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TEX – digitaler Buchsatz

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Faksimile der 42-zeiligen Gutenberg-Bibel nach dem Exemplar der Berliner Staatsbibliothek Preuss. Kulturbesitz. Peagant, NY, 1964

“Gutenberg hat eigentlich nichts erfunden: Schon um die Mitte des zweiten Jahrtausends v. Chr. hätte man in diesem sinn buchdrucken können. Alle technischen Voraussetzungen (Pressen, Tinten, Blattförmige Unterlagen, auch die Kunst, Negative in Metall zu gießen) waren damals gegeben. Man druckte noch nicht, weil man sich dessen nicht bewußt war, dass man Typen handhabt, wenn man Schriftzeichen zeichnet.”
Vilém Flusser, “Schrift”

Die 42-zeilige Bibel aus der Werkstatt Gutenbergs gilt als das erste Buch, das im neu erfundenen Buchdruck mit beweglichen Lettern gedurckt wurde. Bis heute haben sich mindestens 48 Exemplare erhalten. Die Typografie dieses weltverändernden Buches gilt bis heute als eine der schönsten – von vielen sogar als die schönste erachtet, die je gesetzt wurde.

Der Textsatz Gutenbergs weist allerdings einen ganz wesentlichen Unterschied zu den späteren Satztechniken auf: während spätere Setzer den Zeilenausschluss, der alle Zeilen auf die Breite des Satzspiegels bring, durch Spatien, kleine Blei- oder Messingstreifen erreicht wird, mit denen der Setzer die Wortabstände entsprechend vergrößert, bis die Zeile voll aufgeschlossen ist, nutzte Gutenberg insgesamt 290 unterschiedliche Lettern zum Druck, die für denselben Buchstanben sich geringfügig in der Breite unterschieden. Damit ist Gutenberg vom Erscheindungsbild der Seiten viel näher an der Handschrift geblieben, als spätere Setzer – ästhetisch überlegen, aber weit weniger effizient.

Oben und unten: Typografien des berühmten Schriftdesigners Hermann Zapf – gesetzt mit TEX (Abbildungen von http://www-cs-faculty.stanford.edu/~uno/).

Als ich anfang der Neunziger Mathematik studierte, waren viele neuere Lehrbücher so hässlich, dass es mir schwer viel, den Inhalt daraus zu erfassen; die minderwertigen Satz- und Reproduktionsqualität dieser Zeit machte die “Nerd”-Wissenschaft Mathematik noch unattraktiver. Der Grund für diesen Niedergang an Publikationskultur liegt in der Umstellung vom Bleisatz auf den “Lichtsatz”. In den modernen Satzmaschinen – meist immer noch teilmechanisch oder basierend auf nicht ganz so schnellen Computern – war es schlichtweg nicht vorgesehen oder unmöglich, so komplexe, durch Indizes und Superscripten mehrzeiligen Formeln zu erstellen, wie sie eben die Mathematik ausmachen. In der Regel wurden also einfache Computer-Ausdrucke oder Schreibmaschinen-Skripten mit handschriftlichen oder mit Schablone gezeichneten Formeln vervielfältigt und gebunden. Zum ersten Mal seit 500 Jahren waren die Verlage von Gutenbergs Technologie abgewichen und es schien einigen Zeitgenossen – wie etwa Vilém Flusser – das Ende der Schriftkultur eingeläutet.

Aber nicht alle Bücher waren so hässlich. Immer öfter tauchten unter den Neuerscheinungen wirkliche Perlen der Schriftkunst auf – auch in Nischengebieten, in ganz kleinen Auflagen, ja sogar in Dissertationen und Diplomarbeiten gab es plötzlich einen unglaublichen Qualitätsschub – zumindest was das Aussehen der Texte betrifft.

Dies ist das Verdienst von Donald E. Knuth:

Sein Buch “The Art of Computer Programming” war für Donald E. Knuth der Anlass, sich systematisch mit digitalem Textsatz auseinanderzusetzen. Das Ergebnis rechtfertigt die Mühe!

Knuth – einer der großen Wegbereiter der Computerprogrammierung hatte in fast zehnjähriger Arbeit ein Textsatzprogramm geschrieben, von dem er selbst mindestens dieselbe Leistung und Qualität erwartete, wie von den großartigen Monotype-Bleisatzmaschinen. Die Geschichte dieses Programmes ist von Donald Knuth selbst erzählt: enttäuscht von der schlechten Qualität der zweiten Auflage seines Buches hatte er begonnen sich in Textsatz und Druck einzuarbeiten und nicht eher aufgegeben, bis er die perfekte Lösung vorstellen konnte – die er unter einer Free Software Lizenz veröffentlichte!

Die Notation von komplizierten Formeln ist in TEX schnell erlernt. Die Sonderzeichen werden durch einen \-Tag eingeleitet. Superskripten und Indices kommen einfach der Reihe nach.

\sum ergibt das Summenzeichen Σ
\int das Integral ∫
Griechische Buchstaben ebenso: \alpha ergibt α und so weiter. Es ist nicht schwierig, selbst weitere Befehle oder Macros in TEX anzulegen – inzwischen gibt es wohl nahezu jedes Alphabet auf Erden als Font für TEX.

Hier ein Beispiel in der vereinfachten TEX-Version, die auf Wikipedia eingebaut ist: Die Riehmannsche ζ-Funktion.

In TEX-Code:

\zeta(s) = \sum_{n=1}^\infty\frac1{n^s} =1+\frac1{2^s} +\frac1{3^s} +\frac1{4^s} +\cdots

ergibt als Bild:

… oder für s=2, mit dem bekannten Kreis-Zusammenhang:

\zeta(2) = \sum_{n=1}^\infty \frac1{n^2} = \frac{\pi^2}6

Das besondere an TEX ist aus meiner Sicht gar nicht einmal die Leichtigkeit, mathematische Formeln wie gestochen in den Text einzufügen. TEX setzt Buchseiten in einer ästhetischen Weise, wie es einstmals die besten Bleisetzer von Hand vermochten und zwar mit belibigen Typen, Schriftarten, Symbolen, von Rechts nach Links – ganz danach, wie es der Text erfordert.

Neben dem eigentlichen Textsatzprogramm gehört zu TEX noch ein Werkzeug zum Fontmanagement: METAFONT. Knuth stellte – anders als seine Vorgänger – die Buchstaben und Symbole nicht als Bitmap, also als ein Raster mit schwarzen und weißen Flächen dar, sondern beschreibt die Zeichen als mathematische Formeln, als Kurven von Funktionen. Diesem Ansatz folgen heute alle Textsatzsysteme – Adobes Postscript und pdf ebenso wie Microsofts Truetype – mit einer wichtigen Ausnahme: in diesen wird der Umriss des Buchstabens durch die Kurven beschrieben, während Knuth einen “Pinselstrich” beschreibt – eine Mittellinie und den Umriss des Pinsels in Form einer Elipse.

“The Art of Computer Programming” von Donald E. Knuth ist nicht nur schön gedruckt, sondern auch schön gebunden – Leineneinband mit Fadenheftung, wie es sich gehört!

Der Textsatz war in all den fünfhundert Jahren seit Gutenberg der wichtigste und anspruchvollste Teil der Buchproduktion. Das hatte sich auch durch die Mechanisierung mit Linotype und Monotype geändert – es war eine hohe Kunst, in der es stets darum ging, mit Maschinen Texte zu produzieren, in einer Weise, die dem Wert des Inhaltes mindestens gerecht werden sollte. Die Technologie zu beherrschen – und nicht umgekehrt, sich ihr unterzuodrnen – ist heute so aktuell wie zu Gutenbergs Zeit. TEX übersetzt das wesentliche dieser Technologie in die digitale Medienproduktion.

Nach dem Inhalt sind der gute Satz und das Layout der zweite, notwenidge Schritt zu einem wertvollen Text. Danach folgt die eigentliche Produktion von der Papierherstellung, dem Druck, bis zur Bindung – bzw. die Darstellung auf dem Bildschirm und die Distribution. Alle diese Schritte zahlen auf den Wert eines Mediums ein. In jedem einzelnen lohnt sich Sorgfalt.

“Nie zuvor ist der Forschritt der Geschicte so atemlos gewesen wie seit der Erfindung der bildermachenden Apparate.”
Vilém Flusser: “Schrift”

(die Abbildung nach Knuth a.a.O.)

Weitere Beiträge zum Thema Druck:

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Über das Hinterfragenwagen
und den Luxus von Moral

Es gibt die verschiedensten Eigenschaften, nach denen man Menschen in Kategorien einordnen kann. Es gibt zum Beispiel Menschen, die sich das Beste bis zum Schluss aufbewahren (das Filet beim Essen zum Beispiel) – und andere, die den umgekehrten Weg gehen und sich gleich das Beste vornehmen (das Filet, bevor es kalt wird). Es gibt Morgenmenschen und Abendmenschen. Man kann sie auch einteilen in solche, die eher Hunde mögen, und solche, die eher Katzen mögen (unvereinbar). Oder in Heilserwarter und Unheilserwarter (Mischformen möglich).

Eine dieser möglichen Unterscheidungen habe ich gelernt für zentral zu halten: Es gibt Menschen, die sich, bevor sie etwas tun, fragen: „Nützt mir das?“ Und es gibt Menschen, die sich fragen: „Ist das richtig?“ Nun müssen sich ja Nutzen und Moral nicht notwendig ausschließen – die Gewichtung scheint mir jedoch von feiner Bedeutung zu sein. Es ist eine Art Grundhaltung des Seins, des Wertens und des Handelns auf allen Ebenen. Sie findet sich im Kleinen wie im Großen, im Berufsalltag ebenso wie im Privatleben. Auch wenn nicht immer offen sichtbar ist, führt ein tiefer Graben zwischen beiden. Die Motivation der einen Seite wird der jeweils anderen immer völlig unverständlich bleiben, gerade weil die Grundfrage für jeden so selbstverständlich ist.

Der Sozialdarwinismus, von dem im Metaphysik-Beitrag von Jörg Blumtritt die Rede ist, sagt: Moralisch richtig ist, was dem Eigen- oder Artennutz dient. Im Falle der Natur ist die Sache schnell geklärt: möglichst viele Gene verteilen. Jede Vergewaltigung wäre so moralisch legitimiert, die Natur ist da nicht kleinlich. Lässt sich dieses Prinzip aber auf eine kultivierte Gesellschaft übertragen? Bedeutet Kultur nicht gerade, sich den Luxus von Moral und Werten zu leisten, die außerhalb des reinen Eigennutzes liegen?

Was dient der Sache und was dient mir selbst? Auch hier könnte es doch einen dritten Weg geben. Wäre es möglich, die Pendlerpauschale falsch zu finden, obwohl man selbst davon profitiert? Ein Thilo Sarrazin bekommt ein großes Forum, weil man sich des Echos so schön sicher sein kann. Die Entrüstung ist groß, die Zustimmung auch, die Startauflage des Buches ist schon vor Erscheinen vergriffen. So gesehen eine klare Sache: Der Rummel nützt allen, dem Verlag, dem Buch-Autor sowie allen Medien, die sich auf dieser oder jener Seite an der Debatte beteiligen. Aber ist das auch richtig?

Gelegentlich staune ich, wenn ich durch das Fernsehprogramm schalte, über das, was ich dort zu sehen bekomme. Man fragt sich unwillkürlich, aus welchem Grund es überhaupt gesendet wird. Die einzig mögliche Antwort: Weil es Quote bringt. Einen anderen Grund kann es gar nicht geben. Weil es nützt. Aber reicht das?

Jeder Kindergarten wird ein Haifischbecken, wenn man die Kinder sich selbst überlässt. Das Recht des Stärkeren setzt sich zunächst einmal durch. Auf der anderen Seite werden Kinder zu einer unbeteiligten Schafsherde, wenn man es ihnen abnimmt, die Regeln des sozialen Miteinanders selbst zu entwickeln. Es geht also nicht nur um die Anwendung vorgegebener sozialer Regeln, sondern um die Fähigkeit, diese zu entwickeln. Kinder müssen lernen, einen Punkt zu finden, der außerhalb ihrer vielen verschiedenen Eigennutze steht, von dem aus sie Verhaltenregeln ableiten und untereinander verhandeln können. Natürlich geht es dabei auch um Eigennutzen. Aber es eben auch um einen Punkt, von dem aus diese ins Verhältnis gesetzt werden können.

Zivilisation und Kultur bedeutet doch genau dies: nutzenunabhängige, eigensystemübergreifende Regeln für Richtig und Falsch zu entwickeln. Immer wieder nach einem neuen Punkt zu suchen, von dem aus alles von außen zu betrachten – und zu beurteilen – ist. „Die Frage nach der Bedeutung, nach dem Wesen der zutage geförderten wissenschaftlichen Erkenntnis kann aber nicht im System selbst beantwortet werden,“ sagt Jörg in seinem Beitrag, und es stimmt: Man findet nicht alle Antworten innerhalb des Systems. Ob wir das nun Metaphysik, Moral, Mündigkeit, Religion* oder sonstwie nennen, ist unwichtig. Wichtig ist, einen Punkt außerhalb des eigenen Systems denken zu können, für denkbar zu halten. In den „anderen Raum des Denkens“ treten zu können. Sich selbst, das eigenen Handeln, die eigene Rolle im Ganzen zu hinterfragen wagen.

Was tue ich überhaupt und warum? Das bleibt eine zentrale Frage – für Menschen sowieso, aber auch als wissenschaftliche Disziplin, als Forschungszweig, als Verlag, als Unternehmen. Jeder, der handelt, sollte doch darauf eine Antwort haben.

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“Das ist alles recht schön und gut; / Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, / Nur mit ein bißchen anderen Worten.”

Margarete zu Faust (Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Zeile 3.459)

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Ich bin dann mal verpixelt

Gerade eben habe ich die “Unkenntlichmachung” meines Hauses beantragt. Ich muss zugeben, dass die Frage, ob das Haus auf Streetview zu sehen ist oder nicht, mich nicht besonders leidenschaftlich bewegt. Da das Haus unter Denkmalschutz steht, wurde es schon oft genug fotografiert und taucht in entsprechenden behördlichen Publikationen auf. In Farbe und sogar mit der Rückseite, an der sich eine kleine Bühne für das Spiel mit Öffentlichkeit und Privatheit, vulgo: Balkon, befindet.

Auch die anmaßende Art der digitalen Avantgarde, die für mich immer mehr wie ein fader Abklatsch der Futuristen wirkt – dort kam direkt nach dem Lob der absoluten Geschwindigkeit (“Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen”) die Verherrlichung des Krieges (“die schönen Ideen, für die man stirbt”) – hat mich bislang trotz ihres unsympathischen Bekehrungszwangs nicht vom Hocker gerissen (Die Futuristen verstanden sich wenigstens noch als Elite und nicht als Blaupause für den Durchschnittsbürger.) Im Grunde genommen ist die Zukunft der Netzneutralität eine viel gravierendere Frage, für die leider nicht mehr viel Aufmerksamkeit übrig bleibt.

Was mich aber wirklich verblüfft ist, dass selbst Google nicht so richtig weiß, warum man sein Haus nicht verpixeln lassen sollte. Wenn man mit dem Prozess der “Unkenntlichmachung” beginnt (Behördendeutsch ist längst kein Monopol der Behörden mehr), versucht Google den Pixelkandidaten noch davon zu überzeugen, sein Haus doch noch drinnen zu lassen. Warum?

[D]iese Funktion kann für Sie und andere von vielfachem Nutzen sein: Zum Beispiel, wenn Sie sehen möchten, wo Ihre Familie und Freunde wohnen, egal, wie weit Sie voneinander entfernt sind oder wenn Sie Ihren nächsten Urlaubsort vorab schon einmal erkunden möchten. Unternehmen können für sich werben und Street View in ihre Website integrieren, um ihren Kunden ihr Schaufenster, Büro oder die nächste Verkaufsstelle zu zeigen und gleich eine Wegbeschreibung anzubieten.

Wenn das alles wirklich ein Dammbruch sein soll, dann ein Dammbruch der Hilflosigkeit.

Vielleicht das erste Mal in meinen 23 Onlinejahren spüre ich tatsächlich etwas wie Fremdheit, fühle mich tatsächlich wie ein digitaler Einwanderer. Ich weiß, wo meine Familie und meine Freunde wohnen. Wenn ich mich fest darauf konzentriere, kann ich die Geräusche der Stadtviertel hören, die Struktur des Putzes spüren, blind den Klingelknopf finden und rieche die Büsche und Blumenbeete neben den Hauseingängen. Ich brauche einfach keine ausfallsichere Serverfarm eines US-Unternehmens, um mir das zu sagen. Mein Springbrunnen ist auch keine Verkaufsstelle und mein Balkon kein Schaufenster. Und wenn ich in meiner Hängematte Urlaub machen möchte, kann ich das bequem von meinem Küchenfenster vorab schon einmal erkunden.

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Naturwissenschaft Philosophie Religion

Metaphysik, Spekulation und die “Dritte Kultur”

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Der Wissenschaftler blickt durch das Objektiv – macht das seine Forschung objektiv?

Anlass für diesen Post ist eine ziemlich beharrlich geführte Debatte auf Twitter, aus der ich meine eigenen Punkte etwas erweitern möchte. Diese berühren nur einen Teil dieser, über weite Strecken, wie ich finde, kurzweiligen Diskussion in der ein viel weiterer Bogen gespannt worden war.

Das Grundmotiv des Gesprächs stellten “die zwei Kulturen”, wie der Komplex – Naturwissenschaft gegen Geistes- oder Humanwissenschaften – seit dem berühmten Text von Ch. P. Snow genannt wird. Ich möchte zwei Aspekten anreißen, die ich im Zusammenhang von Slow Media für erwähnenswert finde: die Frage nach dem Wert von Metaphysik für die Wissenschaft. Der zweite: meine Hoffnung, dass in der durch das Web mit Plattformen wie Wikipedia und durch die Blogs mit ihren Kommentaren veränderten Öffentlichkeit für Wissenschaften die “dritte Kultur” möglich wird.

Von den Protagonisten der Twitter-Diskussion waren schnell die entsprechenden Rollen im Spiel von Snows zwei Kulturen eingenommen; ich – trotz meines Werdegangs – auf Seite der Humanities. Am Ende hätte sich alles fast in Konsens aufgelöst, wären nicht ein paar Punkte aufgetaucht, bei denen der tiefe Graben zwischen den zwei Kulturen plötzlich wieder sichtbar wurde: zunächst die Frage, ob der Skeptizismus der naturwissenschaftlichen Methode auf deren Grundlagen selbst anzuwenden sei, und dann, und das kam vollkommen unerwartet für mich, durch ein Zitat, das ich zur Illustration dieser Frage getwittert hatte.

Ehlers: ‘ … die Entscheidung [ob man eine neue Theorie akzeptiert] fällt auf Grund von Argumenten, denen schließlich beide zustimmen: die Vertreter der älteren und die der jüngeren Generation.’
Stichweh: ‘Ob das immer so ist? Ich kenne keinen einzigen Gegner Darwins, der je überzeugt worden wäre.’

Aus Die Wahrheit in der Wissenschaft.
Interview mit Jürgen Ehlers und Rudolf Stichweh. Spekturm 7 2001

Christian Huygens, “der eleganteste Mathematiker seiner Zeit”, eine der herausragensten Gestalten der Aufklärung, hatte im Kontext der Verteidigung Galileos gesagt: “Die Welt ist mein Heimatland und Wissenschaft ist meine Religion”. Dieses Zitat fand ich passend für die Unterhaltung. Danach war der Konsens bis zum Ende nicht wieder herzustellen, es kam ein scharfer Ton in die Rhetorik und – ich habe es so empfunden, da ich ja die Gegenposition vertrat – die “Partei der Naturwissenschaften” verfiel in Figuren der Eigentlichkeit, ja die Bilder wurden schließlich geradezu martialisch. Die Barschheit mit der eine Gemeinmachung, aus dem Zitat abgeleitet, von Wissenschaft mit Religion, bekämpft wurde, überraschte mich, noch mehr, dass ich damit die naturwissenschaftliche Seite beleidigen würde. Umgekehrt sah ich mich als gläubiger Katholik plötzlich mit Kreationisten und anderen esotherischen Spinnern auf eine Stufe gesetzt.

“Was an Kraft gewonnen wird, geht an Weg verloren.” Auch wenn es verlockend ist – die Übertragung physikalischer Bilder auf die Gesellschaft des Menschen, wie sie noch Francis Bacon gefordert hatte, funktioniert so einfach nicht …

Nach meinem Abitur hatte es für mich keinen Zweifel gegeben, dass ich eine naturwissenschaftliche Laufbahn einschlagen würde. Ich fing an, Mathematik und Informatik zu studieren. Wie viele meiner Zeitgenossen hatte mich vor allem die Freude an der Visualisierung von Daten ergriffen: es war die Zeit der “fraktalen Geometrie der Natur” von Mandelbrot und der Erfindung des Grafik-Prozessors. Aufgrund dieser Kenntnisse in elektronischer Datenanalyse bekam ich einen Job in der Forschungsstelle für Humanethologie in der Max-Planck-Gesellschaft in Andechs.

Das besondere an dem Team in diesem Institut bestand in der außergewöhnlichen, überdisziplinären Zusammensetzung: neben den Zoologen (vorwiegend Ornitologen und Primatenforscher) arbeiteten dort Mediziner, Psychologen, Sprachwissenschaftler und sogar Kunsthistoriker. Der Grund für diese ungewöhnliche Zusammensetzung bestand im Forschungsgegenstand: dem menschlichen Verhalten – von der nonverbalen Kommunikation (wo ich gelandet war) zu Sprache und Proxemik (das Verhalten in der Gruppe) bis zum ganzen Repertoire der Kultur, der Kunst, der Architektur und vor allem der Musik – gesucht wurde, was die Menschen eint, universal gültig, egal, welche Kultur der Welt betrachtet wird, und was spezifisch ist, wie Menschen ihr Verhalten an unterschiedliche Umweltbedingungen anpassen. Von der Methodik der Ethologie, der vergleichenden Verhaltensforschung, profitiere ich bis heute – eine Vielzahl von Forschungsprojekten haben Christiane Tramitz und ich seither verwirklicht – auch wenn unsere Trennung vom Max-Planck-Institut damals ziemlich unsanft verlief.

Zu jener Zeit waren einige der bereits zum Proseminar-Stoff abgesunkenen, der Postmoderne entlehnte Argumentationsfiguren sehr en vogue. Hatten der humanwissenschaftliche Mainstream während der zehn Jahre zuvor die biologische Erforschung des Menschen noch alles Teil bürgerlicher Herrschaftsverteidigung massiv angegriffen, so wurde jetzt jeder Reduktionismus, der die klassische naturwissenschaftliche Methode gerade ausmacht, als Konstrukt geschmäht. Die Streitgespräche dieser Zeit waren im Grund recht harmlos und – anders als die Klassenkampf-Rhetorik der früheren Jahre – kaum angetan, die Forschungsarbeit ernsthaft zu stören. Mich – als mitlerweilen diplomierten Statistiker konnte die Postmoderne ohnehin kaum schrecken, hatte ich mir schließlich ein Fach gesucht, das sich mit dem Problem der Erkenntnisgewinnung und -überprüfung aus zufallsbehafteten Daten oder noch besser: aus unvollständigen Modellen beschäftigte.

“Naturwissenschaftler scheinen – dies sei hier einmal unterstellt – nicht allzu oft darüber nachudenken, was eigenlicht das Wesen ihrer Tötigkeit ausmacht, welcher Sinn darin zu sehen ist … kurz, welchen Platz ihre Disziplin in unserer Kultur einnimmt.” Michael Groß: Naturwissenschaftler gegen Wissenschaftstheoretiker: ein Krieg zwischen den Kulturen? (Spekturm 9 1997)

Manche Kollegen traf die Kritik offenbar sehr hart, und zwar, weil sie im Kern auf einen eigentümlichen Aspekt vieler Projekte der Humanbiologie zielte: dass sie nämlich aus den vorgeblich wissenschaftlichen Hypothesen ethische Normen ableiteten. Gerade die Soziobiologie, die das Verhalten des Menschen unter seinen Artgenossen unter biologischen Aspekten untersucht, ist extrem anfällig dafür, ihre Reduktionismen (“Gruppe”, “Sippe”, “Volk”, “Kultur” etc.) als wirkliche Gegenstände zu verabsolutieren. Ich will an dieser Stelle gar nicht auf die Probleme postmoderner Anthropologie und Ethnologie eingehen. Etwas anderes musste ich nämlich am eigenen Leib lernen: diese Normen waren nicht zu kritisieren, wie ich mir sagen lassen musste, da sie ja mit wissenschaftlicher Methode abgeleitet wurden. Damit das etwas klarer wird: es handelte sich um ein Moral-Gerüst, das man im weiteren Sinne als darwinistisch bezeichnen könnte. Darwinismus – das sei hier betont – ist nicht die Evolutionslehre, sondern eine daraus abgeleitete Sozialethik. Diese bewertet das Verhalten moralisch gut oder schlecht, inwieweit es Menschen hilft, einzeln oder als eng verwandte Sippe, ihre Gene an eine möglichst zahlreiche, nächste Generation weiterzugeben; zu Ende gedacht ist hier die “grausame Königin Natur” in ihrem Reich – deutlicher muss ich wohl nicht werden; für mich war damals jedenfalls Schluss mit der Biologie.

Es gibt aus dieser Argumentation keinen Ausweg, wenn man in der positivistischen Logik der Biologie verharrt; das ist es, was man seit dem zweiten Weltkrieg allgemein die “Dialektik der Aufklärung” nennt. Es gibt aber eine Chance, mit aufgeklärtem Denken nicht in die Barbarei zu rutschen, nämlich einen Schritt hinaus zu machen.


Euklids Elemente. Indem man einzelne der scheinbar für unsere Anschauung evidenten Axiome verändert, gelangt man nicht zu Widersprüchen, sondern zu neuen Welten: der nichteuklidischen Geometrie.

Meta bedeutet hinter, jenseits, und Metaphysik ist seit der Antike der andere Raum des Denkens, inden wir zurücktreten können, um auf die Physis, die Natur zu blicken und darüber nachzudenken, was nach der Betrachtung der Natur daraus folgt.

Stichweh: ‘Wenn ich Wissenschaft von außen betratet mit Kunst oder Religion vergleiche, dann unterscheidet sie sich dadurch, dass sie für ihre Aussagen Wahrheit beansprucht. […] Niklas Luhmann hat gesagt, Wahrheiten sind Erschöpfungszustände der Wissenschaft.’
Aus Die Wahrheit in der Wissenschaft. Interview mit Jörgen Ehlers und Rudolf Stichweh. Spekturm 7 2001

Metaphysik, das habe ich gestern wieder erfahren, steht nicht hoch im Kurs. Die Frage nach der Bedeutung, nach dem Wesen der zutage geförderten wissenschaftlichen Erkenntnis kann aber nicht im System selbst beantwortet werden. Ob das Restrisiko der zivilen Nutzung von Atomkraft, das von ihren Befürwortern für alle Menschen eingegangen wird (ob die wollen oder nicht), ob Gentechnik voranzutreiben ist, ob der Klimawandel ein notwendiges Übel unserer Zivilisation oder ein Verbrechen ist – das alles sind keine wissenschaftlichen Fragen. Gerne wurde in der Vergangenheit von Politikern jede Skepsis an der Forschung abgewiegelt. “Diskutieren ohne Scheuklappen” war das Mantra des sogenannten Ethikrates, im Klartext: lasst uns bloß mit eurer Moral in Ruhe!

“Die Beschränkung auf herausgeschnittene, scharf isolierte Gegenstände […], die aus dem Bedürfnis nach Exaktheit laboratoriumsähnliche Bedingungen zu schaffen trachtet – verwehrt nicht bloß temporär, sondern prinzipiell die Behandlung der Totalität der Gessellschaft. Das bring mit sich, dass die Aussagen der empirischen Sozialforschung häufig den Charakter des Unergibigen, Peripheren […] tragen. Unverkennbar ist die Gefahr einer Stoffhuberei […] Durchs Bestreben, sich an hieb- und stichfeste Daten zu halten und jede Frage nach dem Wesen als Metaphysik zu diskreditieren, droht der empirischen Sozialforschung die Beschränkung aufs Unwesentliche im Namen unbezweifelbarer Richtigkeit. Oft genug werden ihr die Gegenstände durch die verfügbaren Methoden vorgeschrieben, … ” twa 9.2 S. 356

Die Spekulation ist das zweite metaphysisches Feld, dass meiner Ansicht nach fest mit den Wissenschaften verbunden ist. Spekulation bedeutet, sich nicht gleich von der normativen Kraft des angeblich Faktischen festnageln zu lassen. Durch Spekulation “schauen wir in einen Spiegel und sehen rätselhafte Umrisse”. Nur wenn es gelingt, sich aus der unmittelbaren Erfahrung, den schon eingesammelten Daten, zu erheben und davon abgehoben nachzudenken, kann es zu Paradigmenwechseln kommen.

“Kein Unterschied soll sein zwisschen dem Totemtier, den Träumen des Geistersehers und der absoluten Idee. Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit.” twa (dda)

Indem wir in den Naturwissenschaften eine Theoriediskussion ablehnen, wenn sie außerhalb der Wissenschaft selbst steht, wird aber Wissenschaft zur Dogmatik. Ich will ja gar nicht so weit gehen, wie Adorno seinerzeit, und der Wissenschaft vorwerfen, sie sei in Wahrheit der Mythos im neuen Gewand. Indem Metaphysik, Spekulation, durch Glauben begründete Ethik mit Esoterik und Götzenglaube verächtlich auf eine Stufe der Irrationalität den Wissenschaften gegenübergesetzt werden, vergibt die Wissenschaft sich die Chance zur Reflektion über sich selbst, zur kritischen Distanz.
***

Allerdings tut sich einiges im Bezug auf die beiden Kulturen. Auf Plattformen wie Wikipedia treffen Vertreter beider Lager häufig zusammen und müssen einen Konsens führen, wenn es nicht zum endlosen Edit-War kommen soll. Die Argumente liegen nachvollziehbar auf der Diskussionsseite dokumentiert. Es gibt eine ansehnliche Zahl bloggender Natur- und Geisteswissenschaftler. In den Kommentaren können die Positionen in einer Weise transparent verhandelt werden, wie es in der Vergangenheit nie möglich war. Meinungen, die man nicht teilt, kann man hier kritisieren, kann beitragen und über Links Querverbindungen herstellen. Diese Partizipation an wissenschaftlicher Publizistik war früher ausschließlich den Peer-Reviews vorbehalten.

Das gute an dieser Öffentlichkeit: unverständliche und arkane Terminologie hat schlechte Chancen, die Diskussion zu überstehen; schlechte Zeiten, sich einzuigeln und sein Süppchen vor sich hin zu kochen. Ein offenes System, das schon allein durch die Art der Veröffentlichung – für jedermann zugänglich – einlädt, mitzumachen. Ich glaube, dass sich vielleicht so die “dritte Kultur” entwickeln wird, wie es Snow 1959 gehofft hatte.


Die Quadratur des Kreises: tritt man einen Schritt heraus, aus dem flachen Ring der Brüche, in den erhabenen Körper der Reellen Zahlen (was für eine Metapher!), so ist der Umfang schnell zum Radius ins Verhältnis gesetzt.

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Philosophie Religion

Kohelet – Zeit und Glück

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Turn! Turn! Turn!
To every thing there is a season, and a time to every purpose under the heaven:
A time to be born, and a time to die; a time to plant, a time to reap that which is planted;
A time to kill, and a time to heal; a time to break down, and a time to build up;
A time to weep, and a time to laugh; a time to mourn, and a time to dance;
A time to cast away stones, and a time to gather stones together;
a time to embrace, and a time to refrain from embracing;
A time to get, and a time to lose; a time to keep, and a time to cast away;
A time to rend, and a time to sew; a time to keep silence, and a time to speak;
A time to love, and a time to hate; a time of war, and a time of peace.

Was ist das Wesen unserer Zeit? Es ist der Augenblick, den wir erleben. In ihm finden wir unsere Erwartungen an die Zukunft genauso wie unsere Erinnerungen an das, was uns schon vergangen ist. So fließt unser Leben Augenblick um Augenblick durch unser Bewußtsein. Alles was wir erleben, hat seinen Augenblick – und unsere Lebensspanne ist naturgegeben Begrenzt: “Das Leben ist schlicht zu kurz, um sich mit schlechten Dingen zu umgeben.” ist ein Grundgedanke dieses Slow-Media-Blogs.

Es gibt ein Buch in der Bibel, das sich grundlegend und praktisch zugleich mit diesem Wesen und der Bedeutung der begrenzten Lebenszeit beschäftigt: Kohelet (hebräisch קֹהֶלֶת‎, Versammlungsleiter, im Griechischen daher Ecclesiastes, in den meisten deutschen Übersetzungen “Prediger”). Kohelet gehört zu den interessantesten Betrachtungen über das Wesen der Zeit – als Gelegenheit, als Begrenzung unserer Handlungsmöglichkeiten und insbesondere über das Paradox von stetigem Fluss, der die Illusion von Fortschreiten erzeugt, von Ursachen und Wirkungen, die aus der Abfolge der Dinge in unserer Vorstellung entsteht. Aus diesen Bedingungen der Zeit – Begrenztheit, stetiger Fluss, scheinbarer Fortschritt – entwickelt Kohelet seine Ethik und steht als eigenständiger philosophischer Text neben den anderen Zeit-Philosophen seiner Zeit – Heraklit und Parmenides. In unserem Zusammenhang steht vor allem die Frage nach einem guten Leben mit der richtigen Zeit

Ein jegliches hat seine Zeit und alles Geschehen unter dem Himmel hat seine Stunde (Pred 3,1). Und das bedeutet, dass auch Freude und die schönen Dinge des Lebens genau ihre Stunden haben, die nicht wieder kommen, wenn sie vergangen sind – besonders schade, weil wir ihrer nie genug bekommen werden (Das Auge sieht sich nimmer satt, und das Ohr hört sich nimmer satt. (Pred 1,8):

Darum lobte ich die Freude, dass der Mensch nichts Besseres hat unter der Sonne denn essen und trinken und fröhlich sein; (Pred 8,15). So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen. Lass deine Kleider immer weiß sein und lass deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit deiner Frau, die du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat; denn das ist dein Teil am Leben und bei deiner Mühe, mit der du dich mühst unter der Sonne. Alles, was dir vor die Hände kommt, es zu tun mit deiner Kraft, das tu; denn bei den Toten, zu denen du fährst, gibt es weder Tun noch Denken, weder Erkenntnis noch Weisheit. (Pred 9, 7-10)

***

.הֲבֵל הֲבָלִים אָמַר קֹהֶלֶת, הֲבֵל הֲבָלִים הַכֹּל הָבֶל
Windhauch, Windhauch, das alles ist Windhauch. (Pred 1,2)

Unsere Anstrengungen ändern vielleicht nichts an der Welt – wohl aber werden wir durch unsere Anstrengungen selbst verändert. Wer Steine wegwälzt, der wird Mühe damit haben; und wer Holz spaltet, der wird davon verletzt werden. (Pred 10,9). Damit wird unser Streben nicht aussichtslos – es verändert lediglich die Bedeutung der Handlung im Vergleich zum Ergebnis. Nach der Erfüllung, dem Endergebnis als Ziel zu streben ist sinnlos; keine Sache, auch kein immaterielles Gut wie wissenschaftliche Erkenntnis oder die Schöpfung eines Kunstwerkes wird uns erlösen, solange wir glauben, “Wenn wir erst dieses oder jedenes erreicht haben, dann haben wir’s geschafft”. Das Leben besteht entgegen dieser bürgerlichen Hoffnung eben nicht in der Erfüllung, sondern im Handeln, in Arbeit und Mühe, Essen und Trinken, im Verlieren und Wiederfinden und so weiter. Nur so lange wir Leben, können wir Er-Leben: Denn wer noch bei den Lebenden weilt, der hat Hoffnung; denn ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe. (Pred 9,4) So bedeutet Glück nicht Erfüllung, ist nicht der Zweck des Lebens, sondern Glücklich-Sein ist ein Mittel zu einem guten Leben; Simcha, שִׂמְחָה‎, Glücklich-Sein ist in diesem Konzept in der jüdischen Philosophie, wie etwa des chassidischen Lehrers Rabbi Nachman von Bratzlaw, Voraussetzung für ein moralisch gutes Leben: “Mitzvah gedolah le’hiyot besimcha tamid” – es ist die große Lehre, stets glücklich zu sein.

Und das ist die Kernaussage von Kohelet: Dass unser Leben zu kurz ist, um nicht die Schönheit darin zu suchen und zu sehen, denn genau in dem Bewusstsein davon unterscheiden wir uns von den Tieren: Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr als das Vieh; (Pred 3,19) und wie der Narr stirbt, also auch der Weise. (Pred 2,16).

Das aber braucht Zeit, Muße und Ruhe:
Sei nicht schnell mit deinem Munde und lass dein Herz nicht eilen. (Pred 5,1)

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Alltag Bücher Literatur

Überflüssiges Lesen – Leben im Überfluss

Ein Gastbeitrag von Claas Triebel

Man sagt es würde weniger gelesen als früher. Das ist falsch. Niemals wurde so viel gelesen wie heute. Niemals war die Alphabetisierung so weit fortgeschritten. Niemals war die Welt so vollgestopft mit Buchstaben wie heute.

Man sagt es würden weniger Bücher gelesen als früher. Das glaube ich nicht. Verzeichnete der Buchhandel nicht sogar in den Krisenzeiten der letzten 18 Monate steigende Umsätze? Ertrinken die Buchmessen nicht geradezu in Neuerscheinungen? Ist es nicht seit langem Koketterie zu sagen: “Hach, ich habe so viel zu tun. Ich möchte endlich mal wieder ein gutes Buch lesen”?

Aber wenigstens die Klassiker würden nicht mehr gelesen, mag man rufen. Nun ja, vielleicht fühlt sich mancher Literaturwissenschaftler auf den gestrickten Schlips getreten, wenn der Klassiker, über den er in den 1980er Jahren habilitiert hat, inzwischen nicht mehr verkauft. Aber – ist das schade? An sich nicht. Und selbst die Klage, dass niemand mehr dicke Schwarten, sondern alle nur quasischnipselartige Texte konsumierten und Literatur zu Twitteratur und Klitteratur zu verkommen drohe , lässt unberücksichtigt, dass sich in den vergangenen 10 Jahren eine ganze Generation von Jugendlichen durch tausende von Seiten Harry Potter gefressen haben. Und es ist nicht nur die Blockbuster-Literatur, die zuweilen 800-Seiten Marke knackt: Roberto Bolano, David Foster Wallace, Peter Sloterdijk, Uwe Tellkamp – sind das nicht lauter Schreiber, die nicht der leichten Muse zugerechnet werden, die dicke Schinken verfasst haben und damit auch noch erfolgreich sind?

What now, my Kulturpessimist?

Bleibt nur noch ein Feld, das mir in den vergangenen Jahren an Bedeutung verloren zu haben scheint: der unwahrscheinliche Luxus der mehrmaligen Lektüre des selben Buches. Womöglich auch die mehrmalige Lektüre eines belletristischen Werkes. Nicht, um es beim dritten Lesen endlich zu verstehen, nicht um sich auf ein Wiedererkennen zu freuen, wie es die TV-Serien-Junkies zelebrieren, nein – das mehrmalige Lesen, um bei jedem Lesen das selbe Buch als ein anderes kennenzulernen. Das mehrmalige Lesen von Büchern widerspricht so ganz der bulimischen Anhäufung von Information, wie sie an den öffentlichen Hochschulen seit den Bologna-Reformen als Bildungsideal umgesetzt wird. Das mehrmalige Lesen ist nicht an einen äußeren Zweck gebunden. Das mehrfache Lesen desselben Buches reiht nicht Buchrücken an Buchrücken, sondernzerfleddert dieselben.

Das Lebensbuch hat in den vergangenen Jahren ausgedient. An die Stelle der vertieften Erfahrung des Leseerlebnisses ist der Kanon getreten, ob dieser nun von Marcel Reich-Ranicki oder einer der Tages- oder Wochenzeitungen des Landes definiert wird. Nicht ein Buch soll man auf die einsame Insel mitnehmen, sondern einen E-Reader mit hunderten von Büchern. Nicht nutzlos soll man lesen, sondern kanonisierte Klassiker und zwar in Massen und am besten noch solche mit massenhaft vielen Seiten. Pessimist ist, wer denKanon fordert. Denn der Kanon ist immer eine Klage darüber, was leider nicht gelesen wird und doch unbedingt gelesen werden müsste. DemKanon wohnt eine per se defizitorientierte Haltung inne: “Sieh, was Du alles lesen solltest! Sieh her, wie wenig Leseleistung Du erbracht hast. All diese Werke fehlen Dir.”

Lebenszugewandter Optimist ist, wer die Beschränkung empfiehlt. Wer der Verlangsamung frönt. Wer das Lesen als Luxus begreift. Wer dasLesen als Leben erlebt.

Leseempfehlungen auszusprechen ist eine zweischneidige Sache: man gerät leicht in den Ruch sich in die Reihe der imperativen Kanoniker zu gesellen, die da vorzugeben versuchen, aus welchen Zutaten die Lesediät zusammengesetzt sein muss und welche Seitenzahlenkontingente dabei zu berücksichtigen sind.

Guten Gewissens kann man jedoch folgendes empfehlen: nimm Dir mal wieder ein Buch zur Hand, das Du lange nicht gelesen hast und lies es erneut. Und wenn Du Lust hast, dann lies es anschließend gleich noch einmal von vorne. Und falls Dir danach kein besseres Buch zwischen die Finger kommt: dann ließ es doch einfach noch einmal.

Denn: Das ist Langsamkeit. Das ist Luxus. Das ist das Leben.

Pessimismus scheint mir angesichts dieser Möglichkeiten, die im Bücherregal eines jeden schlummern, keinesfalls angemessen zu sein.

P.S.: Welche Bücher ich schon oft und jede Mal wieder mit Gewinn gelesen habe? “Der Maler” von dem australischen Schriftsteller Patrick White und “Weltlicht” von dem isländischen Schriftsteller Halldór Laxness.

Claas Triebel ist Autor und Psychologe. Am 15. Februar ist sein neues Buch “Mobil, flexibel, immer erreichbar – Wenn Freiheit zum Albtraum wird” im Verlag Artemis & Winkler erschienen.

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Bücher Kunst

Kunstbücher im Digitaldruck

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In der Debatte um den Medienwandel und die zukünftige Bedeutung des Internet konnte man in letzter Zeit den Eindruck gewinnen, das Zeitalter des Drucks sei nach 500 Jahren an seinem Ende angekommen. Tatsächlich befinden sich viele Branchen, die von gedruckten Medien leben, seit Beginn des digitalen Zeitalters auf dem Rückzug: Zeitungen, Zeitschriften, Tiefdruck und sogar der Offsetdruck, wie die finanzielle Schieflage in die der Weltmarktführer Heidelberger Druckmaschinen 2009 geriet, eindrucksvoll zeigt.

In den klassische Verfahren ist die Erstellung der Druckformen der größte Aufwand beim Druck – gesetzte Buchseiten, Kupferstiche für die Abbildungen oder heute die Herstellung der Druckwalzen im Offsetdruck. Die Folge: je größer die Auflage, desto günstiger wird der Druckpreis pro Stück. Jeder, der schon einmal etwas hat auf klassische Weise drucken lassen, kennt sinngemäß die Aussage der Druckerei: “ob sie 1000 oder 2000 Stück drucken kostet dasselbe”.

Die Folge: auch hochwertige Bücher, die nur einen kleinen Kreis von Lesern ansprechen werden in Auflagen zu tausenden gedruckt obwohl nur wenige hundert für den vorgesehenen Preis verkauft werden können. Die Restauflage eines Kunstkatalogs, für den seine Käufer bereit sind, 98 Euro zu zahlen, wandert dann für 14,95 ins moderne Antiquariat. Jeder, der einmal ein teures Buch gekauft und wenig später – druckfrisch und orginalverpackt – auf dem Wühltisch bei Weltbild oder Zweitausendeins verramscht findet, wird in Zukunft zweimal überlegen, ob es sich nicht lohnt, etwas zu warten. Aus Marketing-Sicht eine Katastrophe! Und darüber hinaus ist es auch aus ökologischer Sicht bedenklich, ständig Restauflagen zu produzieren, mit giftigen Druckertinten, hohem Energieaufwand und der Menge Papier, die dabei verschwendet werden.

Digitale Druckverfahren wie Laser- oder Tintenstrahldruck bringen Text und Bilder ohne Druckformen aufs Papier, direkt aus der digitalen Datei – einem Pdf, einem Word-Dokument etc.

In den letzten dreißig Jahren hatte sich zunächst der Publikationsprozess an die digitalen Möglichkeiten angepasst. “Desktop Publishing” war das Schlagwort in den achziger Jahren, Database Publishing das der Neunziger und in den letzten zehn Jahren brachte das Internet das Contentmanagement bis hin zum sogenannten “Real Time Publishing”, der Veröffentlichung in “Echtzeit”, unmittelbar und sofort vom Laptop aus auf die Website. Stück für Stück hat sich dadurch das Publizieren von Papier und Druck entfernt.

Digitale Drucktechnik konnte es lange nicht mit dem Offsetdruck aufnehmen – weder an Geschwindigkeit noch an Druckqualität. Doch in der allerletzten Zeit hat sich dies geändert.
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In den letzten Wochen war ich in ein großes Ausstellungsprojekt involviert: Hundert Meisterwerke für Haiti – eine Benefizveranstaltung, die mit Unterstützung der Rotarier in München von unserer Galerie Royal ausgerichtet wurde.

Ein so kurzfristiges Projekt profitiert besonders von den Möglichkeiten des Digitaldrucks. Die Vorbereitungszeit dieser Hilfsaktion ist extrem knapp – den Umständen einer plötzlichen Katastrophe wie dem Erdbeben, dessen Folgen gemildert werden sollen, entsprechend.

Zunächst mussten vierzig namhafte Künstler gefunden werden, die bereit waren, die hundert Kunstwerke beizusteuern. Die Kunstwerke wurden Fotografiert, die Abbildungen bearbeitet und alle in dieselbe Auflösung gebracht. Die korrekte Beschreibung zu jedem Kunstwerk und die Biografie jedes Künstlers musste recherchiert, ein Preis in Verhandlung mit den Künstlern festgelegt und diese Informationen in standardisierter Form in einen begleitenden Text zu jedem Bild verfasst werden. Grafik und Layout wurden gleichzeitig von der Grafikexpertin Gisela Knobel entwickelt, in enger Abstimmung mit dem, auf digitale Produktion spezialisierten Druckdienstleister MSDD, der den Druck- und Postproduktionprozess übernimmt.

Digitale Druckmaschinen wie die hp Indigo, auf der auch der umfangreiche Katalog zur Ausstellung gedruckt wurde, produzieren genauso schnell, wie klassische Druckmaschinen. Unterschiedlichste hochwertige Papiersorten kommen ebenso zum Einsatz, wie Sonderfarben, die für eine realistische und brilliante Reproduktion sorgen.

Die Produktion dieses Kataloges – Erstellung von Bildern, Text, Layout und Druckvorstufe, schließlich Druck, Bindung und Fertigstellung durfte nicht länger als zehn Tage dauern, sonst wäre zur Ausstellung keine gedruckte Publikation vorgelegen. Ein solcher Zeitrahmen wäre im klassischen Druck schlicht unmöglich.

Dabei nutzen wir für diesen Katalog nur einen kleinen Teil der zusätzlichen Möglichkeiten, die Digitaldruck im Vergleich zum klassischen Offsetdruck bietet. Digital gedruckte Bücher können praktisch ohne Zusatzkosten individualisiert hergestellt werden, d. h. jedes Buch genau mit den Inhalten, die der Käufer möchte. Für die Kataloge großer Sammlungen oder Museen könnten aus den bestehenden Inhalten eine Vielzahl von Spezialkatalogen angeboten werden: Didaktische Arbeitshefte für den Unterricht, die z. B. nur eine bestimmte Epoche umfassen, Kataloge, die genau die aktuelle Hängung berücksichtigen, d. h. die Kunstwerke genau in der Reihenfolge zeigen, in der die Besucher der Ausstellung sie in den Räumen vorfinden – der Kreativität sin d hier keine Grenzen gesetzt. Und die Kataloge könnten immer auch die neusten Anschaffungen der Sammlung berücksichtigen – sie würden nie veralten.

Bücher sind praktisch, sie brauchen keinen Strom, sind ziemlich Robust, sie stürzen nie ab und sind bei guter Pflege auch nach Jahrhunderten noch gut lesbar. Die Materialität verleiht den Büchern ihre angenehme, haptische Qualität – sie liegen gut in der Hand. Gedruckte Bilder besitzen eine Auflösung und Farbwiedergabe, die Bildschirme heute und vermutlich noch lange in die Zukunft nicht erreichen können. Und doch schienen die Bücher durch die Geschwindigkeit und leichte Verfügbarkeit des digitalen Publishing, vor allem im Internet, plötzlich veraltet, langsam und träge.

Digitaldruck wurde bisher vor allem für Akzidenzdrucksachen eingesetzt – personalisierte Webemailings, Prospekte, Visitenkarten und so weiter. Heute kann digitale Produktion den Buchdruck revolutionieren – das Buch von den Fesseln seiner Produktion befreien und ihm Flügel verleihen, wie Amor der Schildkröte auf unserem Emblem!

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Philosophie Slow theory Wirtschaft

Das postdigitale Zeitalter

The digital revolution is over.
Nicolas Negroponte

Slow Media, also der Fokus auf bewussten, nachhaltigen Mediengebrauch, ist nur eine Strömung inmitten einer sehr viel größeren Entwicklung. Man könnte es ungefähr so formulieren: Wir leben längst in einem postdigitalen Zeitalter. Aber was genau bedeutet postdigital? Der Begriff ist wie die meisten Post-Begriffe äußerst anfällig für Missverständnisse, ja scheint sie sogar herauszufordern. Postdigital heißt gerade nicht, dass digitale Technologien und digitale Medien heute keine Rolle mehr spielen. Genau das Gegenteil ist der Fall: Die tiefe und nachhaltige Durchsetzung der Digitalisierung ist eine notwendige Bedingung für den postdigitalen Zustand.

Darin unterscheidet sich “postdigital” nicht von ähnlich konstruierten Begriffen wie “postmateriell” oder “postkolonial”. Wer von Postmaterialismus oder postmaterialistischen Milieus spricht, meint ebenfalls nicht, dass sich hier bestimmte Bevölkerungsgruppen von ihren materiellen Lebensgrundlagen – ihrem Stoffwechsel mit der Natur – getrennt hätten und nun engelsgleich über den Dingen schwebten. Stattdessen geht es um Personen, deren materiellen Grundlagen nicht mehr im Mittelpunkt ihres Lebens stehen. Nicht die Trennung von den Dingen ist entscheidend, sondern vielmehr eine Art gesunde Langeweile oder Indifferenz ihnen gegenüber. Postmaterialismus heißt, sich nicht mehr von den Dingen gefangen nehmen zu lassen, sondern sie mit einer gleichgültigen Haltung zu gebrauchen.

Ganz ähnlich ist der Begriff “Postkolonialismus” gestrickt, der natürlich die Ära des Kolonialismus ebenso wie ihre oft gewaltsame Aufhebung voraussetzt. Auch hier ist nicht gemeint, dass sich die postkolonialen Subjekte nun völlig unabhängig von den jahrzehntelang etablierten kolonialen Verwaltungs- und Herrschaftsstrukturen lebten. Aber die ehemaligen kolonialen Strukturen und Verflechtungen sind jetzt nicht mehr der Feind, der auf jeden Fall bekämpft werden muss (“Antikolonialismus”), sondern ein Fundus an Techniken und Ideen, die instrumentalisiert werden können.

Wie lässt sich dieser Konzept auf das Digitale übertragen? Postdigitalismus beschreibt den Zustand der Gesellschaft nach der erfolgreichen Digitalisierung wesentlicher Lebensbereiche von der Wirtschaft über die Bildung und Kultur bis zur Politik. Die zentralen Informations- und Kommunikationsinfrastrukturen sind mittlerweile digitalisiert. Und dies nicht nur in den westlichen Industriegesellschaften, sondern zunehmend auch in sogenannten “Entwicklungsländern”, die häufig ohne den Zwischenschritt von Festnetzinfrastrukturen direkt in das mobile Zeitalter einsteigen. Postdigitalismus bezeichnet die wahrgenommene Selbstverständlichkeit dieser Technologien. Die sogenannten “digitalen Eingeborenen”, also die nach 1980 geborenen Alterskohorten, die keine Welt ohne PC, Mobiltelefon und Internet kennen, sind die erste postdigitale Generation.

Dass das Internet und darauf aufbauende Infrastrukturen höchst voraussetzungsvolle Errungenschaften sind, die darüber hinaus viel fragiler sind als es zunächst den Anschein hat – man denke nur an den Rootserver-Ausfall der Denic, durch den mit einem Schlag sämtliche .de-Domains nicht mehr direkt erreichbar waren -, ist der postdigitalen Generation nicht mehr bewusst. Sie sind gegen die neodigitalistischen Heilserwartungen des Internet als ewige Seeligkeit ebenso immun wie gegen den antidigitalistischen Gedanken, mit dem HTTP-Protokoll wäre der zivilisatorische Untergang nun eine beschlossene Sache. Sie sind, ebenso wie oben für den Postmaterialismus beschriebeen, leidenschaftslos. Postdigitalismus heißt, digitale Technologien und Medien nur als Werkzeuge zu benutzen, ja sie bei Bedarf sogar zu versklaven wie früher das Feuer und die Wasserkraft. Auch hier gilt also: Das Internet ist ein guter Diener, aber ein schlechter Herr.

Während die Kunsttheorie in den USA schon seit 10 Jahren über den Begriff diskutiert, scheint Postdigitalismus in Deutschland noch nicht nennenswert vorzukommen. Stephan Baumann hat sich kürzlich in einem Interview kurz darauf bezogen – bezeichnenderweise in Verbindung mit Slow Media. In den USA wird zum Beispiel “Glitch“, eine in den 1990ern entstandene Richtung der elektronischen Musik aber auch Medienkunst, als Paradebeispiel für Postdigitalismus betrachtet. Glitch ist durch und durch digital von der Klangerzeugung bis zur Distribution. Gleichzeitig wird das Digitale in der Musik, das mittlerweile in nahezu jeder modernen Musikproduktion eine Rolle spielt, hier radikal zu Ende gedacht. Das charakteristische Erkennungszeichen von Glitch ist das Provozieren und Betonen von digitalen Fehlern. Während sonst Fehlstellen, an denen zum Beispiel eine 1 steht, wo eine 0 stehen sollte, sorgfältig herausgefiltert werden, verwenden Künstler wie Kim Cascone genau solche Fehler, um das digitale Medium selbst sowie die digitalisierten Produktionsverhältnisse sichtbar zu machen.

Meine Hoffnung liegt darin, dass sich der Umgang mit digitalen Technologien im postdigitalen Zeitalter gleichermaßen entspannt, instrumentell und kritisch sein wird. Entspannt, weil wir allmählich merken, dass es nicht entscheidend ist, welche Plattform oder welches Medium wir verwenden, sondern die Frage ob die vermittelten Inhalte uns inspirieren. Instrumentell, weil wir lernen, dass Algorithmen und digitale Infrastrukturen keine Menschenrechte besitzen. Kritisch, und hier sehe ich die postdigitale Kunst als überlebensnotwendig an, weil wir immer stärker ein Gefühl für die Brüche und Machtstrukturen entwickeln, die sich hinter scheinbar neutralen und unausweichlichen Strukturen verbergen.