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Die Kulturindustrie

Albion Flour Mills
“Dark satanic mills” – so schildert Wiliam Blake in seiner wunderschönen Hymne ‘Jerusalem’ die Industrie am Ende des 18. Jahrhunderts heraufziehen, die teuflischen Mühlen einer Industrie, in der alles zur Ware wird.

“Die Kapitalkraft der Verlage, die Verbreitung durch Rundfunk und vor allem der Tonfilm bilden eine Tendenz zur Zentralisierung aus, die die Freiheit der Wahl einschränkt und weithin eigentliche Konkurrenz kaum zuläßt.”

Was Adorno in seiner Schrift “Über Jazz” 1936 beklagt, klingt wie ein Rant eines Netzaktivisten gegen die sogenannte Content-Mafia von heute.

Aber die Perspektive hat sich umgekehrt. Adorno sieht mit Entsetzen, wie Kunst und Kultur zur Industrie verkommen. Wir heute erleben eben diese Kulturindustrie im Abwehrkampf gegen einen kulturellen Wandel, der die Gewissheiten geistiger Wertschöpfung des 20. Jahrhunderts einfach wegzuwischen scheint.

Wenn wir ACTA, SOPA, PIPA und all die anderen Gesetzes-Monster verstehen wollen, hilft es, sich zu vergegenwärtigen, wie jene Content-Industrie entstanden ist.

“Die Rolle der Musik im gesellschaftlichen Prozess ist ausschließlich die der Ware; ihr Wert der des Marktes. Sie dient nicht mehr dem unmittelbaren Bedürfnis und Gebrauch, sondern fügt sich mit allen anderen Gütern dem Zwang des Tausches um abstrakte Einheiten und ordnet mit ihrem Gebrauchswert, wo immer er übrig sein mag, dem Tauschzwang sich unter” (Adorno, “Zur Gesellschaftlichen Lage der Musik”)

Kunst, kulturelles Schaffen, ebenso wie Erfindungen und wissenschaftliche Erkenntnis verändern ihren Charakter ab dem Ende des 18. Jahrhunderts grundlegend. Die “Schöpfer” geistiger/kultureller Werke werden zunehmend nicht mehr wie Handwerker nach Stunden oder anderen Aufwänden bezahlt, sondern danach, welchen monetären Wert ihrem Werk durch einen Markt beigemessen wird.

Damit reihen sich geistige Werke in die Welt der Waren ein, die in einer modernen Gesellschaft eben nicht nach ihrem Gebrauchswert gehandelt werden, sondern nach einem abstrakten Tauschwert – sprich einem Kaufpreis in Geld, der nur noch lose, wenn überhaupt mit ihrem Gebrauch verbunden ist:

Seine Ware hat für ihn keinen unmittelbaren Gebrauchswert. Sonst führte er sie nicht zu Markt. Sie hat Gebrauchswert für andre. Für ihn hat sie unmittelbar nur den Gebrauchswert, Träger von Tauschwert und so Tauschmittel zu sein.

Dies sind die Grundgedanken wie sie Karl Marx in seinem Buch “Das Kapital” entfaltet, auf die sich Walter Benjamin und Adorno in ihren Überlegungen über die Kulturindustrie beziehen.

Ich will hier nicht in ein Gejammer über die böse Kulturindustrie verfallen; die pessimistische Einstellung der Frankfurter Schule zu Film und Musik kann ich nicht teilen: viel zu viele Hollywood-Filme sind großartige Kunstwerke, viele TV-Serien sind nicht zum Schlechteren ein fester Bestandteil unserer Kultur geworden und jede Menge Popmusik gehört zum kulturellen Erbe unserer Epoche (vom Jazz, den Adorno so inbrünstig gedisst hat, mal ganz abgesehen).

Es geht mir um etwas ganz anderes: in dem Augenblick, in dem geistige Werke zur Ware werden, unterliegen sie selbstverständlich den Gesetzen des Handels. Sowohl ganz pragmatisch – es gibt Packaging, Werbung, Sales, Promotion etc., als auch juristisch, d. h. Kaufverträge, Lizenzen, Honorare u.s.w.

Meiner Ansicht nach ändern sich gerade entscheidende Parameter. Das Konstrukt “Kulturindustrie” löst sich auf. Neben den Markt, die Ware treten durch die Netzkultur neue Formen kreativen Schaffens. Ein paar der Dinge, die irgendwie nicht mehr passen, habe ich im Folgenden zusammengefasst:

1. Der “Schöpfer-Künstler” verliert seine schützenswerte Stellung

Durch das Netz wird transparent, wie hoch der Riese ist, auf dessen Schultern jede geistige Neu-Schöpfung steht. Da eine relevante “Schöpfungshöhe” aber das Kriterium ist, nachdem in unseren Rechtssystemen einem Urheber die Rechte an “seinem” Werk eingeräumt werden, bedeutet dieser Verlust, dass immer weniger Werke dem Commonsense nach überhaupt schutzfähig sind. Die absurdesten Beispiele sind sicherlich generische Stock-Fotos. Bekannt ist der Fall einer Familie, die dafür abgemahnt wurde, aus Google ein völlig beliebiges Bild eines Teeglases in einen Post auf ihrem Urlaubs-Blog eingebaut zu haben.
(Über diesen Punkt habe ich schon öfter geschrieben: “Das Ende der Geschichte für Kreativ-Berufe”).

2. Es gibt kein Original mehr

Digitale Dokumente sind beliebig ohne technischen Verlust reproduzierbar. Da braucht man gar nicht anfangen vom “Verlust der Aura” zu lamentieren. Eine Sache, die sich beliebig vervielfältigen lässt, nicht zu vervielfältigen ist für den gesunden Menschenverstand schwierig zu begreifen. Selbst wenn wir vernunftmäßig einsehen, dass es nicht rechtens ist, behaupte ich, niemand fühlt so. Dennoch hängt in fast allen Vermarktungsmodellen der Preis, den man zahlen muss, an einem materiellen Exemplar des Werkes und damit dieses Prinzip nicht verändert werden muss, wird Digital Rights Management eingeführt, durch das die Möglichkeit, das Werk zu kopierten irgendwie eingeschränkt werden soll.

3. Es gibt keine un-kommerzielle Nutzung mehr

Anders als im 20. Jahrhundert, wo Veröffentlichung eng mit dem Besitz von Produktionsmitteln wie Druckereinen oder Rundfunksendern verbunden war, ist heute jeder ein Publisher.

Um ein Foto aus einer Zeitschrift für später aufzubewahren, zu sammeln, hätte man die Seite herausgerissen und in eine Schachtel gelegt oder in einen Ordner abgeheftet. Heute nimmt man einen Link auf den Inhalt und platziert ihn auf einer Website, einem Post oder Tweet. Je nachdem, ob der, hinter dem Link liegende Inhalt nun im Browser der Betrachter direkt angezeigt wird, oder ob es sich nur um die URL in Form von Text handelt, kann der Betreiber der Seite wegen Urheberrechtsverletzung belangt werden, oder nicht.

Und der Übergang zwischen eindeutig privaten Seiten mit ganz eingeschränkter Nutzung zu 100% kommerziellen Angeboten ist vollkommen fließend. Dieser Blog, z.B. trägt keine Werbung. Dennoch wäre es absurd, ihn nicht als publizistisch oder gar kommerziell zu bewerten. Ein Kriterium, “private, nicht-kommerzielle Nutzung” einzuräumen, ist also überhaupt nicht trennscharf.

4. Wirtschaftliche Interessen (sind noch keine Verschwörungstheorie!)

Ja, und zum Schluss gibt es natürlich tatsächlich auch handfeste wirtschaftliche Überlegungen, für ACTA, PITA, SOPA etc. Natürlich ist Wikipedia eine Konkurrenz und es ist vollkommen nachvollziehbar, dass Verlage, die bisher gutes Geld mit vergleichbaren Produkten verdient haben, jetzt alles daran setzen, der kaufmännisch unbesiegbaren Konkurrenz den garaus zu machen. Und das ist nur das prominenteste Beispiel.

All das bleibt sicher nicht ohne Folge für die Produktion geistiger Werke. Fragt man sich aber, wer hier den Kürzeren zieht, so bin ich mir bei einem sicher:

Die bildenden Künstler, die tatsächlich jemals für ihre Werke – im Sinne von Marx oder Adorno – einen Marktwert erzielen konnten, machen weniger als ein Prozent der Menschen aus, die für sich zu Recht in Anspruch nehmen können, Künstler zu sein, z. B. weil sie Kunst an einer Akademie studiert haben oder regelmäßig in professionellen Galerien oder öffentlichen Kunstausstellungen gezeigt werden. In anderen Kreativ-Berufen ist es, meiner Einschätzung nach, nicht besser.

Weiter zum Thema:

Ende der Geschichte – für Kreativ-Berufe
Die Moderne ist unsere Antike
Non-Commodity-Production
Urheberrecht, Kulturproduktion und Grundeinkommen

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SOPA – down for a day

Wir sind Autoren. Geistiges Eigentum ist für uns ein schützenswertes Gut. Gerade deshalb sind wir überzeugt, dass Urheber- und Nutzungsrechte nicht als Faustpfand für wirtschaftliche oder politische Interessen missbraucht werden dürfen.

Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

Grundgesetz, Artikel 14, 2

Aus gutem Grund steht das Eigentum in unserer Verfassung erst weit hinten in der Rangfolge der Rechte. Eigentum gilt nur unter Vorbehalt, während Meinungsfreiheit, Freiheit von Kunst und Wissenschaft und Pressefreiheit zu den unveränderlichen Grundrechten gehören.

Zensur ist Unfreiheit. Wir protestieren gegen Zensurgesezte, wie sie in Gestalt von Internetsperren und 3-Strikes-Out-Regeln immer öfter von Lobby-Organisationen in die Parlamente eingebracht werden.

Wikipedia schaltet am heutigen 18. Januar 2012 aus Prostest gegen SOPA, das “Stopp-Online-Piraterie-Gesetz” des US-Kongress die englischsprachige Plattform ab.

Diesem Protest schließen wir uns an und schalten auch unsere Website für einen Tag ab.

Sue Gardner, Executive Director der Wikimedia Foundation schreibt dazu:

http://wikimediafoundation.org/wiki/English_Wikipedia_anti-SOPA_blackout

Wir hoffen, dass wieder Vernunft einkehrt in die Legislative. Wir hoffen, dass wir weiter in einer Demokratie und in Freiheit leben können.

Imressum: Joerg Blumtritt, Benedikt Koehler, Sabria David, c/o Galerie Royal, Luisenstr. 66, 80798 München

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Es gibt kein digitales Altpapier, oder: Die große Chance der Verlage im Web

McLuhans Tetrade der Medienwirkungen war in diesem Blog schon öfters Thema, da sie besonders gut geeignet ist, die Veränderungen der Medienfunktionen zu erklären. Die Tetrade macht vor allem deutlich, dass Medienwandel nicht nur heißt, dass neue Medien hinzukommen und alte Medien absterben, sondern dass es häufiger vorkommt als man denkt, dass alte Medienfunktionen wiederentdeckt werden. Eine solche Wiederentdeckung kann man in diesen Tagen live mitverfolgen. Als Labor dieses Realexperiments dienen wie so oft die neuen Tablets von Kindle bis iPad.

Altpapier als mediales Stoffwechselprodukt

Einer der großen Nachteile von gedruckten Zeitungen und Zeitschriften – das hat die Forschung zur Mediennutzung immer wieder gezeigt – ist das Altpapier, dass als mediales Stoffwechselprodukt beim Gebrauch der Drucksachen entsteht. Die Berge ungelesener Zeitungen und Zeitschriften sind einer der wichtigsten Gründe, warum Menschen ihre Printmedien abbestellen. Dahinter steckt vor allem der Zwang zur Neuheit, der das Printgeschäft immer noch dominiert. Der Fokus von Zeitungen und Zeitschriften liegt auf den neuesten Nachrichten, den neuesten Trends, den neuesten Modeschnittmustern oder den neuesten (bzw. nach dem neuesten Geschmack abgewandelten) Kochrezepten. Nichts ist älter als die Zeitung von gestern.

Wir haben den Philosophen Odo Marquard schon öfters als slowmedialen Hofphilosophen zitiert, der in seinem “Zukunft braucht Herkunft” allen Trendhinterherläufern folgendes ins Gewissen ruft:

So sollte man sich beim modernen Dauerlauf Geschichte – je schneller sein Tempo wird – unaufgeregt überholen lassen und warten, bis der Weltlauf – von hinten überrundend – wieder bei einem vorbeikommt; immer häufiger gilt man dann bei denen, die überhaupt mit Avantgarden rechnen, vorübergehend wieder als Spitzengruppe: so wächst gerade durch Langsamkeit die Chance, up to date zu sein.

Zusammengefasst: Wenn man nur eine gewisse Zeit ruhig abwartet und bei sich bleibt, ist der Geschmack der Zeit wieder dort angelangt, wo man sich von ihm wartend getrennt hat. Ähnliche Gedanken findet man auch bei Georg Simmel – eigentlich jeder, der sich mit Trends und Moden befasst, kommt zu solchen Ergebnissen. Ich denke, dass dies aber nicht nur für die Trends und Moden im engeren Sinne gilt, sondern auch für das Geschäft mit Nachricht und Aktualität immer wichtiger wird: Wenn man sich eine von Marquard inspirierte slowe Sichtweise auf Medienevolution zueigen macht, wird nämlich auf einmal der bislang stark unterschätzte Wert der Archive deutlich.

Medien sind Eisberge

Medien sind Eisberge. Die jeweils aktuellen Hefte und Ausgaben sind nur die sichtbare Spitze des ganzen. Der weit größere und gewichtigere Teil liegt in den Archiven vergraben. Bisher ist man davon ausgegangen, dass die Zeitung von gestern oder die Zeitschrift von vor zwei Monaten Ladenhüter sind, die nicht einmal mehr für das moderne Antiquariat taugen. Das Internet ändert dies grundlegend. Im Prinzip ist nämlich alles, was jemals in einem Medium veröffentlicht wurde, nur einen einzigen Mausklick entfernt. Ein Beispiel: Der Hearst-Verlag, in dem neben anderem Cosmopolitan und Esquire erscheinen, verkauft mit seinen iPad-Apps mittlerweile 30% Altware. Ausgaben, die nicht mehr am Kiosk erhältlich sind und normalerweise schon längst im Altpapier gelandet wären. Aber: Es gibt kein digitales Altpapier.

Die große Kunst, oder besser: das handwerkliche Geschick, liegt darin, mit dieser Tiefenstruktur des Mediums souverän umzugehen. Ein bisschen erinnert die Arbeit der modernen Nachrichtenarchivare und -kuratoren der Arbeit eines Kellermeisters in einem Weinbaubetrieb. Denn die größten Herausforderungen lauten:

  • zu wissen, was alt und gereift ist oder was einfach nur veraltet und dünn ist,
  • zu wissen, welche Bereiche des Archivs (welche “journalistischen Anbaugebiete”) für wen relevant sind,
  • zu wissen, wie man das Archiv technisch öffnen und den interessierten Lesern zur Verfügung stellt (von hier ist es nicht weit zu den typischen Big-Data-Aufgaben der Erschließung großer Datenbanken mit intelligenten Empfehlungssystemen)
  • zu wissen, in welche Richtung sich der Markt entwickelt und wie sich der Wert der archivierten Daten verändert bzw. wie man sich das Archiv bezahlen lässt (intelligente Bezahlsysteme)
  • zu wissen, wie die richtige Mischung von alt und neu aussieht

Über ganz ähnliche Themen hatte ich vorletztes Jahr auf dem Frankfurter Tag des Onlinejournalismus mit Mercedes Bunz und Jakob Augstein diskutiert: Guter Journalismus veraltet nicht, sondern verändert sich nur in dem Maße, in dem sich die Zeitläufte im “modernen Dauerlauf der Geschichte” verändern. Mittlerweile ist es technisch möglich und wahrscheinlich sogar wirtschaftlich intelligent, die Archive endlich zu heben und den Lesern in einem intelligenten System zur Verfügung zu stellen.

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Sturmgeschütze und vierte Gewalt

Am 20. November 1925 endete in München ein Gerichtsverfahren, das in die Geschichte als “Der Dolchstoßprozess” eingehen sollte. Anlass war eine Beleidigungsklage des sozialistisch gesinnten Verlegers Martin Gruber gegen den konservativen herausgeber der ‘Süddeutschen Monatshefte’ Paul Cossmann. Cossmann war einer der Meinungsführer einer Hetz-Kampagne, die sich während der Reichstagswahl 1924 auf den Reichspräsidenten Friedrich Ebert fokussierte. Inhalt der Hetze war die sogenannte ‘Dolchstoßlegende’, also die Behauptung, Deutschland sei im Ersten Weltkrieg nicht durch seine Kriegsgegner besiegt worden, sondern der Krieg sei durch die Revolution im eigenen Lande verloren gegangen. Diese Behauptung wurde bereits während des Prozesses in München durch zahlreiche Gutachter widerlegt und vom Gericht auch klar und unmissverständlich als Geschichtsfälschung beurteilt – was leider in der aufgebrachten Stimmung der Weimarer Republik wenig Beachtung fand.

Die Position des Bundespräsidenten wurde im Grundgesetz ganz bewusst viel schwächer gesetzt, als es in der Weimarer Verfassung der Fall war. Dennoch sah sich der Bundestag bereits 1950 gezwungen, den ständigen Attacken gegen den jungen Staat, die sich in Person häufig direkt gegen Bundespräsident Heuss richteten, den eigenen Straftatbestand der “Verunglimpfung des Bundespräsidenten” im §90 StGB entgegen zu setzen.

Es ist viel einfacher, eine Person durch eben persönliche Angriffe zu vernichten, als abstrakte Gebilde wie Verfassungen oder Staatsverträge zu kritisieren. Jede abstrakte Funktion einer repräsentativen Demokratie wird am Ende doch von Menschen ausgeführt, willkommene Opfer. Während also am Anfang der Bundesrepublik das Verhältnis der demokratisch Gesinnten zur Presse noch ambivalent war – zu frisch die Erinnerung an die Verfemungen und die Hetze der Meinungskartelle der Weimarer Zeit – ist diese Skepsis in den Sechziger Jahren einer bewunderndend Verehrung gewichen. Auch wenn 1967 die protestierenden Studenten noch gerufen “Presse – Ne pas avaler!” und die Medien als Gift dargestellt hatten, das man besser nicht schlucken sollte, war durch Enthüllungen wie die Spiegel-Affäre oder den Profumo-Skandal die Presse für die bürgerliche Mehrheit längst mit kritischer Öffentlichkeit gleichgesetzt.

Öffentlichkeit ist nicht dasselbe wie Medien-Öffentlichkeit. Auch wenn Freiheit der Presse im Artikel 5 des Grundgesetzes neben der Freiheit der Meinung, Kunst und Wissenschaft aufgeführt ist, gibt es keine, den Medien von der Verfassung zugewiesene Funktion in der Willensbildung der Demokratie – anders etwa als bei den Parteien. Umso befremdlicher erscheint mir das Selbstverständnis der Verlage, die sich als vierte Gewalt im Staat gleichwertig neben Parlament, Regierung und Gerichten sehen, was tatsächlich jeder Legitimation entbert.

Aus dieser, sich selbst gesetzten Position als quasi konstitutionieller Teil der Demokratie wird auch sofort klar, dass die Presse gegen Angriffe zu schützen ist. In der goldenen Zeit der Printwerbung musste sich dieser Schutz sich im Wesentlichen nur gegen Übergriffe der Staatsmacht richten – der Presseausweis erinnert als Relikt noch heute an dieses Schutzbedürfnis. Aber heute sehen sich die Verleger von ganz anderen Mächten bedroht: da im Internet schließlich jeder zum Publisher werden kann, ist das Meinungsmonopol der Presse ins Wanken geraten. Die Arbeit der Redaktionen wird zunehmend von Algorithmen in Suchmaschinen übernommen – oder noch effektiver, durch Auswahl und Empfehlung der eigenen Freunde in den Social Networks. Die Folgen sind bekannt: enormer Reichweitenverlust und schwindende Relevanz – und damit nicht zuletzt sinkende Werbeeinnahmen.

Als vierte Gewalt fordern die Medien nun einen Bestandsschutz ein. Leistungsschutzrecht, ACTA, SOPA – wie auch immer die Zensurgesetze genannt werden, die die Lobbyisten der Verlage in Brüssel, Berlin oder Washington D.C. auf den Weg gebracht haben, alle dienen demselben Zweck, das Meinungsmonopol der Presse abzusichern, indem Konkurrenz und Kritik aus dem Netz gleichermaßen mundtot gemacht werden soll. Die ““Sturmgeschütze der Demokratie” – das ist der mustergültige Jargon der Eigentlichkeit – es geht um Angriff, um Krieg, um Kampagne. Vor Medien, die sich selbst auf solche Weise zu Freicorps hochstilisieren, wird mir himmelangst.

Ich wünsche mir, dass wir, die Nutzer der Social Networks, die Blogger, Twitterer, die Online Video Community, dass wir diese Presse nicht wieder so mächtig werden lassen, dass sie nach ihrem dafürhalten Oppositionelle verfehmt, Präsidenten zu Fall bringt und Regierungen stürtzt. Dafür müssen wir sorgen. Nicht jeden Artikel eines großen Medienhauses einfach zu verlinken und mit den Freunden zu teilen, wäre ein Anfang.

– und es ansonsten einfach mal mit Walter Kempowski halten: http://twitpic.com/kcfsw/full
(danke an @lorettalametta für diesen Link!).

weiter Lesen:

Das letzte Aufgebot
Höchste Zeit für verteilte Netze
Filter bubble
“Den Schrott gibt es im Internet”

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Romantische Liebe

William Blake, Adam and Eve
Mein!
Bächlein, laß dein Rauschen sein!
Räder, stellt eur Brausen ein!
All ihr muntern Waldvögelein,
Groß und klein,
Endet eure Melodein!
Durch den Hain
Aus und ein
Schalle heut ein Reim allein:
Die geliebte Müllerin ist mein!
Mein!
Frühling, sind das alle deine Blümelein?
Sonne, hast du keinen hellern Schein?
Ach, so muß ich ganz allein,
Mit dem seligen Worte mein,
Unverstanden in der weiten Schöpfung sein!

Morgengruß
Guten Morgen, schöne Müllerin!
Wo steckst du gleich das Köpfchen hin,
Als wär dir was geschehen?
Verdrießt dich denn mein Gruß so schwer?
Verstört dich denn mein Blick so sehr?
So muß ich wieder gehen.

O laß mich nur von ferne stehn,
Nach deinem lieben Fenster sehn,
Von ferne, ganz von ferne!
Du blondes Köpfchen, komm hervor!
Hervor aus eurem runden Tor,
Ihr blauen Morgensterne!

Ihr schlummertrunknen Äugelein,
Ihr taubetrübten Blümelein,
Was scheuet ihr die Sonne?
Hat es die Nacht so gut gemeint,
Daß ihr euch schließt und bückt und weint
Nach ihrer stillen Wonne?

Nun schüttelt ab der Träume Flor,
Und hebt euch frisch und frei empor
In Gottes hellen Morgen!
Die Lerche wirbelt in der Luft,
Und aus dem tiefen Herzen ruft
Die Liebe Leid und Sorgen.

“Im Blick des Anderen erfahre ich den Anderen als Freiheit, die mich zum Objekt macht.”
J.P. Sartre, Das Sein und das Nichts

Liebe, “romantische” Liebe – Worte, stets in gefährlicher Nähe zum Kitsch. Romantik als Attribut ist uns ohnehin abgesunken in die tiefsten Kloaken der Maklerpoesie und Hotelprospekte. “Romantik Pur” möchte man ergänzen. Bürgerliche Verbrämung der Sexualität; leere Rituale wie Verlobung und Ehe, mit denen der Spießer heute noch den Adel des 18. Jahrhunderts nachahmt. Und schließlich: eine Ehe nach Bürgerlichem Gesetzebuch mit Ehegattensplitting und Steuerklasse III ist vermutlich so ziemlich das Gegenteil dessen, wie sich Menschen in Liebe verbunden sehen wollen.

Die Publizistin Julia Seeliger hat in den letzten zwei Tagen in beispielhafter Weise dialektisch die Begriffe ‘Liebe’, ‘Gender’ und ‘Sex’ herausgearbeitet. Wie bei Sokrates stellt sie am Anfang eine Frage:

“Haben #Piraten eigentlich auch Frauen vorne, die nicht das klassische Frauenbild (@Afelia und @laprintemps) verkörpern? Ich sehe keine”.(*)

Und wie es sich in der Elenktik gehört, bricht ein Sturm los, denn was bitte soll ein “klassisches Frauenbild” sein? etc. etc.

Aber es wäre nur die halbe Mäeutik, hätte die @zeitrafferin nicht auch die Protreptik drauf: In welche Rollenbilder drückt uns die Gesellschaft? Sind Gender und Sex unabhängig? Ist es Biologie? Kulturelle Anpassung? Gibt es Liebe?

“Romantische Liebe ist ja auch Quatsch. Mit dem Argument sollte man zumindest nicht heiraten.”(*)

Was mich dazu bringt, die “romantische Liebe” hier zu würdigen, auch in der Hoffnung, meinen eigenen dialektischen Beitrag zu der Diskussion zu leisten.

Auch wenn es einer Zeit nie gerecht wird, Universalbegriffe wie “Liebe” pauschal mit der ganzen Epoche zu identifizieren, gibt es ein Konstrukt, das kohärent genug ist, als die romantische Liebe bezeichnet zu werden. Ich kenne kein schöneres Bild der romantischen Liebe, als die zwei Gedichtzyklen “Die schöne Müllerin” und “Winterreise” von Wilhelm Müller, berühmt duch die Vertonung von Franz Schubert. (oben zwei Gedichte aus ‘der schönen Müllerin’, unten aus der ‘Winterreise’) Auch wenn die Handlung des einen Liederkreises im Sommer, die andere im Winter spielt, so ist doch der Untertitel der ‘schönen Müllerin’ eine Aufforderung: “Im Winter zu lesen”. Beide Liederkreise handeln von der Liebe, von unterschiedlicher Sichtweise aus betrachtet, aber gleichermaßen düster und winterlich.

Der junge Müllergeselle in der ‘schönen Müllerin’ verliebt sich in die Tochter des Müllers. Aber es bleibt eine einseitige Liebe – die Müllerstochter ist lediglich das Objekt seiner Zuneigung. Zunächst liest er ihr ganzes Verhalten als Erwiderung; die deutlichen Zeichen der Abwendung und Genervtheit der Müllerstochter schiebt er darauf, dass sie vielleicht unausgeschlafen sei. “Die geliebte Müllerin ist mein! Mein!” Erst als es nicht mehr zu leugnen ist, dass die Angebetete vielleicht doch einen eigenen Willen besitzt und sich schon längst mit dem Jäger verlobt hat, wird dem Müllergesellen sein Scheitern bewusst – er geht.

In der ‘Winterreise’ erleben wir das krasse Gegenteil. Der Mann verlässt seine Geliebte und geht. Die Erzählung hier ist stärker symbolisch, so dass sofort klar wird: der haut nicht einfach ab. Hört man die Lieder der Winterreise bis zu Ende ist deutlich, es geht um den endgültigen Abschied, den Tod. “Will dich im Traum nicht stören, wär’ schad’ um deine Ruh'” – sie wird erwachen und ihn niemals wiedersehen. Um diesem tief traurigen und hoffnungslosen Abschied seine Tragik zu geben, wechselt die Tonart an dieser Stelle in Dur.

Bei der ‘schönen Müllerin’ ist die Geliebte ein Objekt, bis sie sich befreit, indem sie selbst einen anderen Partner wählt. Bei der ‘Winterreise’ endet der gemeinsame Sommer der Liebenden, der Liebende geht, die Liebende bleibt alleine zurrück.

In der Liebe sind wir – wie bei Sartre (s.o.) – Objekt oder machen den anderen zum Objekt. Die ‘schöne Müllerin’ und die ‘Winterreise’ illustrieren genau diese beiden Situationen. Romantische Liebe ist ganz beim Einzelnen. Jeder mag sie für sich fühlen, aber er bleibt für sich. Die Sehnsucht, durch Liebe die Einzelnheit zu überwinden ist die blaue Blume der Romantik.

Tod der Atala
Gute Nacht
Fremd bin ich eingezogen,
Fremd zieh ich wieder aus.
Der Mai war mir gewogen
Mit manchem Blumenstrauß.
Das Mädchen sprach von Liebe,
Die Mutter gar von Eh’ –
Nun ist die Welt so trübe,
Der Weg gehüllt in Schnee.

Ich kann zu meiner Reisen
Nicht wählen mit der Zeit:
Muß selbst den Weg mir weisen
In dieser Dunkelheit.
Es zieht ein Mondenschatten
Als mein Gefährte mit,
Und auf den weißen Matten
Such ich des Wildes Tritt.

Was soll ich länger weilen,
Daß man mich trieb’ hinaus?
Laß irre Hunde heulen
Vor ihres Herren Haus!
Die Liebe liebt das Wandern,
Gott hat sie so gemacht –
Von einem zu dem andern –
Fein Liebchen, gute Nacht!

Will dich im Traum nicht stören,
Wär’ schad’ um deine Ruh’,
Sollst meinen Tritt nicht hören –
Sacht, sacht die Türe zu!
Ich schreibe nur im Gehen
An’s Tor dir gute Nacht,
Damit du mögest sehen,
Ich hab’ an dich gedacht.

Nicht von ungefähr erwächst auf dem Höhepunkt der Romantik eine ganze Philosophie des Einzelnen, der anarchische Egoismus. Alle Wahrheit bleibt meine Wahrheit, genau wie alle Liebe in mir entsteht.

“Den Mittelpunkt der moralischen Freiheit bildet, wie wir sehen, die Pflicht der – Liebe. […] In der Liebe bestimmt sich der Mensch, gibt sich ein gewisses Gepräge, wird zum Schöpfer seiner selbst. Allein er thut das Alles um eines Andern, nicht um seinetwillen.”

schreibt Max Stirner. Auch wenn wir einzeln lieben, fühlen wir über unsere Handlungen mit dem anderen verbunden. Im Gegensatz zu jeder Form gemeinsamen oder kollektiven Erlebens, präsentiert sich allderdings jeder Einzelne selbst und wird nicht in der Liebe des Anderen zu ihm hin repräsentiert. Es bleibt bei der Zählung-als-Eins und es findet keine Vermassung der Liebenden (z.B. als Paar) statt. In der direkten Nachfolge Max Stirners haben Marx und Engels schließlich die Liebe als herrschaftliches Konstrukt entlarvt, das überwunden werden wird: “Je weiter also die Zivilisation fortschreitet, je mehr ist sie genötigt, die von ihr mit Notwendigkeit geschaffnen Übelstände mit dem Mantel der Liebe zu bedecken, sie zu beschönigen oder wegzuleugnen, kurz eine konventionelle Heuchelei einzuführen, die weder früheren Gesellschaftsformen noch selbst den ersten Stufen der Zivilisation bekannt war und die zuletzt in der Behauptung gipfelt.” (Engels, “Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats”)

Thomas von Aquin breitet in seiner Summa Theologica aus, wie der Glaube sich nicht erzwingen lässt, sondern aus dem Inneren des Gläubigen kommen muss. Glaube ist nach Thomas eine rein mystische Erfahrung. Das führt Meister Eckhart weiter, wenn er uns predigt, dass immer, wenn ein Mensch zum Glauben bereit sei, sich Gott unweigerlich in ihn ergieße, um ihn zu erfüllen. Es bedarf dazu keiner weiteren (religiösen) Handlungen. Wie Thomas und Eckhart den Glauben mystisch sich in den Menschen ergießend sehen, so kann auch die romantische Liebe nur mystisch erfahren werden. Sie ergießt sich ebenfalls unwillkürlich in den Menschen, der für sie bereit ist.

In der Romantik wird dieses unwillkürliche Sichverlieben zu einem der großen Themen (daher kommt dann auch das Bild von der “romantische Liebe” als getrieben, von Innen kommend, im Gegensatz etwa zur höfischen Liebe des Mittelalters oder der Barockzeit). Aber die Liebe wird dabei aber nicht verklärt, wie man sich das heute in der verkitschten Version romantischer Literaturverfilmungen vorstellen mag.

Ein schönes Beispiel solcher unverklärter, fast satirisch dargestellter, romantischer Liebe gibt Alexander S. Puschkin in seinem großartigen Versroman Efgenij Onegin. Tatjana, die Tochter eines Provinz-Adeligen lernt den Petersburger Fürsten Onegin kennen, der sich (wie Puschkin seinerzeit selbst) ins Exil aufs Land geflüchtet hat. Schon ihr Name kennzeichnet die junge Tatjana als ‘gewöhnlich’ und unbeholfen. Und unsterblich verliebt sie sich in Efgenij, den sie sich, ganz unreif und unerfahren, aus seiner Höflichkeit und Galanterie als liebenswerten Menschen erträumt – wo er in der Tat aber ein лишний человек, ein sinnloser Mensch ist, ein Lebemann und Zyniker, der alle verletzt, die mit ihm zu schaffen haben. Aber letztlich kann man Onegin keinen Vorwurf machen – er hat hatte Tatjana nicht um ihre Liebe gebeten. Das Tragische des Einzelnen, der von Liebe erfüllt, doch keinen Weg zum Herz des Objekts seiner Liebe finden kann.

Die romantische Liebe ist mystisch, man kann sich nicht durch Vernunft vor ihr schützen. Alle Reflektion über Gender und kulturelle Prägung helfen nicht, wenn sich ein Mensch in einen anderen verliebt. Daher bleibt alle Genderkritik wirkungslos, solange wir Menschen eben in diesen Körpern unser vereinzeltes Dasein fristen.

Erst die Utopie des Post Gender verheißt uns Erlösung. Wenn wir dereinst unsere menschliche Existenz überwinden und uns durch genetische Ingenieurskunst, biochemische Medikation oder Upload in die Matrix in die Nou-Späre verabschiedet haben werden, wird es vermutlich auch keine mystische, romantische Liebe mehr geben.

Bis die Singularität uns befreit, müssen wir aber wohl noch ein wenig warten.

Die Liebe ist doch eine kulturelle Sache, #Postgender ey!

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Schmerzlich vermisst: die Meta-Ebene im Wulff-Interview

Nein, ich möchte nicht über Christian Wulff und das Amt des Bundespräsidenten sprechen. Seit die ersten Zitate durchsickerten, noch vor Ausstrahlung des Interviews und unabhängig von der Rücktrittsfrage, wurde eines klar: Ab jetzt repräsentiert dieser Bundespräsident und die Auffassung von Politik, die er vertritt, einen Großteil seiner Bürger nicht mehr. Unsere Bundesrepublik ist alt geworden, ohne zu reifen, leider, und sie merkt es nicht. Das ist enttäuschend, aber wir werden damit leben. Wir sollten den Bundespräsidenten Wulff innerlich abhaken und unsere Energien konstruktiver nutzen, meine Meinung hierzu passt in einen Tweet.

Worüber ich aber sprechen will, denn das möchte ich noch nicht kampflos aufgeben, ist die Aufgabe der Journalisten. Da haben die Leiter der öffentlich-rechtlichen Hauptstadtstudios Bettina Schausten und Ulrich Deppendorf diesen Bundespräsidenten vor sich, Abermillionen von Bürgern hängen an ihren Lippen. Sie müssen als Interviewer stellvertretend für diese vielen Menschen und für alle nicht zum Exklusivinterview geladen restlichen Medienvetreter die offenen Fragen stellen, als mediale Repräsentanten sozusagen.

Und was tun sie? Sie lassen sich auf ein unwürdiges Detail-Klein-Klein um Gästezimmer und Zinssätze ein. Sie stellen ihre vorbereiteten Fragen, aber fragen nicht nach, wenn windschiefe Antworten kommen. Sie halten die Steigbügel, anstatt zu hinterfragen. Die Ratlosigkeit darüber, wie es dazu kommen konnte, war sowohl Deppendorf als auch Schausten in ihren anschließenden Auftritten bei Tagenthemen und heute journal anzumerken. Sie sind zu recht unzufrieden mit sich, Frau Schausten und Herr Deppendorf.

Was ist bei dem Interview falsch gelaufen? Im so geführten präsidialen Interview ging es um Details der Spielzüge – es hätte aber um die Frage gehen sollen, ob überhaupt das richtige Spiel gespielt wird. Es geht nicht um vergessene Stiefschwestern, eine schwierige Kindheit, unordentliche Zinsen oder150 € für Gästezimmer. Sondern es geht um die Frage, auf welche Haltung diese Details schließen lassen und auf welches Verständnis von sich selbst, seiner Macht, seinem Amt – und ob das angemessen ist. Wem es als Journalist bei einem solchen Interview nicht gelingt, von den Details auf das Ganze zu schließen, wer es da nicht auf eine Metaebene schafft, wer hier nicht die Systemfrage stellen kann, leistet keine gute Arbeit.

Der Präsident hat sich “sofort nach seiner Rückkehr aus dem Ausland” bei Diekmann entschuldigt: Was heißt “sofort”? Wieviel Tage lagen zwischen der Mailbox und der Entschuldigung? Zwei Tage? Drei? Warum nicht gleich, wenn man den Wutausbruch bereut? Wann hat er Döpfner angerufen, danach? Und Friede Springer, auch danach noch? Kann man das den Präsidenten ohne Nachfrage “unbesonnen” nennen lassen? Oder weist es nicht eher auf eine generelle Haltung hin, auf eine Grundannahme, dass ihm das zusteht?

“Ich bin überrascht, wie stark die Bürger das von mir wissen wollen” – Was meint er damit? Hat er gedacht, dass es Bürgern und Landtag reicht,  juristisch wasserdichte Formulierungen zu hören? Was überrascht ihn daran?

“Es gibt auch Menschenrechte, selbst für Bundespräsidenten”: Wie bitte? Von welchen Menschenrechten spricht er? Hat er das Gefühl, dass bei ihm Menschenrechte verletzt werden? Welche genau? Durch was? Durch Pressefragen?

Man kann solch ein Interview nicht führen, ohne auch spontan auf Aussagen des Interviewten einzugehen. Es reicht nicht, vorüberlegte Fragen abzuarbeiten und mit nichts auf seine Antworten Bezug zu nehmen. Diskursivität, wir sprechen im Manifest davon -, das wäre hier nötig gewesen, damit es zu einem richtigen Interview kommt. Zu einer gesprächsartigen Situation, Zuhören und Nachfragen. Dann wäre es vielleicht nicht nur bei Floskeln und Formeln geblieben, die einen ratlos hinterlassen. Diese Art der Interview-Führung ist kein Ruhmesblatt für den Journalismus. Auch sie ist alt, ohne weise zu sein.

 

[Abbildung: Screenshot des Interviews. Blicke auf vorbereiteten Fragekatalog]

 

 

 

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Datenhöflichkeit

Hinrichtung Ludwigs XVI
Der Hof Ludwigs XVI. gilt als Extase der Höflichkeit. Esprit, der Witz und das höfische Auftreten waren in nie wieder erreichtem Maße übertrieben worden. Das Ende: der Terror – die unhöflichste aller möglichen Formen menschlichen Zusammenlebens

“Privacy invasion is now one of our biggest knowledge industries.”
“The more the data banks record about us, the less we exist.”

Marshall McLuhan

“Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.”
Immanuel Kant

“Being socially exposed is OK when you hold a lot of privilege, when people cannot hold meaningful power over you, or when you can route around such efforts. Such is the life of most of the tech geeks living in Silicon Valley. But I spend all of my time with teenagers, one of the most vulnerable populations because of their lack of agency (let alone rights). […] The odd thing about forced exposure is that it creates a scenario where everyone is a potential celebrity, forced into approaching every public interaction with the imagined costs of all future interpretations of that ephemeral situation. “

Diese Sorge teile ich voll und ganz mit danah boyd. Üblicher Weise wird den Kindern und Jugendlichen geraten, sich “vor den Gefahren des Internet” in Acht zu nehmen. Aber was heißt das? Sollen sie sich vom Austausch mit anderen auf Facebook fernhalten? Und wie sollte ein Jugendlicher seinen Altersgenossen oder Freunden verbieten, Fotos zu posten, auf denen er vielleicht zu sehen wäre? (Die Option, ungewollte Fotos über die Eltern “klären zu lassen” besteht im wahren Leben nicht wirklich – von krassen Verunglimpfungen oder Mobbing vielleicht abgesehen).

Wir haben keine Wahl. Entweder wir gelten als Sonderlinge, gar als Ludditen, oder wir werden einen breite Spur von Daten in der Welt zurücklassen. Mit der Zeit entsteht durch unser Verhalten im Netz ein Abbild unserer selbst, eine Projektion in die Datenwelt. Dieses Bild von uns liegt mehr oder weniger offen zu Tage. Und viele heimliche bis unheimliche Gesellen blicken uns im geheimen durch den Spiegel der Daten in unser Leben – Google, Facebook, Targetingsysteme und Shop-Empfehlungsmaschinen und schließlich auch die staatlichen Sicherheitsdienste, die hinter den Datengardinen auf unsere Verfehlungen lauern.

Aber die Indiskretion ist nicht auf professionelle Datenkraken beschränkt. Die Profile mit unseren persönlichen Informationen, unsere Posts, unsere Check-Ins – alles kann sich jeder, der möchte, ansehen. Und zum Teil wollen wir das ja auch: selbstverständlich freue ich mich über Leute, die mir auf Twitter folgen und ich habe einige meiner besten Freunde in Social Networks kennengelernt. Social Media funktionieren über Authentizität – diese Phrase ist schon so oft gesagt und geschrieben worden, dass sie vollkommen schal daherkommt! Aber es stimmt: wenn wir nicht offen sind, tatsächlich über uns selbst sprechen, werden wir kaum Kontakt zu anderen schließen. Es ist Teil der Kultur in Social Media (wie auch sonst im sozialen Leben), Dinge über uns preiszugeben, obwohl diese von anderen auch gegen uns verwendet werden könnten. Ich habe zum Beispiel zwischen Weihnachten und Neujahr an mindestens fünf Tagen über Wein (seltener Bier oder andere alkoholische Getränke) geschrieben. Natürlich möchte ich, dass Leute, die sich für mich interessieren, dies auch lesen können, wenn sie wollen. Wie wäre es aber, wenn jemand einen “Jörg trinkt”-Bot einrichten würde, der eine Statistik über meine Wein-Tweets führt uns publik macht? Aus dem Kontext gerissen würden meine Wein-Tweets ein ganz und gar ungünstiges Bild von mir zeichnen. (Das Beispiel verdanke ich Benedikt).

Nach meiner persönlichen Erfahrung ist der Schaden, sind die Kränkungen, die durch “manuellen” Datenzugriff an uns entstehen wesentlich schwerwiegender, als das professionelle Analysieren der Daten-Kraken zu kommerziellen Zwecken. Und während bei diesen sich Datenschutz und Persönlichkeitsrechte juristisch fassen und häufig, z.B. via ‘Unlauterer Wettbewerb’ sogar durchsetzen lassen, sind Übergriffe auf Daten durch Einzelne kaum sinnvoll durch Gesetze zu regeln. Wo fängt der Stalker an, wo die Beleidigung oder üble Nachrede? Und schon gar nicht gut ist es, wenn das Opfer sich wehren muss – der ‘Streisand-Effekt’, Hohn und Spott über jemand der eben ‘die Regeln nicht versteht’ und so dumm ist, sich auch noch zu widersetzen.

“Es haben ja eh schon xyz viele Leute gesehen, also mache ich es mal ganz öffentlich ist nunja, ein blödes Argument.”

twittert Sylvia Poßenau und das klingt fast wie die Übersetzung des Kernsatzes aus danah boyds Essay:

“Just because people can profile, stereotype, and label people doesn’t mean that they should.”

Aber was soll/darf “man” mit den Daten? Wo ist die Grenze?
Die Antwort liefert Sylvia Poßenau gleich mit: Datenhöflichkeit.

Höflichkeit ist eine kulturelle Technik, um Distanz zu wahren. Wir sind höflich, um unseren Abstand zu anderen zu organisieren und ihnen nicht zu nahe zu kommen.Höflich ist man durch Einhalten von Grenzen, die nicht durch Gesetze oder anders verschriftlichte Regeln definiert sind, sondern durch ein Verständnis, durch Achtung und Respekt dem anderen gegenüber. Höflichkeit ist der Esprit de Conduite, der gute Geist des Verhaltens. Was in Antike und Mittelalter als religiöse oder untertänige Pflicht erklärt wurde, erlebt in der Aufklärung seine philosophische Entfaltung. War dieser Esprit am Hofe Ludwigs XIV. noch Teil der Machtausübung des erstarkenden Königs gegen die schwächer werdenden Fürsten, wird er nach der französischen Revolution zu einem bürgerlichen Gut. Und die Maximen zum guten Handeln, die Kant für die Menschenwürde formuliert, werden schließlich von Adolph von Knigge in seinem Ratgeber “Über den Umgang mit Menschen” zu Handlungsempfehlungen für den Alltag.

Noch vor der Erfindung des Web hatte die Community der ersten User im Internet die Netiquette formuliert. “When someone makes a mistake – whether it’s a spelling error or a spelling flame, a stupid question or an unnecessarily long answer – be kind about it.” – Höflichkeit ist schon damals, neben den Ratschlägen zur technischen Klarheit – das Thema gewesen.

“Gar zu leicht missbrauchen oder vernachlässigen uns die Menschen, sobald wir mit ihnen in einem vollkommen vertraulichen Tone verkehren. Um angenehm zu leben, muss man fast immer als ein Fremder unter den Leuten erscheinen.” warnt Knigge. Und auch sonst scheinen mir die Kultur der Höflichkeit des 19. Jahrhunderts für unsere Epoche der Post-Privacy durchaus angemessen. Höflichkeit ist Kultur. Kultiviert bedeutet gepflegt. Es ist wirklich Zeit für einen pfleglichen Umgang mit unseren Daten, die doch so eng mit uns persönlich zusammenhängen. Zeit für Datenhöflichkeit.