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Das Heer der technischen Sklaven

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“καρπὸν δ᾽ ἔφερε ζείδωρος ἄρουρα
αὐτομάτη πολλόν τε καὶ ἄφθονον”
Hesiod, Έργα και ημέραι

“Maschinen sind dazu da, uns zu dienen. Aus der Kultur der Hacker können die Medienmacher lernen: sich nicht den Maschinen unterordnen, sich genausowenig verweigern, sondern die Maschinen ausnutzen, ja regelrecht ausbeuten, versklaven!” Benedikt Köhler

“Wer von Natur aus nicht sein, sondern eines anderen, aber dennoch ein Mensch ist, der ist ein Sklave”

“Denn freilich, wenn jedes Werkzeug auf erhaltene Weisung , oder gar die Befehle im voraus erratend, seine Verrichtung wahrnehmen könnte, wie die Dreifüße des Hephaistos es getan haben sollen, von denen der Dichter sagt, dass sie von selbst zur Versammlung der Gütter erschienen, wenn so auch das Weberschiff von selber webte und der Zitherschlägel von selber spielte, dann brauchten allerdings die Meister keine Gesellen und die Herren keine Knechte.”

Aristoteles, Politik

Warum haben die Götter keine Sklaven? Weil sie ihre Arbeiten Kraft ihrer Macht von selbst, automatisch, ausführen zu lassen. Aus dieser Überlegung leitet Aristoteles in seiner Politik einen dialektischen Weg der Menschheitsgeschichte ab – vom Tier zum Gott in drei Schritten – der gerade heute, im Zeitalter der Automatisierung faszinierend aktuell scheint: zunächst lernt der Mensch aufrecht zu gehen und dadurch seine Hände zu Gebrauchen, zu Sprechen, zu Denken. Er wird frei von den elementaren Zwängen der Natur. Als zweites erkennen die Menschen, dass ihr mächtigstes Werkzeug sie selbst sind, oder besser gesagt, die Mitmenschen, derer man sich bedienen kann: “A man provided with paper, pencil and rubber, and subject to strict discipline, is in effect a universal machine.” (Alan Turing). Damit beginnt das Zeitalter der Sklaverei.

Doch schon Aristoteles sieht die Möglichkeit, dass die Menschheit sich wieder befreien kann, dass es einen Ausweg gibt, immer einen Teil der Menschen in Unwürdigkeit als bloße Mittel zu halten: die Fähigkeit, durch immer bessere Werkzeuge irgendwann sich den Göttern anzunähern, durch  die Automatoi, die technischen Sklaven.

Technische Sklaven.
“Gehirn von Stahl – keine Überanstrengung, keine Fehler!”

In die Moderne wird der Begriff vom technischen Sklaven vom Entdecker der Makromoleküle und späteren Nobelpreisträger Hermann Staudinger eingeführt. Staudinger hatte bereits 1915 in einem Gutachten das Kriegsministerium des Deutschen Reiches gewarnt, dass die Übermacht der Allierten genau in ihrer Überlegenheit an technischen Sklaven im Gegensatz zur Überlegenheit an menschlichen Soldaten der Mittelsmächte bestand. Leider wurde ihm seinerzeit keinerlei Glaube geschenkt – ebensowenig wie zehn Jahre später, als Staudinger mit diesem einfachen Argument die sogenannte “Dolchstoßlegende” lügen strafte.

Ein letztes Mal meldet sich Hermann Staudinger 1946 hier zu Wort, mit einer visionären Vorhersage über die Folgen der Atomenergie und seiner Warnung vor einem “Aufstand der technischen Sklaven”, indem die Befriedigung des Energiehungers dieser Sklaven schließlich zur totalen Abhängigkeit der Menschen führt.

Auch wenn wir noch weit entfernt davon sind, dass uns alle Mühe und Arbeit von den Automaten abgenommen wird, so ist der aristotelische Gedanke von den technischen Sklaven ein gutes Bild, welche Rolle Maschinen in unserem Leben spielen sollten.

“Experience has also show you the difference of the results between mechanism which is neat, clean, well arranged, and always in a high state of repair; and that which is allowed to be dirty, in disorder, and without the means of preventing unnecessary friction, and which therefore becomes, and works, much out of repair. […] If, then, due care as to the state of your inanimate machines can produce such beneficial results, what may not expected if you devote equal attention to your vital machines, which are far more wonderfully constructed?” (Robert Owen, A New View of Society)

Während der Frühsozialist Robert Owen noch argumentiert, man solle den menschlichen Arbeitern doch eine ähnliche Pflege zukommen lassen, wie den Maschinen, damit jene ebenso wie diese nicht so schnell verschleißen, dreht sich diese Humanisierung der Maschinen in der Sozialethik des 20. Jahrhunderts endlich wieder um und setzt den Menschen als Zweck und nicht bloßes Mittel ein, warum es Maschinen gibt:

“Gleichzeitig wächst auch das Bewußtsein der erhabenen Würde, die der menschlichen Person zukommt, da sie die ganze Dingwelt überragt” (Gaudium et Spes)

Prometheus wurde an den Kaukasus genagelt, weil er den Menschen die Fähigkeit gab, sich technisch über die Natur zu erheben – und uns haben die olympischen Götter Pandoras Büchse geschenkt – damit auch wir unsere Automatoi bekommen! Die Maschinen sind unsere technischen Sklaven. Sie müssen uns dienen. Wo sie sich noch widersetzen, so müssen wir sie mit List uns unterwerfen lernen!

Das ist die oben zitierte Forderung von Benedikt: nutzt die Maschinen, denn dafür sind sie da! Und das bedeutet: Auch Kreative, Geistesarbeiter, Redakteure, Journalisten sollten denken, wie Hacker. Hacker ist für mich ein wertfreier bis positiver Begriff. Hacker nutzen Technik so vollständig wie möglich aus. Genau wie die berühmten investigativen Journalisten lassen sich sich nicht von irgendwelchen, willkürlichen Regeln aufhalten, die angeblich vorschreiben, wie wir mit Information umzugehen hätten.

In den Algorithmen von Google, den Tiefen der Wikipedia und dem Fluss von Zeichen auf Twitter steckt viel mehr, als die “vorschriftsmäßige” Nutzung dieser Werkzeuge offenbaren würde. Die Antwort der Publizisten und Journalisten auf Nachrichten-Aggregatoren wie Google News sollte ein Ruf sein: Hurrah! Endlich befreit uns jemand davon, langweilige Agenturmeldungen umzuschreiben, endlich nimmt uns eine Maschine ab, was in Wahrheit noch nie wertvolle Arbeit gewesen ist. Statt wie die Weber die neuen Webstühle zu sabotieren, sollten wir sehen, dass wir das beste aus der neuen Technik herausholen – die Technik zu unserem Sklaven machen, denn Pandoras Box ist geöffnet und die daraus entwichenen Automatoi lassen sich nicht wieder einfangen.


Technische Sklaven und Büchse der Pandora.

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Philosophie Slow theory Sprache

Eine kleine Ikonographie der Slow Media

[Klick auf die Motive führt zur Quelle]

Seit kurzem gibt es eine weitere russische Übersetzung unseres Manifestes. Sie ist mit einem – wie ich finde – großartigen Bild illustriert, ein Foto (wohl eher: eine Fotomontage), die echt und natürlich wirkt und irritierend zugleich. Eine fliegende Schildkröte. Sie fliegt wirklich: Weil sie tatsächlich echte Flugbewegungen macht. Nur dass Schildkröten diese echten Flossen/Flügelbewegungen üblicherweise nicht in der Luft machen, sondern unter Wasser, in den Tiefen des Meeres. Alle kennen wir die Bilder von durchs Blau schwebenden Schildkröten. Daher die Vertrautheit des Motives, die durch den veränderten Kontext befremdet. Diese Befremdung ist bei genauerer Betrachtung eine doppelte: Denn schon die echten Flossenbewegungen unter Wasser irritieren, weil sie den Betrachter so frappierend ans Fliegen erinnern. Es handelt sich also bei besagtem Bild im Grunde um die Rückprojektion einer Bewegung von den Meerestiefen in luftige Höhen – eine geniale Motivmechanik.

Dieses Bild ist Grund und Anlass genug, ein wenig Rückschau zu halten auf die inzwischen stattliche Tradition der Slow Media-Illustration. Denn: Das redaktionelle Konzept der rezensierenden Medien verlangt verschiedentlich nach Abbildungen.  Aber wie bitte bildet man ein Thema wie Slow Media ab?

Einige Tage zuvor hatte bereits eine russische Publikation folgendes Motiv aus dem Hut gezaubert:

Interessant daran ist – neben der Tatsache, dass es sich hierbei auch um eine (zumindest halbe) Schildkröte handelt – das Motiv der Wandlung. Im Moment des Sprungs verwandelt sich die Schildkröte in ein Kaninchen. Ob damit wohl die Domestizierung der Medien gefordert wird? Oder zumindest die Zähmung einzelner Medien? Und: Ist es eine Verbesserung von einer Schildkröte zu einem Kaninchen zu werden?

Dem Schildkrötenmotiv liegt vermutlich das Emblem zugrunde, das wir ursprünglich als Motiv für unser Slow Media Camp in Böblingen gewählt haben. Es zeigt eine geflügelte Schildkröte. Die Schildkröte hat in der Slow Media Rezeptionsgeschichte zunehmend die ursprüngliche Bild-Assoziation “Schnecke” abgelöst.

So illustrierte Bruder Richard Maria Kuchenbuch seinen Beitrag “Wird das Internet benediktinisch?” mit einer benediktischen Schnecke:

Uni.de wartete mit der Variante “Schnecke auf Maus” auf (honni soit qui mal y pense):

Und Heute.de entschied sich für die Version “Schnecke auf Tastatur”:

Die Slow Media Bilderstrecke bei 1LIVE hingegen wurde angeführt von einer gescribbelten Prozessionsschnecke:

:

Während Nilesh Zacharias in seinem Blog die Schnecke als Verkehrszeichen plaziert:

Womit wir bei einer weiteren Motivgruppe wären, der Verkehrgeschwindigkeit. Sie unterteilt sich in die motivgeschichtlich verwandten Unterkategorien “Bodenbeschriftung”, “Verkehrszeichen” und “Sonstige”.

Hierzu einige Beispiele:

In dem Beitrag “Slow Media als einen Beitrag zur höheren Kundenorientierung” finden wir diese Abbildung:

Auf gleicher Linie liegt dieses Beispiel aus einem italienischen Blog:

Der Unterkategorie Verkehszeichen gehört das Bild an, das unser Interview bei den Netzpiloten zierte:

Ähnlich operiert der Dissentertainment-Blog, zudem garniert mit einem Don Quichote-Zitat:

Sogar Slow Media Skepsis lässt sich motivlich mit Verkehrsmitteln ausdrücken:

Zur Verkehrsunterkategorie “Sonstige” gehört möglicherweise auch die Slow Media Illustration des WDR5 Funkhaus Wallrafplatz: Handelt es sich hier um die Visualiserung einer Datenautobahn?

Andere Illustrationen stehen für sich und sind keiner Gruppe zuzuordnen. So zum Beispiel das Near Future Laboratory, das mit einer Konstruktionszeichnung des hauseigenen “Slow Messengers” illustriert:

Einen ganz anderen und ganz und gar untechnischen Ansatz wählt Joe Grobelny in seinem Beitrag „Slowness, Silence, Plants, and why I took Facebook off of my Iphone“:

Und manches sieht auch völlig ohne Illustration einfach nur cool aus:

Das wäre dann, nun ja, slow media beyond iconography…

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Nachtrag:

Da habe ich heute Nachmittag doch glatt bei der Rezeptionsgeschichte die Skandinavier vergessen. Dabei haben sie eine so schöne eigene Bildsprache – weniger Verkehrwesen, weniger Tier, dafür mehr Mensch und Körper… Bitte sehr:

Ein Mensch, ein Buch – das ist für diesen norwegischen Beitrag Slow Media (“Kvalitet” und “konsentrasjon”):

Und ein körpersprachlich sehr schönes Bild für die Ich-Erschöpfung, die Slow Media notwendig macht, findet die Ankündigung zu unserem Interview mit dem norwegischen Rundfunk:

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Alltag Fernsehen Wirtschaft Zeitungen

Ein Lob auf das Sommerloch!

„Hier saß ich, wartend, – doch auf Nichts,/ Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts/ Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,/ Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.“
So zitiert der Rheinische Merkur Nietzsches Fröhliche Wissenschaft für ihr Lob des Sommerlochs.

Saure Gurken Zeit
Auch hier lohnt sich – wie so oft – der Blick in die Wikipedia: “Die ungarische Sprache kennt diesen Begriff ebenfalls als uborkaszezon (Gurkensaison).”
 
Nicht zu vergessen sind auch die Hundstage, benannt nach dem Stern Sirius im Sternbild Großer Hund, das man genau in den heißesten Tagen im August am Himmel in unseren Breiten beobachten kann. Und in Russland heißen dann auch die Sommerferien каникулы.

Sommerloch liegt im Kreis Bad Kreuznach. Im Rheinland gibt es einige “Löcher” – oft düstere Gedanken weckend: Sörgenloch etwa.

Wie uns Wikipedia belehrt, bezeichnet das Loch im Rheinland eine feuchte Mulde – anders als in Süddeutschland, wo Flurnamen mit Loch meist auf eine Lohe, einen Wald hinweisen, also auf eine Gründung zur Rodungszeit im Hochmittelalter.

Seinem Namen als Medienphänomen alle Ehre machend, sieht man das Ortsschild von Sommerloch oft in bemüht lustig gemeinten Metonymien, wenn Journalisten in ungewohnt selbstkritischer Weise berichten wollen, dass es im Augenblick nichts zu berichten gibt.

Das Sommerloch entsteht, weil die Parlamente, die meisten Wirtschaftsfunktionäre und auch die Bundesliga Urlaub nehmen. Und weil man in der Presse dann auch nichts mehr zu sagen hatte, entwickelte sich die Tradition, absurde Boulevard-Themen in aufgeregter Weise wichtig zu schreiben.

“Solange die Minister [in ihrer Sommerlektüre] lesen, können sie nicht in Mikrofone reden.” schreibt der Rheinische Merkur in seinem schönen Lob des Sommerlochs und denkt weiter, wie erholsam es ist, wenn wenigstens in den vier bis sechs Wochen der Feragosto den Mandats- und Leistungsträgern unserer Gesellschaft der Satz erlaubt wird: „Ich weiß es nicht, ich muss über dieses komplizierte Problem erst noch einmal nachdenken!“

“Liegen lernen”. Ein wehmütiger Wunsch nach Verlangsamung, auch nach einem Publikum, dass akzeptiert, wenn Menschen nichts zu sagen haben:

“Wahrscheinlich bleibt die Sehnsucht nach Nachdenklichkeit ungestillt, wie in den Jahren zuvor. Die Sommerinterviews samt Erwiderungsritual von „Morgenmagazin“ bis „Nachtjournal“ sind sind so sicher wie Elsas Dahinscheiden im Kielwasser des Schwans. Doch Reisende geben nicht auf.
Rheinischen Merkur, zu erkennen, wie stark in Wahrheit das Publikum selbst.”

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Architektur Miscellen Slow theory Wirtschaft

Routen

So wenig als möglich sitzen;
keinem Gedanken Glauben schenken,
der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung –
in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.
(Friedrich Nietzsche)

Gestern passten endlich einmal wieder Terminkalender und Wetter zusammen, so dass ich mit dem Fahrrad die insgesamt 34km zur Arbeit und wieder zurück fahren konnte. Ein bisschen ist das Fahrradfahren durch die Stadt wie das Flanieren – wenn man sich die Zeit dafür nimmt und auch nach rechts und links schaut. Ist Walter Benjamin ein Radler gewesen? Ich denke nicht. Aber zu Benjamins Zeit waren die Autos wohl eher das, was die Räder heute sind.

Besonders angenehm ist an einem solchen Sommertag mit Temperaturen über 30 Grad natürlich die Fahrt aus der Stadt hinaus. Man spürt mit jedem Kilometer, wie das Städtische weicht. Am Stiglmaierplatz und in der Papenheimstraße spürt man noch ganz deutlich die Stadt (obwohl es gar nicht so lange her ist, dass dort, wo heute der Augustinerbiergarten ist, vor den Toren der Stadt die Verbrecher hingerichtet wurden) und radelt an ehemals staatstragend-repräsentativen Bauwerken wie die massige Oberpostdirektion mit ihrem expressionistischen Gebäudeschmuck vorbei – heute hat sich irgend ein halbgebildeter Gentrifizierer in der Hoffnung auf zahlungsfreudige Werbeagenturmieter die sinnfreie Bezeichnung “Art-Deco-Palais” dafür ausgedacht.

Viel zu oft radelt man in der Stadt in einem Pulk. Hier ist die Bezeichnung “Individualverkehr” für das Fahrrad eigentlich gar nicht mehr zutreffend. Die Fahrradkolonne ist in Wirklichkeit schon längst ein öffentliches Personennahverkehrsmittel. Je weiter man sich aber vom Zentrum entfernt, desto mehr Platz hat man zum Fahren. Immer häufiger trifft man auf andere Radfahrer, die nicht in die selbe Richtung fahren, sondern einem entgegenkommen oder den eigenen Weg kreuzen. In der Stadt scheint alles in eine Richtung zu fahren: in die Vorstadt.

Je öfter man denselben Weg zu und von der Arbeit nimmt, desto mehr wird der Weg zur Route, deren Verlauf sich fast schon körperlich in einen hineinschreibt. Meine Route sagt mir genau, an welcher Stelle ich eine Straße überquere und wo ich an einer Ampel stehenbleibe. Sogar die Variationen sind von der Route festgelegt. An mehreren Stellen habe ich die Möglichkeit, von der schnellsten, kürzesten, am besten befahrbaren Route abzuweichen. Aber es sind keine spontan gewählten Veränderungen des Weges, sondern so etwas wie “Standardabweichungen”. Alles andere wäre schon Verfahren. An dieser Stelle hat das Radfahren nicht mehr sehr viel mit dem Flanieren zu tun, wie wir uns das aus 160 Jahren Abstand vorstellen. Wahrscheinlich waren aber auch die professionellen Flaneure des 19. Jahrhunderts viel stärker auf ihre jeweiligen Pfade oder Routinen festgelegt als der Begriff des ungezwungenen, ziellosen Flanieren es uns heute suggeriert.

Wer Tag für Tag immer dieselbe Route nimmt und dabei wenigstens ein bisschen flaniert, wird sensibilisiert für alle Veränderungen, die sich auf dem Weg ereignen. Plakate werden überklebt, Häuser werden abgerissen und neu gebaut, Vorstadtidyllen werden zu Hauptverkehrsachsen oder nationalsozialistische Vorzeigesiedlungen verwandeln sich in, nun ja, ehemals nationalsozialistische Vorzeigesiedlungen mit Stoffsegeldekoration und Buddhastatuen. Manche Veränderungen passieren so langsam, dass man sie ohne den Zeitrafferblick des täglichen Vorbeifahrens gar nicht so richtig erkennt.

Die Gleise der ehemalige Straßenbahnlinie 16 zum Beispiel, die noch bis in die 1980er Jahre zum Lorettoplatz gefahren ist, wachsen von mal zu mal dichter zu, bis man sie kaum noch erkennen kann. Jetzt sollen sie endgültig entfernt werden und an ihrer Stelle soll ein Naturlehrpfad entstehen. Nicht dass ich der Meinung wäre, man müsse alles konservieren und auch die ehemalige Verkehrsinfrastruktur, die viel mehr verrät über das Bild der Stadtplaner von ihrer Stadt als die programmatische Literatur des städtischen Bauamts, unter Denkmalschutz stellen. Aber zumindest dokumentieren sollte man die Spuren, die noch übrig geblieben sind von der Zeit, in der man mit der Straßenbahn auf die Gräber gegangen ist und nicht wie heute mit dem Bus. Überhaupt lässt sich der Rückbau des städtischen Schienenverkehrs hin zum Busverkehr an diesem Beispiel sehr deutlich sehen.

Obwohl in diesem Fall die Dokumentation bereits von den Schienenhistorikern übernommen wurde, die vor allem im Internet alle Veränderungen der Verkehrsnetze dokumentieren. Wahrscheinlich treffen sie sich im Kastaniengarten, Münchens gemütlichsten Eisenbahnerbiergarten im Westend mit ordentlicher kroatischer Küche, und tauschen dort ihre Erinnerungen über historische Fahrten aus.

Irgendwann lässt man dann die Stadt ganz hinter sich und taucht ein in die vorstädtischen Parks wie zum Beispiel den Forstenrieder Park oder Forst Kasten im Südwesten Münchens. Dort ist die Luft zwar noch nicht durchgehend kühler, aber wenigstens fährt man ab und zu durch Flecken, die von der Sonne den ganzen Tag über nicht berührt werden. Oder Flecken, an denen der Boden auch Stunden nach dem Gewitterregen noch aufgeweicht ist und die Pfützen nur langsam verdunsten. Die Luft ist vielfältiger hier. Auch werden die Hunde nicht mehr in Fahrradanhängern durch die Stadt gekarrt, sondern laufen neben den Joggern her.

Wenn die Schienen und die Wendeschleife der Tramlinie 16 schon längst verschwunden sind und allenfalls auf Google Maps oder von Luftbildarchäologen erkennbar sind, werden die Spuren der staatlichen Forstwirtschaft immer noch klar sichtbar sein. Die Geräumten Wege des Forstenrieder Parks oder von Forst Kasten werden auch noch die nächsten dreihundert Jahre überdauern, auch wenn es hier nicht mehr darum geht, das Wild dem jagenden Kurfürsten vor das Gewehr zu treiben.

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Bücher Literatur

Ovid: Metamorphosen

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Es gibt Texte, von denen man sagt, sie hätten eine Generation geprägt. Bei manchen spricht man gar von “Jahrhundertwerken“. Aber die Inhalte zweier Bücher haben unsere sogenannte abendländische Kultur und insbesondere Kunst und Literatur über die letzten zwei Tausend Jahre durchzogen, wie keine anderen: das sind die Bibel und die Metamorphosen von Ovid.

Claude Lorrain: “Ariadne auf Naxos”.
 
„Kommt ein neuer Gott gegangen, hingegeben sind wir stumm!“ verspottet Zerbinetta im Libretto von Hugo von Hofmannsthal zu Richard Strauss’ Oper, als sich Ariadne von Bacchus trösten lässt – und Theseus offenbar schon wieder vergessen hat. Und Bacchus setzt die Krone Ariadnes als Sternbild an den Himmel und der treuen Spinnerin ein ewiges Denkmal:
desertae et multa querenti
amplexus et opem Liber tulit, utque perenni
sidere clara foret, sumptam de fronte coronam
inmisit caelo: tenues volat illa per auras
dumque volat, gemmae nitidos vertuntur in ignes
1606 malte Adam Elsheimer diese Illustration zu “Acis und Galatea”. Elsheimer übernimmt die große Perspektive der Landschaftsschilderung Ovids und verzichtet komplett auf die Darstellung der Personen.
 
Das Bild, oft auch unter dem Titel “Aurora” genannt, gilt als die erste reine Landschaftsmalerei – so modern, dass spätere Zeitgenossen doch noch Figuren an den linken Rand setzten.
Die alchimistische Prachthandschrift Splendor Solis aus dem 16. Jahrhundert – hier aus dem Berliner Kupferstichkabinett – zeigt den Weg zum Stein der Weisen in zweiundzwanzig Miniaturen, die als Pforten, wie von Mauerwerk umrahmt, den Blick auf den jeweils nächsten Raum chymischer Erleuchtung freigeben. Auch die Miniatur zur 11. Pforte, Läuterung im Kessel der Wiedergeburt, verweist direkt auf Ovid: das Relief in der Basis der Säule rechts zeigt Pygmalion bei der Schaffung seiner Traumfrau.
 
Im alchimistischen Text zu diesem Bild findet sich eine Umschreibung von ‘Medea und Pelias’:
 
“Das siebte Gleichnis: Ovidius der alte Römer hat dergleichen angezeigt: von dem weisen Alten der da wollte sich wiederum verjüngen. Er sollte sich lassen zerteilen und kochen, bis zu seiner vollkommenen Kochung und nicht mehr …”. Freilich erging es dem armen Pelias dabei nicht gut: die grausame Medea hatte statt ihres Zaubertrankes nur wirkungslose Käuter in den Kessel gegeben!
Nicolas Poussins “Midas und Bacchus” aus der Münchner Pinakothek sinkt in Reiner-Werner Fassbinders Kammerspiel “Die bitteren Tränen der Petra von Kant” zur Fototapete im Schlafzimmer der Protagonistin ab. Die reiche Modedesignerin Petra von kant kann man dadurch unschwer als moderne Variante des Königs sehen, der zwar alles zu Gold werden lässt, was er berührt, darob aber ums Haar verhungert und verdurstet.
Polyphem / Triumph der Galatea von Raffael und Schülern.
 
Agostino Chigi, der reichste Mann des 16. Jahrhunderts erbaute auf dem linken Tiberufer seine römische Residenz, die heute nach ihrem späteren Besitzer als “Villa Farnesina” benannt ist. Chigi hatte den Palast für sich und seine Geliebte, die Venezianerin Francesca Ordeaschi. Das bemerkenswerte an dieser Beziehung ist, dass es sich wohl tatsächlich um eine reine Liebesbeziehung gehandelt haben muss – vollkommen unstandesgemäß, die Braut im Rufe einer Kurtisane, wurde diese Liebe durch Papst Leo X. schließlich zur Ehe legitimiert.
 
Die Villa lies Chigi durch Raffael und dessen Schule mit Fresken zu Ovids Metamorphosen ausstatten. Das durchgehende Motiv: die Liebe. Mit am berühmtesten ist Raffaels “Triumph der Galatea”.
 
Ovids Episode ist auf der einen Seite – wie das Bild Elsheimers es gut umsetzt – voll luftiger Schönheit, auf der anderen Seite finden wir auch Momente von geradezu humoristischer Fallhöhe:
 
Der ungeschlachte Zyklop Polyphem nämlich versucht seine angebetete Galatea – die Milchweiße, wie sich der Name schließlich wörtlich liest – mit süßen Worten auf seine Seite zu bringen:
“Weißer als das Blatt des schneeweißen Ligusters, Galatea, blühender als Wiesen, schlanker als eine aufstrebende Erle, … , spielerischer als ein zartes Zicklein (!), glatter als beständig vom Meer gescheurte Muscheln, …, schimmernder als Eis, süßer als eine reife Traube, weicher als Schwanenflaum und weißer als Käse …” (deutsch von Michael von Albrecht)
 
“Candidior folio nivei Galatea ligustri,
floridior pratis, longa procerior alno,
…, tenero lascivior haedo,
levior adsiduo detritis aequore conchis,

lucidior glacie, matura dulcior uva,
mollior et cycni plumis et lacta coacto; …”
“Metamorphose in der Not”, die Paul Klee kurz vor seinem Tod 1939 zeichnete, verbildlicht die Hoffnung auf Befreiung vom unheilbar kranken Leib, von einer Umwandlung in ein anderes Wesen – durch das Mitleid der Götter, wie bei Ovid. Klee starb 1940 nach langem Leiden an einer unheilbaren Krankheit.

Geschrieben kurz nach der Zeitenwende, blieben Ovids “Fünfzehn Bücher der Verwandlung” mehr oder weniger durchgehend bis ins neunzehnte Jahrhundert der Grundstoff für Literatur, Theater, Bildhauerei und besonders die Malerei. Von Geoffrey ChaucerWilliam Shakespeare bis zu  Ted Hughes und den Simpsons, von Adam Elsheimer, Claude Lorrain, Peter Paul Rubens bis Ian Hamilton Finley; Tausende von Kunstwerken.

Bereits im 13. Jahrhundert in viele mittelalterliche Volkssprachen übertragen, sind es in Wahrheit meist Erzählungen aus den Metamorphosen, welche man so gemeinhin als die “Griechisch-Römische Mythologie” bezeichnet.

Es ist kein Wunder, dass gerade die Malerei so sehr von Ovid beeinflusst wurde. Die Geschichten sind so ungemein Bildhaft, ja geradezu ikonisch, wenn vom Beginn der Welt bis zum Tod Caesars mehr als zweihundertfünfzig Charaktere ihre Gestalt wandeln (oder in neue Gestalt verwandelt werden) – aus einem Menschen, einem Faun oder einer Nymphe werden Flüsse, Gebirge, alle möglichen Tiere. Aber die Qualität von Ovids Erzähl- und Dichtkunst ist nicht auf eingängige Schilderungen bekannter oder abseitiger Mythen beschränkt.

Die einzelnen Episoden der Verwandlungen beginnen typischer Weise in einer großartigen Totalen, in der unser Blick wie aus weiter Entfernung über die Landschaft gleitet, die sich in der Ferne im Dunst verliert. Wie zufällig entsteht am Bildrand der Ort der eigentlichen Handlung, die Helden tauchen auf, und wir kommen immer näher, bis wir vollständig teilhaben, an den Gedanken und Gefühlen der Handelnden. Und aus diesen Gefühlen motiviert sich dann das Verhalten der Personen, die in genau diesem Augenblick auf den Wendepunkt ihres Lebens zustreben. Fast in allen Geschichten ist die Antriebskraft der Handlung die Liebe. Unerfüllte Liebe, Eifersucht auf die glücklich Liebenden, oder auch Mutter- und Vaterliebe; das Ende meist tragisch und voll drastischer Grausamkeit – aber nicht selten werden die unglücklichen Helden von einer nachsichtigen Gottheit gerade durch die Verwandlung aus ihrer Not befreit.
***

Über dieser ersten, erzählerischen Ebene mit den drei Handlungsperspektiven – psychologisches Innenleben der Helden, äußere “Spiel-“Handlung und Schilderung des Ortes und der Landschaft – liegt eine zweite, metaphorische Schicht. Hier sehen wir im Seelenleben der handelnden Personen das allgemein Menschliche: Sehnsucht, Freude, Schmerz, Trauer und Trost. Gut und Böse sind selten klar, vielmehr können wir meist mit beide Seiten fühlen, da Ovid sein Handlungspersonal derart empatisch schildert und nicht selten sogar direkt im Text zu Mitgefühl aufruft.

Eine dritte Ebene kann man allegorisch lesen. Um unsere Umwelt zu begreifen, bedienen wir uns Bildern, da die “Dinge ansich” für uns gar nicht direkt fassbar sind. Nietzsche spricht von einer “Metamorphose der Welt in den Menschen” hinein. Fast alle Verwandlungsgeschichten bei Ovid erklären bildhaft geografische, biologische oder phyisikalische Phenomäne und machen abstrakte Vorstellungen und philosophische Begriffe sichtbar.

Die Verwandlung als Prinzip der Schöpfung wurde so schließlich ein Gerüst der Alchimie im Mittelalter und der frühen Neuzeit. Ovids Metamorphosen lasen die Adepten der chimischen Kunst als das ineinander Überführen von Materie, von einem Zustand zum Nächsten. Allegorische Schemata, nach denen wir die Welt erkennen können, bieten die fünfzehn Bücher der Verwandlung bis heute. Zum Beispiel unsere Vorstellung von “Chaos” als abstraktem Begriff leitet sich direkt aus dem eindrucksvollen Anfang des ersten Buches ab:

Ante mare et terras et quod tegit omnia caelum /
unus erat toto naturae vultus in orbe, /
quem dixere Chaos: rudis indigestaque moles, /
nec quicquam nisi pondus iners congestaque eodem /
non bene iunctarum discordia semina rerum.

Bevor es das Meer, das Land und den Himmel gab, der alles schützt, /
hatte die Natur überall ein einheitliches Gesicht, /
zu dem sagte man Chaos: eine rohe, ungeordnete Masse, /
nichts als träges Gewicht und auf einen Haufen /
die nicht gut zusammengefügten, widerstreitenden Samen der Dinge.
***

Die zahlreichen literarischen Übersetzungen der Metamorphosen sind oft viel mehr in ihrer eigenen Zeit verhaftet, als das Original. Auf Deutsch ist das z. B. die viel zitierte Übertragung von Joh. Heinrich Voß, dessen Verse die dichte lateinische Grammatik mit betulichen Füllwörtern und Einschüben auffüllen, um das Versmaß wenigstens einigermaßen einhalten zu können. Das Ergebnis liest sich heute staubig und unfrisch.  Es ist doch bemerkenswert, wie die Jahrhunderte seit Ovids Zeit inzwischen veraltet und ins Geschichtliche abgesunken sind!

Besser sind moderne, texttreue Übersetzungen, schon alleine, weil dort die Möglichkeit besteht, auf dichterische Besonderheiten hinzuweisen, die bei einer literarischen Übertragung stets wegfallen müssen.

Ovids Worte selbst aber sind nach mehr als zweitausend Jahren unverändert schön und berührend.

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Das heimliche Leben der Epitaphien

Non est mortua sed dormit
(Lk 8, 52)

Ein paar feste Wahrheiten gibt es doch noch. Dazu gehört zum einen, dass wir, die heute erwerbstätige Generation, im Alter nicht von unserer Rente werden leben können. Zum anderen werden nach unserem Tod keine Epitaphien aus Marmor, Kalkstein oder Grüntenstein gemeißelt werden, die uns in liegender oder knieender Haltung für die Ewigkeit repräsentieren. Manchmal auch als von Würmern und Maden umgebener verwesender Leichnam. Anders als der Super8-Film oder die Tageszeitung, die immerhin noch für einen Liebhaberkreis am Leben erhalten werden, gehört das Epitaph wirklich zu den ausgestorbenen Medien.

Epitaphien erzählen dem, der bereit ist, ihnen zuzuhören, große Geschichten, in denen sich der kleine Maßstab des irdischen Strebens der Menschen, der sehr viel größere Maßstab der Geschichte und schließlich der größte Maßstab des Ewigen berühren. Erst relativ spät, ab dem 17. Jahrhundert, begann die Individualisierung der Grabmäler. Bis dahin reichte es, den Verstorbenen mit typischen Symbolen seines Standes auszuschmücken. Es gab noch keinen Grund, den Verstorbenen aus dem großen Totentanz, der vom Bettler bis zum Papst jeden einbezogen hat, hervorzuheben. Der Bischof war Bischof und der Ritter war Ritter.

Aber die Ablehnung des user-generated contents des menschlichen Lebens war nicht absolut. Immer wieder wurde die ewige Welt der Grabmäler von der “ansteckenden Kraft des Bildnisses”, wie Ariès das so schön ausdrückt, irritiert. Identitäten rückten an den Platz, der den anonymen Personen vorbehalten war. Einzelne Epitaphien bildeten auf einmal nicht mehr die große Erzählung von der Ordnung der Welt ab, sondern die kleine Erzählung eines Fürstbischofs, Domvikars oder Kanonikers:

Aus den braun erhellten Kirchen
Schaun des Todes reine Bilder,
Großer Fürsten schöne Schilder.
Kronen schimmern in den Kirchen.

So heißt es in Georg Trakls Schöner Stadt über den Zauber der Grabmäler und ihre prachtvolle Ausschmückung mit den Insignien der Macht.

Über der kleinen Erzählung der Identität und der größeren Erzählung von den Personen und ihren Plätzen in der Ordnung der Welt steht in der Epigraphie die große Erzählung von der ewigen Ordnung. Häufig bleibt der Verstorbene auf seinem Weg in die Ewigkeit nicht allein. Neben ihm stehen Heilige oder Engel, legen ihm die Hand auf die Schulter und begleiten ihn auf seinem letzten Weg.

Doch was stellen die Grabmäler eigentlich dar? Den gerade eben verstorbenen Leib? Oder vielleicht doch einen schlafenden Menschen? Ariès ist sich sicher: Die liegenden Figuren mit zum Gebet gefalteten Händen, die gisants, sind keine Leichen, sondern sie schlafen nur:

Die Geste der gefalteten Hände, die sie definiert, hebt jede Mehrdeutigkeit auf: sie ist bei einem seinem Eigengewicht überlassenen Leichnam keineswegs natürlich. Sie erfordert im Gegenteil sogar eine Anstrengung, eine Eigenaktivität, die mit der Totenstarre unvereinbar ist. Sie verleiht ihm eine Art heimliches Leben, ein Leben, das nicht mehr das irdische, sondern das eines fernen Landes, des Landes der ewigen Ruhe ist.

Der Domkreuzgang in Augsburg mit seinen 400 Grabmälern ist also gar nicht als Ort der Verstorbenen zu verstehen, sondern als himmlischer Schlafsaal, in dem die Lebendigen über die plastische Vergegenwärtigung von in erster Linie kirchlichen Würdenträger aus 300 Jahren mit dem fernen Land der ewigen Ruhe in Verbindung treten können. Kein Wunder, dass Särge hier viel seltener zu sehen sind als Kopfkissen.

Wenn man das Glück hat und nicht gerade einer geschwätzigen Domführungsgruppe begegnet, sondern am frühen Morgen den Kreuzgang besucht, dann fangen die Epitaphien tatsächlich an, von ihrer großen Geschichte ihres heimlichen Lebens zu erzählen. Ein Medium, das so langsam ist, das die Zeit aufgehört hat, eine Rolle zu spielen.

Der naheliegende Lesetipp zu diesem Thema sind natürlich die Bilder zur Geschichte des Todes von Phillipe Ariès in Kombination mit einen Grabmalführer der Wahl wie zum Beispiel Der Augsburger Domkreuzgang und seine Denkmäler von Karl Kosel.

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Leistung oder Wirkung?

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Remember that time is money.
Benjamin Franklin, Advice to a Young Tradesman

Als Benjamin Franklin mit dem Blitzableiter erst “dem Himmel den Blitz” und in der amerikanischen Revolution auch noch “den Tyrannen das Szepter” entrissen hatte, konnte kaumnoch irgenjemand an den Worten dieses titanenhaften Helden der Aufklärung zweifeln. Dessen berühmtestes Zitat aber hat weder mit Naturforschung noch mit Staatskunst zu tun, sondern stellt eine Regel auf, die für die kommenden zweihundert Jahre das Credo einer effizienzorientierten Wirtschaft werden sollte: “Zeit ist Geld”.

Der physikalische Begriff der Leistung P ist definiert als Arbeit W (beziehungsweise Energie, dann auch mit E abgekürzt), die pro Zeiteinheit t erbracht (bzw. verbraucht) wird. Damit entspricht die Formel P = W / t auch ziemlich gut dem alltagssprachlichen Verständnis von Leistung: fertigt ein Fabrikarbeiter 100 Werkstücke pro Stunde, so erbringt er die doppelte Leistung seines Kollegen, der für die selbe Anzahl zwei Stunden braucht. Und selbstverständlich gehen wir davon aus, dass der erste Arbeiter für seine höhere Leistung auch mehr Lohn erhalten sollte.

Und genau da endet auch schon die Analogie von Physik und Wirtschaft. Denn es ist sicher nicht so, dass eine hochbezahlte Führungskraft tatsächlich mehr leistet, als der Angestellte auf Sohle 7 der Unternehmenshierarchie. Diesen Gedanken verfolgt der Blogger und Filmemacher Werner Große in seinem Post auf den Wissenslogs. Ein anderer physikalischer Begriff erklärt nämlich viel besser, wonach sich in der post-industriellen Wirtschaftswelt Gehaltsunterschiede idealer Weise gründen: die Wirkung.

Die Wirkung in der Physik ist nicht zu verwechseln mit der Kausalität (Ursache/Wirkung). Wirkung S ist hier definiert als Arbeit mal Zeit (bzw. Energie mal Zeit). In Formel

S = E ⋅ t

Die einfachen mathematischen Gleichungen, indenen sich die Begriffe ausdrücken lassen, führen schnell zum Punkt, was das alles mit Slow Media zu tun hat: Nachdem die Leistung gleich Arbeit durch Zeit ist (P = E / t), hängen Wirkung und Leistung ebenfalls eng zusammen: S = P ⋅ t2
In Worten: ich kann die selbe Wirkung erzielen mit halber Leistung, aber in vierfacher Zeit.

Damit ist klar, dass Leistung, an sich betrachtet, schnell in hirnlose Energieverschwendung mündet – Hauptsache viel geschafft! Von anderer Seite betrachtet, wird die Bedeutung der Wirkung noch klarer. Auf ihrer lesenswerten Seite über “Grundfragen der Physik, neu gestellt und beantwortet von einer Frau” schreibt Brunhild Krüger:

Angenommen, mir stünden 1 kWh an Energie zur Verfügung:
Mit einer Glühlampe, die eine Leistung von 100 Watt hat, könnte ich damit einen Raum für 10 Stunden ausleuchten. […] Will ich jedoch nur ein Buch lesen, genügt eine Tischlampe mit 40 Watt, die ich 25 Stunden lang betreiben kann, ehe die verfügbare Energie verbraucht wäre.[…]
Je geringer die eingesetzte Leistung ist, um so mehr hat man von der vorhandenen Energie.

Immer mehr Leistung – das bedeutet immer mehr Energie in noch kürzerer Zeit zu verbrauchen. Aber in der Regel kommt es doch darauf an, welche Wirkung erzielt wird. Das gilt für Maschinen genau wie für Publikationen. Statt auf Leistung zu pochen, wie in der grauenhaften Diskussion um den sogenannten Leistungsschutz der Verlage, sollten die Publizisten besser dafür sorgen, dass ihre Arbeit Wirkung zeigt.

Mit etwas Glück und Salz und mit Pfeffer
Erzielt man manchmal völlig ungeahnte Treffer
Ist denn Verlass, dass das nachher schmeckt?
Die Hauptsache ist der Effekt

Günter Neumann, “Giftmischerrumba”

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Langsamkeitspflege

Die eigentliche Innovation, die mit der Hilfe des Bloggens in die Medienlandschaft geschwappt ist, war in Wirklichkeit nie die Echtzeit. Nein, der entscheidende Unterschied zwischen “normalen” Webseiten oder Portalen und Blogs ist das Archiv und die wundervollen Möglichkeiten der “Langsamkeitspflege” (Odo Marquard), die sich daraus ergeben, wie Don Alphonso hier feststellt.

Als Don Dahlmann vor drei Jahren geschrieben hatte, “man soll[t]e echt mal eine Übersicht über die deutsche Blogszene machen, denn da geht sehr schnell, sehr viel verloren,” habe ich das Blog History Project ins Leben gerufen. Der Versuch, eine Übersicht über die Geschichte der deutschsprachigen Blogosphäre aufzuzeichnen.

Von den ersten Anfängen vor 14 Jahren – Robert Braun, Cybertagebuch und Moving Target über die erste Bloggerwelle 2001, die sogar in der ein oder anderen Zeitung bemerkt wurde, bis zu der großen Blogeuphorie Mitte der 2000er Jahre. Jetzt ist diese Geschichtsschreibung selbst schon wieder drei Jahre her, aber das schöne ist: fast alle Blogs und ihre Archive sind immer noch vorhanden. So viel geht hier gar nicht verloren.

Interessanterweise habe ich in der oral history die Erfahrung gemacht, dass sich zentrale Infrastrukturen wie zum Beispiel Postämter, in die fast jeder Bürger einer Gemeinde mehrmals im Jahr, Monat oder gar in der Woche zum Geldabheben, Briefeaufgeben, Telefonnummern nachschlagen etc. gegangen ist, nach dem Abriss allerhöchstens 10 Jahre in der Erinnerung halten.

Teilweise sind sie trotz (oder wegen?) ihrer Banalität und Alltäglichkeit nicht einmal photographisch dokumentiert – oder vielleicht nur auf dem Medium, das alle immer für ebendiese Banalität kritisieren. Ich vermute, dass man auf Twitter mehr Abbildungen des auf seine Weise wunderschönen mittlerweile abgerissenen Aschaffenburger Bahnhofs findet als in den Archiven des Stadtbauamts.

Wahrscheinlich werden wir unsere Blogs auch in 20 Jahren noch kennen und zum Teil immer noch in ihren Archiven stöbern können, während politische Echtzeitfiguren wie Ursula von der Leyen oder Horst Köhler schon längst in verstaubten, vergilbten und mit Spinnenweben verhangenen Winkeln der Wikipedia vor sich hin schlummern. Und das ist gar nicht einmal die schlechteste Entwicklung.

Die Literaturempfehlung hierzu ist das sehr lesenswerte Buch von Florian Aicher und Uwe Drepper über den Architekten Robert Vorhoelzer, den Mittelpunkt der gleichzeitig so bayrischen wie unbayrischen Postbauschule der 1920er Jahre.