Verlust” Nostalgie einstellt.

Wie wir zukünftig auf Dinge stoßen, die wir nicht gesucht haben, inspiriert werden, außerhalb unseres direkten Freundeskreises, ohne von den wenigen Algorithmen der Empfehlungssysteme bei Amazon und Google abhängig zu sein, halte ich dennoch für eine sehr wichtige Frage.

“To do something interesting, it’s got to make follies. I became OK with this idea that I was OK being wrong.” sagt Brian Eoff, Data Scientist bei bit.ly in seinem bemerkenswerten Vortrag auf den Data Days. Gezielte Störungen in die Algorithmen einbauen, um uns vom graden Weg abzubringen – vielleicht ist diese gezielte Störung der Weg, uns die Serendipity zu erhalten. Und zwar nicht nur beim Suchen nach Information.

Am Ende der unverändert lesenswerten Kurzgeschichte Cutting Edge von Michael Meloan – eine Schlüsselerzählung über Stanford – ist es genau, was der Informatik-Professor Peter Jakob in die Forschung der Universität injiziert: Zufall.

I have introduced a virus into all the computer systems on our network. It is very subtle, virtually undetectable, and will produce minuscule cyclic errors in floating-point calculations on all of the workstations. […] I am convinced that in tracking down these errors, the faculty and students will be shaken out of their routines, which I’m hoping will have a positive effect. Each one will be forced to look at his or her data from a slightly new perspective. Forced to stop and ruminate. These are the spores that I have shed.

Vielleicht ist aber auch Twitter die Lösung, wie Jürgen Hermes vorschlägt [2]. Wenn man nur genug unterschiedlichen Leuten folgt, ist die Timeline wie Vogelgezwitscher – und voller Überraschungen.

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Revolution, Entschleunigung und Vatis Smartphone

DGB Plakat (1956)

Es ist über 50 Jahre her, dass das Private in Gestalt eines Kindes im Dreikäsehochalter sein Recht gegenüber dem Arbeitsmarkt einforderte: “Samstags gehört Vati mir”!

Die Ausnahmesituation des Nachkriegsaufbaus hatte zu immer längeren Arbeitszeiten geführt. Das Plakat von 1956 war der Auftakt einer Kampagne des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Einführung der 40-Stunden- bzw. 5-Tage-Woche. Immerhin, so mag man aus heutiger Sicht ergänzen, hatte Vati am Sonntag sein Smartphone aus.

Prof. Dieter Sauer, Sozialforscher am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung in München, hat zum Auftakt des AOK-Fehlzeitenreportes 2012 einen Beitrag über die heutige Arbeitswelt geschrieben. Er heißt “Entgrenzung – Chiffre einer flexiblen Arbeitswelt”. Ungeachtet der tariflichen Arbeitszeitverkürzung stellt er ab den 90er Jahren eine Verlängerung der durchschnittlichen tatsächlichen Arbeitszeit fest und zitiert folgende Zahlen:

“Der Anteil der männlichen Beschäftigten in Westdeutschland, die über 42 Stunden [pro Woche] arbeiten, stieg von 1994 bis 2007 von 30,4 % auf 46,8 %, der Anteil der über 48 Stunden arbeitenden von 12,7 % auf 21,6 %. In Ostdeutschland liegen die Anteile noch höher” (Sauer, S.8). Wir können also davon ausgehen, dass heute eine Vielzahl* der männlichen Beschäftigten deutlich länger als 40 Wochenstunden arbeiten. Besonders pikant: Während Männer immer länger arbeiten, arbeiten Frauen immer kürzer. Auch der Anteil der Beschäftigten hat sich erhöht, die unterhalb des Vollzeitniveaus arbeiten – “vor allem aufgrund der zunehmenden Teilzeitbeschäftigungen der Frauen” (ebd).

Lassen wir uns ehrlich sein. Die Situation heute, im Jahr 2012 sieht so aus: Vati arbeitet zuviel und Mutti bleibt zuhause. Wir haben wir uns in eine Situation hineinmanœuvriert, in der uns eine Forderung aus dem Jahr 1956 aktuell erscheint.

Wie ist uns das passiert?

Sind wir womöglich auf dem direkten Weg zurück in die 50er Jahre? Steigende Wochenarbeitszeiten, eine aufklaffende Schere zwischen männlichen und weiblichen Arbeitszeiten bei Unzufriedenheit auf beiden Seiten: Wollen kann das niemand.

Was mich also vor allem interessiert: Wie kommen wir da heil wieder heraus?

Wir müssen über unsere Grundannahmen zum Thema “Fortschritt” nachdenken. Was glauben wir über den Fortschritt? Sicher, der Begriff impliziert, dass es um ein Voransschreiten, also eine Weiterentwicklung handelt. Ebenso das Englische “progress” und der französische “progrès”, die auf dem lateinischen Verb progredi (fortschreiten, vorrücken) basieren. Aber wohin ist dieses “weiter”? Führt es uns dahin, wo wir hinwollen? Welchen Sinn hat ein Fortschritt, wenn er uns in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückführt? Schon der Club of Rome setzte 1973 mit “Die Grenzen des Wachstums” nachdrückliche Fragezeichen hinter einen blinden Fortschritts- und Wachstumsglauben.

In unserer Slow Media Arbeit in Blog und Institut befassen wir uns mit dem Medienwandel und wie die technologische Entwicklung konstruktiv und auf nährende, sinnvolle Art gesellschaftlich verankert werden kann. In unseren Essays ist im Zusammenhang mit der Übergangsphase, in der wir uns befinden, oft von Verflüssigung fester Strukturen, Auflösung der Grenzen, Thixotropie und in unserer gleichnamigen Declaration von Liquid Culture die Rede.  Der Wandel, so lautet unser Fazit, ist kein Ausnahmezustand mehr, sondern er wird uns – ob wir wollen oder nicht – auf Dauer begleiten. Während man sich früher zwischen Veränderungsphasen noch in Phasen eines relativ konstanten Zustandes von all dem Wechsel erholen konnte, ist es heute so: Die Veränderung ist der Zustand. Und er wird es bleiben. Flexible Strukturen sind eine konsequente Antwort auf eine sich ständig verändernde, “flüssige” Welt. Das Kunststück besteht darin, flexibel zu sein und dennoch Kontur und Identität zu bewahren.

Der von dem Wissenschaftlichen Institut der AOK herausgegebene Fehlzeitenreport informiert jährlich über die Krankenstandsentwicklung in der deutschen Wirtschaft. Der Klappentext der Studie liest sich fast wie die Präambel unseres Slow Media Manifestes: “Durch die wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte hat sich die Arbeitswelt […] stark verändert. […] Ermöglicht und beschleunigt wird diese Entwicklung auch durch den Fortschritt in der Informationstechnologie.” Ergebnis der Studie 2012: Lange Ausfallzeiten aufgrund von Burnout-Erkrankungen nehmen rapide zu. Als Ursache wird vor allem die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitswelt gesehen. Auch hier findet sich das Muster der Auflösung wieder, die Veränderung des Aggregatzustands von fest zu flüssig. Rein sprachlich lässt sich das an den im Report verwendeten Metaphern ablesen: Da ist von “Zerfließen” der Grenzen die Rede, von “Auflösung” fester Arbeitsstrukturen, “Aufweichen” und “Erosion”.

Dieter Sauer beschreibt in seiner Analyse die Entgrenzung als Phänomen der heutigen Arbeitwelt. Auch hier ist der Wandel zur Konstante geworden, sichere Verhältnisse gibt es nicht mehr. Die Grenzen zwischen Unternehmen und Markt lösen sich auf. “Mit der Dominanz der Finanzmärkte werden finanzmarktorientierte Steuerungsgrößen für die innere Organisation und die Arbeitsabläufe führend” (Sauer, S. 6). Standardisierung und Globalisierung führen – “zunehmend auf der Basis von weiterentwickelten Informations- und Kommunikationstechnologien” – dazu, dass Prozesse international vergleichbar und bewertbar – und damit auch austauschbar sind (ebd.). Der wirtschaftliche Druck steigt und wird nach innen weitergeben. Zugleich lösen sich die Grenzen zwischen Arbeits- und Lebenswelt der Arbeitnehmer auf. Die durch die digitalen Entwicklungen gewonnene Flexibilität und Möglichkeiten zur Selbstorganisation entfalten jedoch vor dem Hintergrund globaler Anforderungen und ständiger betrieblicher Reorganisation nicht nur positive Effekte. Wer als Arbeitnehmer das Gefühl hat, ersetzbar zu sein und ständig zur Disposition stehen, tut sich schwer, sich selbst vor Überarbeitung zu schützen. Gerade die Flexibilisierung öffnet hier ein großes Tor zur Selbstausbeutung.

Es kommt zu einer Art fremdbestimmter Selbstorganisation. Zunehmende Anforderungen und Unsicherheit führen dazu, dass der Einzelne die globalen Anforderungen des Marktes auf seinen eigenen flexiblen Schultern trägt.

Der von dem diesjährigen Fehlzeitenreport festgestellte alarmierende Anstieg der Burnoutfälle hat genau hier ihren Ursprung: zwischen 2004 und 2011 haben sich die Arbeitsunfähigkeitstage in der entsprechenden Diagnosegruppe nahezu verelffacht (Fehlzeitenreport, S. 337).

Was also ist zu tun?

Je weniger Verlass auf feste Strukturen und Konditionen ist, je mehr ständige Veränderung unser Arbeitsleben bestimmt, um so wichtiger ist die innere Orientierung in der eigenen Rolle, die Bewusstheit des Einzelnen über die eigene Verantwortung und auf Organisationsebene ein gesunderhaltendes Führungs- und Kommunikationsklima. Vereinbarungen zur Entschleunigung können in Unternehmen helfen, Identität, Vertrauen und Bindung wiederherzustellen und die Ressource Mensch langfristig gesund und leistungsfähig zu erhalten. In unserem Slow Media Institut arbeiten wir gerade an einem Konzept, wie sich der Slow Media Ansatz zur Burnout-Prävention einsetzen lässt. Ziel ist eine beherzte und verantwortungsvolle Nutzung der Möglichkeiten des technologischen Fortschritts.

Seit Georg Büchners “Dantons Tod” wissen wir, dass ein allzu blindes Fortrasen in eine einmal für richtig befundene Richtung destruktiv wirken kann: “Ich weiß wohl, – die Revolution ist wie Saturn, sie frißt ihre eignen Kinder”, sinniert Danton dort, glaubt aber nicht daran, dass die Revolution sich wirklich gegen ihre Gründer richten wird (I. Akt, 5. Szene). Und doch finden die Helden der Französischen Revolution sich später selbst auf dem Schafott wieder. Wie ist das möglich? Auch hier liegt es an unterschiedlichen Auffassungen, was Fortschritt zu bedeuten hat. “Wir müssen vorwärts”, ruft Philippeau und Herault präzisiert, was dieses “vorwärts” für die – so möchte ich sie nennen – Slowmediavisten der französischen Revolution bedeutet: “Die Revolution ist in das Stadium der Reorganisation gelangt. Die Revolution muß aufhören und die Republik muß anfangen” (I. Akt, 1. Szene). Fortschreiten kann manchmal gerade bedeuten, in eine reflektiertere und konstruktive Phase zu treten, mit den gewonnenen Potentialen etwas Neues aufzubauen. Robbespierre will zwar auch vorwärts, für ihn jedoch bedeutet vorwärts: Weiter machen mit der Revolution, und er will sich dabei von einem Bremser wie Danton nicht aufhalten lassen. Das absolutgesetzte und lineare “Weiter” mündet so in eine selbstzerstörerische, zirkuläre Bewegung.

Gerade um vorwärts zu kommen, müssen wir wissen, wie wir Fortschritt für uns definieren.  An welchen neuralgischen Stellen sollten wir eingreifen, damit sich nicht auch unser Fortschritt gegen uns wendet? Dazu ist es wichtig, einen Schritt aus den Situation herauszutreten und von einer Metaperspektive aus die eingeschlagene Richtung zu hinterfragen. Wo fängt die lineare Gerade an, uns in die falsche Richtung zu leiten? Wir sollten anfangen, zwischen quantitativem und qualitativem Fortschritt zu unterscheiden.

Sonst können wir mit allem grad wieder von vorne anfangen.

Saturn verschlingt seinen Sohn (Rubens, 1636)

Literatur

Badura/Ducki/Schröder/Klose/Meyer (Hrsg.): Fehlzeiten-Report 2012, Schwerpunktthema: Gesundheit in der flexiblen Arbeitswelt: Chancen nutzen, Risiken minimieren. Berlin 2012. (Fehlzeitenreport)

Dieter Sauer: Entgrenzung – Chiffre einer flexiblen Arbeitswelt – Ein Blick auf den historischen wandel von Arbeit. S. 3-14. In: Fehlzeitenreport 2012 (s.o.)

Georg Büchner: Dantons Tod. Ein Drama. In: Georg Büchner: Werke und Briefe. Hrsg. von Karl Pörnbacher (u.a.). München 1988.

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Alltag Philosophie

Abrahams Opfer

“Ein jeder muß ein inneres Heiligthum haben dem er schwört, und wie jener Fahnenjunker sich als Opfer in ihm unsterblich machen – denn Unsterblichkeit muß das Ziel sein.”
Bettina von Arnim, Die Günderode

Have you suffered, starved and triumphed,
groveled down, yet grasped at glory,
Grown bigger in the bigness of the whole?
“Done things” just for the doing, letting babblers tell the story,
Seeing through the nice veneer the naked soul?
Have you seen God in His splendors,
heard the text that nature renders?
(You’ll never hear it in the family pew).
The simple things, the true things, the silent men who do things —
Then listen to the Wild — it’s calling you.

Robert Service, Call of the Wild

***

Da preist man uns das Leben großer Geister
Das lebt mit einem Buch und nichts im Magen
In eine, Hütte, daran Ratten nagen.
Mir bleibe man vom Leib mit solchem Kleister!
Das simple Leben lebe, wer da mag !
Ich habe (unter uns) genug davon,
Kein Vögelchen von hier bis Babylon
Vertrüge diese Kost nur einen Tag.
Was, hilft da Freiheit? Es ist nicht bequem
Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.

Die Abenteurer mit dem kühnen Wesen
Und ihrer Gier die Haut zu Markt zu tragen
Die stets so frei sind und die Wahrheit sagen
Damit die Spießer etwas Kühnes lesen:
Wenn man sie sieht, wie das am Abend friert
Mit kalter Gattin stumm zu Bette geht
Und horcht, ob niemand klatscht und nichts versteht
Und trostlos in das Jahr 5000 stiert.
Jetzt frag ich Sie nur noch: Ist das bequem?
Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!

Ich selber könnte mich durchaus begreifen
Doch sah ich solche Leute aus der Nähe
Da sagt ich mir: Das mußt du dir verkneifen
Armut bringt außer Weisheit auch Verdruß
Und Kühnheit außer Ruhm auch bittre Mühen.
Jetzt warst du arm und einsam, weis’ und kühn
Jetzt machst du mit der Größe aber Schluß.
Dann löst sich ganz von selbst das Glückspro-
Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!

Bertold Brecht, Dreigroschenoper

Das Wort Opfer bezeichnet im Deutschen zweierlei: zum einen ist es jemand, dem ein Schaden entsteht – ein Verbrechensopfer oder ein Unfallopfer, zum anderen bedeutet es eine Rituelle Darbringung vor den Göttern, die Opfergabe. Im Lateinischen heißt der erste Begriff Victima, der zweite Sacrificium. Die Trennung Victim und Sacrifice hat sich in vielen Sprachen erhalten. Im Englischen gibt es für das Unglücksopfer sogar ein weiteres Wort: Casualty. Völlig unabhänig sind die Begriffe aber in ihrer heutigen Bedeutung nicht. Wer sich opfert, zieht häufig auch andere in Mitleidenschaft, macht sie zu Opfern.

Die biblische Erzählung von Abraham, dem Erzvater der Juden, Christen und Muslime, ist der Archetyp eines solchen doppelbödigen Opfers – der Vater, der aus seiner sicht das Wertvollste opfert, das er besitzt und dabei aber seinem Sohn das ultimative Opfer abverlangt. Die Bedingungslosigkeit, mit der Abraham sein Ziel verfolgt paart sich mit der Rücksichtslosigkeit auf die Ziele seiner nächsten. Und nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang, dass im hebräischen Bibeltext die Anweisung Gottes an Abraham eine alternative Übersetzung zulässt. Der Imperativ וְ/הַעֲלֵ֤/הוּ kann nämlich sowohl “bring ihn dar” als auch “lasse ihn darbringen” bedeuten. Das Sacrifice Humain ist seit Abrahams Zeiten zwar meist metaphorisch zu nehmen, das Unglück, dass uns Opfer abverlangen, kann dennoch beträchtlich sein. (Es ist ja genaugenommen schon das zweite “Opfer” – zuvor hatte Abraham schließlich seine Zweitfrau Hagar nebst seinem eigentlich erstgeborenen Sohn Ismael in die Wüste geschickt …)

Die moderne Form des Opfers ist die Zielstrebigkeit, der Ehrgeiz. Ernest Shackleton kann mit seiner entbehrungsreichen Reise in die Antarktis sicher als gutes Beispiel dessen gelten, was Brecht in seiner “Ballade vom angenehmen Leben” aus der Dreigroschen Oper besingt: ein Abenteurer mit dem kühnen Wesen … Das männliche Rollenbild in unserer Kultur favorisiert dieses Opfer für ein höheres Ziel. Anders, als das hingebungsvolle “Aufopfern”, das (wie alle Eltern bestätigen können) untrennbar mit der Familie verbunden ist, opfern richtige Männer sich mit großer Geste, für die Nachwelt, für das Volk oder die Gesellschaft. Ob bei der Fahrt zum Südpol oder dem Last Stand an der Front. Während Mann sich selbst dem höheren Zweck als Opfer darbringt, gibt es in der Regel links und rechts daneben jede Menge weiterer Opfer dieses Heldentums – diesmal aber im Sinne der Casualties. Shackelton ist schließlich nicht alleine zum Südpol gefahren. Und seine Familie hatte der Abenteurer einfach zuhause zurückgelassen.

Der Preis, den andere für unser Opfer zahlen, ist oft höher, als das, was wir selbst bereit sind, in den Opferstock zu werfen. Und dabei erwarten wir solche doppelten Opfer heute nicht nur von den Männern. Wenn Frauen “mitspielen” wollen, müssen auch sie bereit sein, nicht nur hart gegen sich selbst zu handeln, sondern auch ihrer Familie gegenüber. Welche Werte vertreten Menschen, die ihr eigenes Streben über das Glück von Anderen stellen?

“Wenn wir im Schlaf, den Ruhm nicht spüren, sollten wir ihn dann im Tode fühlen, der ein ewiger Schlaf ist? […] Heute sterben wir und morgen spricht kein Mensch mehr von uns. […] Und du hast soviel erduldet, bist selbst dem Tod nicht ausgewichen und glaubst nun hoffnungsvoll, dass die Menschen von dir reden werden? Sag mir doch, wer der fünfte, vierte, dritte römische Kaiser war! Frage den Mann auf der Straße! Nicht einmal vom vorletzten kann er den Namen sagen; und wenn wirklch einer von zehntausend es weiß, wird er sich daran wie ein Träumer an etwas erinnern, woran er sonst nie denkt.”
Lorenzo Valla, Vom wahren und falschen Guten

Es ist kein höheres Gut, als Freundschaft, schreibt Cicero über den Kern der Lehre Epikurs. Und wie Valla in seiner humanistischen Philosophie des Hedonismus ausführt, ist Schönheit und Glück gleichbedeutend mit Ehre und Würde und nur eine Täuschung bringt uns dazu, die Begriffe nicht zu identifizieren.

Latenter esse vivendum – Man soll im Verborgenen leben – ist die von Plutarch überlieferte Regel des Epikur für ein glückliches, gutes Leben. Also Schluss mit Karriere, dem Kandidieren für Ämter, dem Streben nach einem politischen Mandat.

“So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen. Lass deine Kleider immer weiß sein und lass deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit deiner Frau, die du lieb hast, solange du das eitle Leben hast. “(Pred. 9, 7ff). “Denn wer noch bei den Lebenden weilt, der hat Hoffnung; denn ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe.” (Pred 9,4)

Weiter lesen:
Kohelet – Zeit und Glück

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Wo sind die Kioske hin?

Vor ein paar Tagen wollte ich eine Zeitung kaufen. Am liebsten kaufe ich Zeitungen in einem Kiosk. Meinen Lieblingskiosk um die Ecke, der mich jahrelang begleitet hat, gibt es leider nicht mehr. Dort stand die füllige Nichtraucherin Nada, umhüllt von Rauchschwaden ihrer Dauergäste (manche mit Hund, manche nur mit viel Zeit), hinter der Theke. Ich bekam zwischen Schulheften und sauren Zungen meine Zeitung mit einem Nachbarschaftsplausch überreicht. Gut. Temps passés. Ihr Arbeitsalltag war sicher hart und nicht jedem zu empfehlen.

Aber mit ihr verschwanden vor ein paar Jahren auch die anderen traditionellen Kioske aus dem Viertel. Es machten neue Kioske auf. Auch dort sind die Menschen hinter der Theke nett. Sie verkaufen saure Zungen, Sim-Karten und Biermixgetränke. Sie achten gut auf die Nachfrage der Nachbarschaft. Was die Schulkinder gerne knabbern, gibt es dort in der nächsten Woche zu kaufen.

Sie verkaufen aber keine Zeitungen. Kioske ohne Zeitungen, eine neue Gattung. Manchen haben zwar noch einen Zeitungsständer mit ein wenig Papier, aber es sind eher Feigenblätter, glaubwürdiges Kiosk-Kolorit.

Was bedeutet es, dass es Kioske ohne Zeitungen gibt?

Bücher im Supermarkt

Schließlich fand ich stadteinwärts doch noch einen Zeitungs-Kiosk. Die Zeitschrift, die ich suchte, hatte der Kioskbetreiber aber nicht. Er habe nie von ihr gehört, sagte er. Zum Beweis zeigte er auf das schmale Regal, in dem die Zeitschrift offensichtlich doch stand. “Ah, tatsächlich”, sagte er auf meinen Hinweis. “Ist mir nie aufgefallen.” Er wirkte nicht irritiert. Er hätte genausogut irgendetwas anderes verkaufen können, Autoreifen oder Haarwuchsmittel. Wie im Supermarkt, der das wahrscheinlich noch größte Sortiment an Presseerzeugnissen hat. Ich mag meinen Supermarkt. Aber wen frage ich da, wenn ich eine Frage zu einem der Produkte habe?

Aus dem Bereich Papier stammt auch die Meldung, dass Thalia im kommenden Jahr die Bonner Universitätsbuchhandlung Bouvier schließen wird. Die 185 Jahre alte Fachbuchhandlung, die in Steinwurfweite zur Universität liegt, wird zugunsten der Thalia Zweigstelle im nahegelegenen ehemaligen Metropol aufgegeben, einer Art Convenience Medien Kaufhaus. Nur auf den zweiten Blick kann man hier hinter den bunten Geschenkartikeln Bücher entdecken. Die Buchhändler sollen, so sagt eine Geschäftsführerin der zu Douglas gehörenden Thalia-Gruppe, intern bei Thalia oder “woanders bei der Douglas-Holding” untergebracht werde. Ich bezweifle, dass das eine gute Nachricht ist. Müssen wir uns einen Buchhändler in einem Kosmetikkaufhaus vorstellen? Wie kommt man auf die Idee, dass das eine gute Idee sein könnte? Zwar ließen sich Verbindungen zwischen Parfums, Gerüchen und Marcel Proust herstellen. Aber das dürfte kaum reichen.

Der Geist, der hier durchweht, ist der: Es geht nur um das Verkaufen. Welches Produkt verkauft wird, ist austauschbar. Zeitungen, Geschenkartikel, Bücher, Faltencremes, einerlei. Wer das verkauft, muss keinen Bezug dazu haben. Der Unterschied zwischen einem Feinkostladen und einem Supermarkt ist ebender: Dass der Feinkosthändler einen Bezug zu den Dingen hat, die er verkauft, weiß wo sie gewachsen sind, und wie sie zubereitet werden.

Ein Kommentator eines Beitrags im Börsenblatt stellt zu den Fehlern des Bouvier-Vorbesitzers Grundmann fest: “Schon ihm schwebte eher ein Kaufhaus, das auch Bücher verkauft, vor.” Das passt zu Schuldirektoren, die ebenso effizient eine Justizvollzugsanstalt verwalten und leiten könnten. Alles ist austauschbar.

Was dabei verloren geht, ist die Bindung. Der Bezug zu den Dingen, die einen umgeben, die man empfiehlt und verkauft, zu den Menschen die man leitet und führt, die man verwaltet und betreut. Wo alles auf ein maximal verkaufbares Produkt reduziert wird, geht Identität und Bindung verloren. Entfremdung, ich weiß, ein altbackenes Wort, aber hier trifft es zu.

Eine Längsschnittstudie der Harvard-Universität untersucht seit über 70 Jahren, was Menschen glücklich macht. “Das mit Abstand wichtigste ist die Bindung”, sagt der Leiter der Studie. Die Fähigkeit, Bindung zu Menschen herzustellen, sicher auch Bindung zu der Welt und zu sich selbst. Sind wir auf dem Weg, eine bindungslose und damit unglückliche Gesellschaft zu werden? Innerhalb einer Gesellschaft hat auch Kultur die Aufgabe, Bindungsfähigkeit herzustellen. Sie schafft Identität und ermöglicht es Menschen, sich zugehörig zu fühlen. Sie stellt einen Bezug her zwischen den Menschen und der Welt, der Gemeinschaft, in der sie leben.

Anstatt im Supermarkt meine Zeitung zu kaufen, gehe ich manchmal in das Café um die Ecke. Es hat wohltuend viel Papier-Druckwaren abonniert. Ich halte mit der Kellnerin einen Plausch und bestelle einen Milchkaffee. Dort sitze ich unter Tätowierten und lese mich quer durch den Blätterwald.

 

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Nachtrag:

Das Buch im Kauftempel als bindungslose und austauschbare Konsumware neben anderen Konsumartikeln – das war das Konzept von Thalia. Als Grund dafür, dass dieses Konzept nicht aufgeht, nennt Thalia/Douglas den “aktuellen Branchenumbruch”. Man sollte sich hier vor einem Verständnisreflex hüten.

Zwar hat das Internet vieles ausgelöst. Es ist jedoch die Frage, ob es in diesem Fall wirklich der aktuelle Branchenumbruch selbst ist, der ruinös war, oder eher die unternehmerische Reaktion auf ihn.