Vor gut einem Jahr waren wir frischgebackene Manifest-Autoren. Wir hatten keine höheren Plan, keine Viralstrategie oder sonstige Absichten und Hintergedanken. Wir wollten es eigentlich nur einmal gesagt haben, fürs Protokoll gewissermaßen. Und dann ist Slow Media einfach ein gutes Beispiel für sich selbst geworden, für angeregte Debatten, für Kontroversen, Empfehlungen, Nachhall. Zwischen Anfang 2010 und jetzt liegt ein Jahr voller Diskussionen, Vorträge und Gespräche, darunter so schräge wie Interviews mit dem norwegischen Rundfunk und so ehrwürdige wie Vorträge beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels oder dem Europarat.
Was machen wir nun damit? Ganz einfach: Wir machen weiter. Wir gründen ein Forschungsinstitut. Das Slow Media Institut entwickelt einerseits die im Manifest formulierten theoretischen Reflexionen weiter. Andererseits ist der Ansatz unbedingt praktisch. Die Studien des Instituts fragen nach der Praktikabilität, suchen nach existierenden und möglichen neuen Geschäftsmodellen für die Rentabilität von Qualität in Kommunikation und Medien.
Wir freuen uns darauf, die begonnenen Debatten und Gespräche weiterzuführen und den Fragen, die sich täglich neu ergeben, nachzuforschen. Wie werden die Medien in Zukunft aussehen, wie wandelt sich die Kommunikation? Welche Medienformen werden sich bewähren? Gerade in diesen Tagen sehen wir auch an der Situation in Ägypten, dass dies höchst aktuelle Fragen sind. Wir sind gespannt.
Und weil das Institut etwas Eigenes ist, hat es natürlich auch eine eigene Website: www.slow-media-institut.net
Klassische Revolutionsikonografie. Foto: Richard Gutjahr
Ich weiß nicht, welche alten Reflexe mich am vergangenen Wochenende dazu bewegt haben, doch immer wieder durch die öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramme und deutsche Nachrichten-Sender zu schalten. Völlig ungerührt vom historischen Geschehen im Maghreb wurde hier das traditionell nachrichtenfreie Wochenendprogrammschema samt Florian Silbereisen und Wintersport abgehakt (ähnlich stoisch übrigens wie Präsident Mubarak seine Regierungssimulation weiterführt). Das Fernsehen hätte bei mir wirklich eine Chance gehabt, als nationales Lagerfeuer in historischen Situationen. Aber während Ereignisse wie Schnee oder Hochwasser echte Sondersendungen wert sind, schafften es 100.000ende Ägypter, die ihr Leben für etwas riskieren, das möglicherweise Freiheit ist, nicht.
Eugène Delacroix: La Liberté guidant le peuple
Stattdessen wurde fast nur während der schmalbegrenzten Norm-Nachrichten berichtet, und auch hier merkte man den Redaktionen geradezu an, wie verzweifelt sie nach “Relevanz” für die quotenrelevante Zielgruppe suchte (hier gilt offenbar der vermutete Zuschauerwunsch als Maßstab für Nachrichtentauglichkeit): Was an der Lage in Ägypten könnte den deutschen Zuschauer bloß interessieren? Und so wurde schamlos von der Lage an den ägyptischen Badestränden berichtet und von den möglichen Auswirkungen auf die deutsche Börse. Ich finde das noch heute beschämend. Das ist eine Beleidigung aller Zuschauer.
Anzeige im "Express", 30. Januar 2011
Ich sparte mir das dann und hielt es so, wie CNN mir ohnehin vorschlug: “stay with CNN”. Und mit dem englischen Al-Jazeera-Livestream. Und mit Twitteraccounts, die aus Ägypten berichteten. Und mit Richard Gutjahr. Der Nachrichtenmann des Bayrischen Rundfunks und Journalist reiste kurzentschlossen von Israel nach Kairo und berichtet per Twitter und auf seinem Blog. Alleine für die Fotos lohnt es sich, dort hinzusehen. Wer seinem Twitterstream folgt, weiß, dass er sich öfter in Israel aufhält und so eine höchst interessante Perpektive auf die Entwicklungen hat: die hiesige und die dortige. Wer weiß, dass Ägypten und Israel Nachbarstaaten sind und ein wenig im Geschichtsunterricht aufgepasst hat, muss zugeben, dass das ein Grund ist, da zuzuhören – trotz möglicher gleichzeitiger Selbstdarstellung. Der eine hält es eben so, der andere so. Thomas Knüwer meint, dass eine Unterstützung für die Roaminggebühren Richard Gutjahrs besser angelegtes Geld ist als GEZ-Gebühren. Ich bin nach den letzten Tagen geneigt, ihm zuzustimmen.
Sie sind bewaffnet: mit Fotohandys. Foto: Richard Gutjahr
So schwerfällig sich die öffentlich-rechtlichen und privaten (ja, jetzt muss man es leider sagen: alten) Medien zeigen, so schnell und unbürokratisch handeln die neuen Medien: die Unternehmen Twitter, Google und SayNow legten kurzerhand eine Wochenendschicht ein und das Ergebnis war “speak2tweet“: ein Service, der es jedem erlaubt, per Telefon Nachrichten auf Twitter zu veröffentlichen. Man wählt eine Telefonnummer, spricht seine Nachricht auf Band und diese wird unter dem Twitter-Account http://twitter.com/speak2tweet veröffentlich. Das verleiht den vom Internet abgeschnittenen Ägyptern im wahrsten Sinne des Wortes eine Stimme. Und so oft wir auf diesem Blog kritisch über Google berichtet haben (z.B. hier und hier): genau das ist es, was Medien können und auch tun sollten. Das ist wohltuend angesichts des Versagens klassischer Medien.
Foto: Richard Gutjahr
Man mag einwenden, dass diese Stimmen subjektiv sind. Ja, das sind sie. Sie sind subjektiv. Und ja, Fakten sind wichtig, aber subjektive Eindrücke eben auch (ein schönes Beispiel aus dem österreichischen Fernsehen hier). Diese Eindrücke sind wichtig und informativ – nicht nur obwohl, sondern gerade weil sie subjektiv sind. Was zählen Fakten in diesen Zeiten? Die Fakten und verifizierten Informationen können wir in Ägypten derzeit in der offiziellen Presse und den Staatssendern nachlesen und ansehen: scheinbar aufrechte Ägypter demonstrieren für Mubarak, der Präsident hat die Sicherheitslage im Griff, der Vizepräsident ist bereits dabei, die geforderten Reformen anzuweisen und auch sonst gibt es keinerlei Grund zur Unruhe. Das ist die offizielle Version derjenigen, die gewohnt sind, Fakten zu schaffen. Alles andere sei nur Hörensagen*, die Meinung Einzelner, Subjektivität.
Aber das ist genau da, wo grade Geschichte passiert.
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* Nachtrag: “Hütet euch vor Gerüchten und hört auf die Stimme der Vernunft” heißt es in einer Propaganda-SMS, die zu verschicken die ägyptische Regierung Vodafone genötigt hat.
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Eine Auswertung dieser Situation und welche Rolle die Reaktionsfähigkeit für die Medienevolution hat, finden Sie nebenan auf dem Slow-Media-Institutsblog
People don’t actually read newspapers. They step into them every morning like a hot bath.
McLuhan
Einen, der am Boden liegt, soll man nicht noch treten. Dass Zeitungen im täglichen Leben der jüngeren Menschen kaum noch relevant sind, ist, scheint mir, bereits von A bis Z beschrieben worden; seit Jahren ist die veränderte Mediennutzung gut erforscht. Und doch gelingt es der Zeitungsindustrie regelmäßig, selbst uns hier, die wir doch grundsätzlich dem Print wohlwollend gegenüberstehen, aus der Reserve zu locken (s. z. B. “Den Schrott gibt es im Internet?” und “Schrott-Nachtrag”).
Unter der Initiative “Medienführerschein”, bei der Grundschulkinder lernen sollen “Medien kompetent zu nutzen”, wird eine Brochure verteilt, die unglaublich unverholen und dumm für die Interessen der Zeitungsverleger wirbt: “Schau genau hin! Nachrichtenwege erkennen und bewerten.” (Urheber ist der Verband Bayerischer Zeitungsverleger e.V.)
Holzschnittartig wird die Utopie vom Qualitätsjournalismus einem unkontrollierbaren und qualitativ minderwertigem Netz-Journalismus gegenüber gesetzt. Dabei finde ich es tatsächlich noch weniger schlimm, dass den Kindern Medienangebote aus dem Internet pauschal schlecht gemacht werden. Wirklich unglaublich dreist finde ich, in welcher Form die Arbeitsweise von Zeitungen verklärt dargestellt wird. Statt ein realistisches und für die Kinder klares Bild des Journalisten-Berufs zu geben, wird ein Idyll gezeichnet. Statt grundsätzlich zu einer kritischen Haltung gegenüber Medien zu erziehen, wird eine einzelne Mediengattung als Standard herausgehoben.
Ich will gar nicht lamentieren, wie erbärmlich ich es empfinde, was heute (wie jeden Tag) für Zeug die Titelseiten der Zeitungen ausmacht (wo doch in Ägypten die vielleicht entscheidende Massenkundgebung zu erwarten ist).
Ein tiefgreifender kulturelle Wandel führt dazu, dass die Zeitungen schneller in ihrer Bedeutung schwinden, als andere Massenmedien; darüber ist schon sehr viel gesagt worden. Solche Albernheiten, wie die Medienkompetenz-Brochure der Verleger werden daran nichts ändern. Aber sie machen mir die Entscheidung leichter, meine Kinder ohne Zeitung aufwachsen zu lassen.