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Eine Milliarde Smartphones

Vor ein paar Jahren bin ich auf einer Veranstaltung dem finnischen Politiker Esko Aha begegnet, damals Berater für den bereits ins Trudeln geratenen Nokia-Konzern. Aha erklärte, was er als den philosophischen – oder wie man in der martialischen Business-Sprache sagen würde strategischen Fehler von Nokia erkannt zu haben glaubte: “We have 4.4 billion mobile phones today, but what Nokia claims is still just ‘Connecting People’ – exactly what the telephone companies had been doing the one hundred years before.” Einfach nur um sich fernmündlich zu verbinden ist also nicht mehr, wozu sich Menschen ein Telefon kaufen.

Männer die auf Smartphones starren
(Photo von @toshiyori)

Mehr als eine Milliarde Smartphones sind heute aktiv. Diese Zahl alleine gibt der Einschätzung von Aha eindrucksvoll recht.

Das Smartphone ist unser Tricorder, es ist der Universal-Sensor, mit dem wir alle möglichen Umwelt-Daten empfangen, verarbeiten und mit “dem Netz” telemetrisch teilen: Karten sind das auffälligste Beispiel – nicht nur geben sie uns Orientierung im Raum, wir senden sie auch aus, unter anderem an Location Based Services wie Foursquare, wo sie, zusammen mit den Daten anderer Menschen, eine Meta-Ebene über die Welt legen, in der alle möglichichen Informationen daraus entstehen – über Restaurantbewertungen bis zu Staumeldungen. Egal ob wir eine Vorstellung davon haben, wo wir uns befinden, wir können ein Taxi rufen, wir können uns Fahrpläne für den öffentlichen Nahverkehr zusammenstellen oder uns den Fußweg anweisen lassen, der uns zu unserem Ziel führt. In vielen Teilen der Welt (bei uns nicht; wir sind, was Mobile Internet betrifft, bereits weit hinter anderen Ländern zurückgefallen) ist das Smartphone auch das wichtigste bargeldlose Zahlungsmittel – es ist nicht nur viel sicherer, als Kreditkarten, man behält auch in Echt-Zeit die Kostenkontrolle, da man stets den aktuellen Stand der Zahlungen abrufen kann.

Das Smartphone ist aber vor allem auch eine Art Brille, mit der wir in die ansonsten unsichtbaren Dimensionen blicken können, die das Internet um uns aufspannt, in Datenwolken, die uns wie eine Aura umgeben.

Was wir mit Smartphones machen, ist genau, was Pierre Teilhard de Chardin im 20. Jahrhundert vorhergesehen hat. Der jesuitische Anthropologe hatte während seiner archäologischen Ausgrabungsarbeiten und der Beschäftigung mit vergangenen Kulturen festgestellt, wie stark Gesellschaften durch ihre Technologien geprägt und verändert werden. Er hatte daraus den Gedanken entwickelt, dass unsere Werkzeuge evolutionär Teil unseres Körpers werden – Kleider werden uns eine zweite Haut, der Faustkeil erweitert unsere Fingernägel und unsere Zähne, das Feuer, mit dem wir unser Essen kochen, wird untrennbarer Teil unserer Verdauung.

Für Teilhard war allerdings klar, dass die Evolution nicht in der Vergangenheit geendet hatte. Er stellte sich die Frage, inwieweit Fernverkehr über Eisenbahn und Flugzeug und vor allem elektronische Nachrichtenübertragung über Funk und Kabel uns verändern werden. Er schloss, dass elektronische Nachrichtenmedien schon bald eine Erweiterung unseres Nervensystems bilden werden, schließlich sogar unseres Gehirns. Aus der ständigen, elektronischen Verbindung der Menschen, überall auf der Welt, würde sich, so Teilhard, eine Art globales Bewusstsein entwickeln, die Nou-Sphäre.

Eine Milliarde Smartphones bedeutet aber vor allem: die zweite Milliarde der Nutzer des Mobile Internet wird nicht mehr aus den satten Industriegesellschaften erwachsen. Schon heute hat West-Afrika die höchsten Wachstumsraten im Telekommunikationssektor. Millionen von Menschen in Ghana oder Nigeria sind in den letzten Monaten über ihr Phone online gegangen.

Damit ist eines völlig klar: dien nächste Milliarde Smartphones werden keine iphones oder andere 600$-Gadgets sein. Billig-Smartphones werden vielleicht schon bald der größte Markt, die größte Industrie der Welt werden. Falls Android für diesen Markt weiterhin das Betriebssystem der Wahl bleibt, wird Googles Rolle als weltweite Achse für Daten und Analysen auf lange Zeit fundamentiert.

Die Smartphone-Revolution wird aber vielleicht noch etwas anderes erreichen: auf der ganzen Welt werden Menschen Zugang zu Bildung, zu Büchern, zu Informationen erhalten. Selbst wenn dieser Zugang durch Zensur-Infrastruktur beschränkt ist, wird die Verfügbarkeit von Wissen und Nachrichten einen gewaltigen Effekt auf die Menschen und ihre Gesellschaften haben. Vielleicht werden die Smartphones auf diese Weise schaffen, was der Internet-Vordenker Nicolas Negroponte mit seinem Projekt One Laptop per Child erreichen wollte – allerdings nicht Top-Down, nicht durch eine Organisation, sondern per Grassroots, durch die einzelnen Menschen, die sich vernetzen.

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Abrahams Opfer

“Ein jeder muß ein inneres Heiligthum haben dem er schwört, und wie jener Fahnenjunker sich als Opfer in ihm unsterblich machen – denn Unsterblichkeit muß das Ziel sein.”
Bettina von Arnim, Die Günderode

Have you suffered, starved and triumphed,
groveled down, yet grasped at glory,
Grown bigger in the bigness of the whole?
“Done things” just for the doing, letting babblers tell the story,
Seeing through the nice veneer the naked soul?
Have you seen God in His splendors,
heard the text that nature renders?
(You’ll never hear it in the family pew).
The simple things, the true things, the silent men who do things —
Then listen to the Wild — it’s calling you.

Robert Service, Call of the Wild

***

Da preist man uns das Leben großer Geister
Das lebt mit einem Buch und nichts im Magen
In eine, Hütte, daran Ratten nagen.
Mir bleibe man vom Leib mit solchem Kleister!
Das simple Leben lebe, wer da mag !
Ich habe (unter uns) genug davon,
Kein Vögelchen von hier bis Babylon
Vertrüge diese Kost nur einen Tag.
Was, hilft da Freiheit? Es ist nicht bequem
Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.

Die Abenteurer mit dem kühnen Wesen
Und ihrer Gier die Haut zu Markt zu tragen
Die stets so frei sind und die Wahrheit sagen
Damit die Spießer etwas Kühnes lesen:
Wenn man sie sieht, wie das am Abend friert
Mit kalter Gattin stumm zu Bette geht
Und horcht, ob niemand klatscht und nichts versteht
Und trostlos in das Jahr 5000 stiert.
Jetzt frag ich Sie nur noch: Ist das bequem?
Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!

Ich selber könnte mich durchaus begreifen
Doch sah ich solche Leute aus der Nähe
Da sagt ich mir: Das mußt du dir verkneifen
Armut bringt außer Weisheit auch Verdruß
Und Kühnheit außer Ruhm auch bittre Mühen.
Jetzt warst du arm und einsam, weis’ und kühn
Jetzt machst du mit der Größe aber Schluß.
Dann löst sich ganz von selbst das Glückspro-
Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!

Bertold Brecht, Dreigroschenoper

Das Wort Opfer bezeichnet im Deutschen zweierlei: zum einen ist es jemand, dem ein Schaden entsteht – ein Verbrechensopfer oder ein Unfallopfer, zum anderen bedeutet es eine Rituelle Darbringung vor den Göttern, die Opfergabe. Im Lateinischen heißt der erste Begriff Victima, der zweite Sacrificium. Die Trennung Victim und Sacrifice hat sich in vielen Sprachen erhalten. Im Englischen gibt es für das Unglücksopfer sogar ein weiteres Wort: Casualty. Völlig unabhänig sind die Begriffe aber in ihrer heutigen Bedeutung nicht. Wer sich opfert, zieht häufig auch andere in Mitleidenschaft, macht sie zu Opfern.

Die biblische Erzählung von Abraham, dem Erzvater der Juden, Christen und Muslime, ist der Archetyp eines solchen doppelbödigen Opfers – der Vater, der aus seiner sicht das Wertvollste opfert, das er besitzt und dabei aber seinem Sohn das ultimative Opfer abverlangt. Die Bedingungslosigkeit, mit der Abraham sein Ziel verfolgt paart sich mit der Rücksichtslosigkeit auf die Ziele seiner nächsten. Und nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang, dass im hebräischen Bibeltext die Anweisung Gottes an Abraham eine alternative Übersetzung zulässt. Der Imperativ וְ/הַעֲלֵ֤/הוּ kann nämlich sowohl “bring ihn dar” als auch “lasse ihn darbringen” bedeuten. Das Sacrifice Humain ist seit Abrahams Zeiten zwar meist metaphorisch zu nehmen, das Unglück, dass uns Opfer abverlangen, kann dennoch beträchtlich sein. (Es ist ja genaugenommen schon das zweite “Opfer” – zuvor hatte Abraham schließlich seine Zweitfrau Hagar nebst seinem eigentlich erstgeborenen Sohn Ismael in die Wüste geschickt …)

Die moderne Form des Opfers ist die Zielstrebigkeit, der Ehrgeiz. Ernest Shackleton kann mit seiner entbehrungsreichen Reise in die Antarktis sicher als gutes Beispiel dessen gelten, was Brecht in seiner “Ballade vom angenehmen Leben” aus der Dreigroschen Oper besingt: ein Abenteurer mit dem kühnen Wesen … Das männliche Rollenbild in unserer Kultur favorisiert dieses Opfer für ein höheres Ziel. Anders, als das hingebungsvolle “Aufopfern”, das (wie alle Eltern bestätigen können) untrennbar mit der Familie verbunden ist, opfern richtige Männer sich mit großer Geste, für die Nachwelt, für das Volk oder die Gesellschaft. Ob bei der Fahrt zum Südpol oder dem Last Stand an der Front. Während Mann sich selbst dem höheren Zweck als Opfer darbringt, gibt es in der Regel links und rechts daneben jede Menge weiterer Opfer dieses Heldentums – diesmal aber im Sinne der Casualties. Shackelton ist schließlich nicht alleine zum Südpol gefahren. Und seine Familie hatte der Abenteurer einfach zuhause zurückgelassen.

Der Preis, den andere für unser Opfer zahlen, ist oft höher, als das, was wir selbst bereit sind, in den Opferstock zu werfen. Und dabei erwarten wir solche doppelten Opfer heute nicht nur von den Männern. Wenn Frauen “mitspielen” wollen, müssen auch sie bereit sein, nicht nur hart gegen sich selbst zu handeln, sondern auch ihrer Familie gegenüber. Welche Werte vertreten Menschen, die ihr eigenes Streben über das Glück von Anderen stellen?

“Wenn wir im Schlaf, den Ruhm nicht spüren, sollten wir ihn dann im Tode fühlen, der ein ewiger Schlaf ist? […] Heute sterben wir und morgen spricht kein Mensch mehr von uns. […] Und du hast soviel erduldet, bist selbst dem Tod nicht ausgewichen und glaubst nun hoffnungsvoll, dass die Menschen von dir reden werden? Sag mir doch, wer der fünfte, vierte, dritte römische Kaiser war! Frage den Mann auf der Straße! Nicht einmal vom vorletzten kann er den Namen sagen; und wenn wirklch einer von zehntausend es weiß, wird er sich daran wie ein Träumer an etwas erinnern, woran er sonst nie denkt.”
Lorenzo Valla, Vom wahren und falschen Guten

Es ist kein höheres Gut, als Freundschaft, schreibt Cicero über den Kern der Lehre Epikurs. Und wie Valla in seiner humanistischen Philosophie des Hedonismus ausführt, ist Schönheit und Glück gleichbedeutend mit Ehre und Würde und nur eine Täuschung bringt uns dazu, die Begriffe nicht zu identifizieren.

Latenter esse vivendum – Man soll im Verborgenen leben – ist die von Plutarch überlieferte Regel des Epikur für ein glückliches, gutes Leben. Also Schluss mit Karriere, dem Kandidieren für Ämter, dem Streben nach einem politischen Mandat.

“So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen. Lass deine Kleider immer weiß sein und lass deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit deiner Frau, die du lieb hast, solange du das eitle Leben hast. “(Pred. 9, 7ff). “Denn wer noch bei den Lebenden weilt, der hat Hoffnung; denn ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe.” (Pred 9,4)

Weiter lesen:
Kohelet – Zeit und Glück

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Die Kulturindustrie

Albion Flour Mills
“Dark satanic mills” – so schildert Wiliam Blake in seiner wunderschönen Hymne ‘Jerusalem’ die Industrie am Ende des 18. Jahrhunderts heraufziehen, die teuflischen Mühlen einer Industrie, in der alles zur Ware wird.

“Die Kapitalkraft der Verlage, die Verbreitung durch Rundfunk und vor allem der Tonfilm bilden eine Tendenz zur Zentralisierung aus, die die Freiheit der Wahl einschränkt und weithin eigentliche Konkurrenz kaum zuläßt.”

Was Adorno in seiner Schrift “Über Jazz” 1936 beklagt, klingt wie ein Rant eines Netzaktivisten gegen die sogenannte Content-Mafia von heute.

Aber die Perspektive hat sich umgekehrt. Adorno sieht mit Entsetzen, wie Kunst und Kultur zur Industrie verkommen. Wir heute erleben eben diese Kulturindustrie im Abwehrkampf gegen einen kulturellen Wandel, der die Gewissheiten geistiger Wertschöpfung des 20. Jahrhunderts einfach wegzuwischen scheint.

Wenn wir ACTA, SOPA, PIPA und all die anderen Gesetzes-Monster verstehen wollen, hilft es, sich zu vergegenwärtigen, wie jene Content-Industrie entstanden ist.

“Die Rolle der Musik im gesellschaftlichen Prozess ist ausschließlich die der Ware; ihr Wert der des Marktes. Sie dient nicht mehr dem unmittelbaren Bedürfnis und Gebrauch, sondern fügt sich mit allen anderen Gütern dem Zwang des Tausches um abstrakte Einheiten und ordnet mit ihrem Gebrauchswert, wo immer er übrig sein mag, dem Tauschzwang sich unter” (Adorno, “Zur Gesellschaftlichen Lage der Musik”)

Kunst, kulturelles Schaffen, ebenso wie Erfindungen und wissenschaftliche Erkenntnis verändern ihren Charakter ab dem Ende des 18. Jahrhunderts grundlegend. Die “Schöpfer” geistiger/kultureller Werke werden zunehmend nicht mehr wie Handwerker nach Stunden oder anderen Aufwänden bezahlt, sondern danach, welchen monetären Wert ihrem Werk durch einen Markt beigemessen wird.

Damit reihen sich geistige Werke in die Welt der Waren ein, die in einer modernen Gesellschaft eben nicht nach ihrem Gebrauchswert gehandelt werden, sondern nach einem abstrakten Tauschwert – sprich einem Kaufpreis in Geld, der nur noch lose, wenn überhaupt mit ihrem Gebrauch verbunden ist:

Seine Ware hat für ihn keinen unmittelbaren Gebrauchswert. Sonst führte er sie nicht zu Markt. Sie hat Gebrauchswert für andre. Für ihn hat sie unmittelbar nur den Gebrauchswert, Träger von Tauschwert und so Tauschmittel zu sein.

Dies sind die Grundgedanken wie sie Karl Marx in seinem Buch “Das Kapital” entfaltet, auf die sich Walter Benjamin und Adorno in ihren Überlegungen über die Kulturindustrie beziehen.

Ich will hier nicht in ein Gejammer über die böse Kulturindustrie verfallen; die pessimistische Einstellung der Frankfurter Schule zu Film und Musik kann ich nicht teilen: viel zu viele Hollywood-Filme sind großartige Kunstwerke, viele TV-Serien sind nicht zum Schlechteren ein fester Bestandteil unserer Kultur geworden und jede Menge Popmusik gehört zum kulturellen Erbe unserer Epoche (vom Jazz, den Adorno so inbrünstig gedisst hat, mal ganz abgesehen).

Es geht mir um etwas ganz anderes: in dem Augenblick, in dem geistige Werke zur Ware werden, unterliegen sie selbstverständlich den Gesetzen des Handels. Sowohl ganz pragmatisch – es gibt Packaging, Werbung, Sales, Promotion etc., als auch juristisch, d. h. Kaufverträge, Lizenzen, Honorare u.s.w.

Meiner Ansicht nach ändern sich gerade entscheidende Parameter. Das Konstrukt “Kulturindustrie” löst sich auf. Neben den Markt, die Ware treten durch die Netzkultur neue Formen kreativen Schaffens. Ein paar der Dinge, die irgendwie nicht mehr passen, habe ich im Folgenden zusammengefasst:

1. Der “Schöpfer-Künstler” verliert seine schützenswerte Stellung

Durch das Netz wird transparent, wie hoch der Riese ist, auf dessen Schultern jede geistige Neu-Schöpfung steht. Da eine relevante “Schöpfungshöhe” aber das Kriterium ist, nachdem in unseren Rechtssystemen einem Urheber die Rechte an “seinem” Werk eingeräumt werden, bedeutet dieser Verlust, dass immer weniger Werke dem Commonsense nach überhaupt schutzfähig sind. Die absurdesten Beispiele sind sicherlich generische Stock-Fotos. Bekannt ist der Fall einer Familie, die dafür abgemahnt wurde, aus Google ein völlig beliebiges Bild eines Teeglases in einen Post auf ihrem Urlaubs-Blog eingebaut zu haben.
(Über diesen Punkt habe ich schon öfter geschrieben: “Das Ende der Geschichte für Kreativ-Berufe”).

2. Es gibt kein Original mehr

Digitale Dokumente sind beliebig ohne technischen Verlust reproduzierbar. Da braucht man gar nicht anfangen vom “Verlust der Aura” zu lamentieren. Eine Sache, die sich beliebig vervielfältigen lässt, nicht zu vervielfältigen ist für den gesunden Menschenverstand schwierig zu begreifen. Selbst wenn wir vernunftmäßig einsehen, dass es nicht rechtens ist, behaupte ich, niemand fühlt so. Dennoch hängt in fast allen Vermarktungsmodellen der Preis, den man zahlen muss, an einem materiellen Exemplar des Werkes und damit dieses Prinzip nicht verändert werden muss, wird Digital Rights Management eingeführt, durch das die Möglichkeit, das Werk zu kopierten irgendwie eingeschränkt werden soll.

3. Es gibt keine un-kommerzielle Nutzung mehr

Anders als im 20. Jahrhundert, wo Veröffentlichung eng mit dem Besitz von Produktionsmitteln wie Druckereinen oder Rundfunksendern verbunden war, ist heute jeder ein Publisher.

Um ein Foto aus einer Zeitschrift für später aufzubewahren, zu sammeln, hätte man die Seite herausgerissen und in eine Schachtel gelegt oder in einen Ordner abgeheftet. Heute nimmt man einen Link auf den Inhalt und platziert ihn auf einer Website, einem Post oder Tweet. Je nachdem, ob der, hinter dem Link liegende Inhalt nun im Browser der Betrachter direkt angezeigt wird, oder ob es sich nur um die URL in Form von Text handelt, kann der Betreiber der Seite wegen Urheberrechtsverletzung belangt werden, oder nicht.

Und der Übergang zwischen eindeutig privaten Seiten mit ganz eingeschränkter Nutzung zu 100% kommerziellen Angeboten ist vollkommen fließend. Dieser Blog, z.B. trägt keine Werbung. Dennoch wäre es absurd, ihn nicht als publizistisch oder gar kommerziell zu bewerten. Ein Kriterium, “private, nicht-kommerzielle Nutzung” einzuräumen, ist also überhaupt nicht trennscharf.

4. Wirtschaftliche Interessen (sind noch keine Verschwörungstheorie!)

Ja, und zum Schluss gibt es natürlich tatsächlich auch handfeste wirtschaftliche Überlegungen, für ACTA, PITA, SOPA etc. Natürlich ist Wikipedia eine Konkurrenz und es ist vollkommen nachvollziehbar, dass Verlage, die bisher gutes Geld mit vergleichbaren Produkten verdient haben, jetzt alles daran setzen, der kaufmännisch unbesiegbaren Konkurrenz den garaus zu machen. Und das ist nur das prominenteste Beispiel.

All das bleibt sicher nicht ohne Folge für die Produktion geistiger Werke. Fragt man sich aber, wer hier den Kürzeren zieht, so bin ich mir bei einem sicher:

Die bildenden Künstler, die tatsächlich jemals für ihre Werke – im Sinne von Marx oder Adorno – einen Marktwert erzielen konnten, machen weniger als ein Prozent der Menschen aus, die für sich zu Recht in Anspruch nehmen können, Künstler zu sein, z. B. weil sie Kunst an einer Akademie studiert haben oder regelmäßig in professionellen Galerien oder öffentlichen Kunstausstellungen gezeigt werden. In anderen Kreativ-Berufen ist es, meiner Einschätzung nach, nicht besser.

Weiter zum Thema:

Ende der Geschichte – für Kreativ-Berufe
Die Moderne ist unsere Antike
Non-Commodity-Production
Urheberrecht, Kulturproduktion und Grundeinkommen

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Sturmgeschütze und vierte Gewalt

Am 20. November 1925 endete in München ein Gerichtsverfahren, das in die Geschichte als “Der Dolchstoßprozess” eingehen sollte. Anlass war eine Beleidigungsklage des sozialistisch gesinnten Verlegers Martin Gruber gegen den konservativen herausgeber der ‘Süddeutschen Monatshefte’ Paul Cossmann. Cossmann war einer der Meinungsführer einer Hetz-Kampagne, die sich während der Reichstagswahl 1924 auf den Reichspräsidenten Friedrich Ebert fokussierte. Inhalt der Hetze war die sogenannte ‘Dolchstoßlegende’, also die Behauptung, Deutschland sei im Ersten Weltkrieg nicht durch seine Kriegsgegner besiegt worden, sondern der Krieg sei durch die Revolution im eigenen Lande verloren gegangen. Diese Behauptung wurde bereits während des Prozesses in München durch zahlreiche Gutachter widerlegt und vom Gericht auch klar und unmissverständlich als Geschichtsfälschung beurteilt – was leider in der aufgebrachten Stimmung der Weimarer Republik wenig Beachtung fand.

Die Position des Bundespräsidenten wurde im Grundgesetz ganz bewusst viel schwächer gesetzt, als es in der Weimarer Verfassung der Fall war. Dennoch sah sich der Bundestag bereits 1950 gezwungen, den ständigen Attacken gegen den jungen Staat, die sich in Person häufig direkt gegen Bundespräsident Heuss richteten, den eigenen Straftatbestand der “Verunglimpfung des Bundespräsidenten” im §90 StGB entgegen zu setzen.

Es ist viel einfacher, eine Person durch eben persönliche Angriffe zu vernichten, als abstrakte Gebilde wie Verfassungen oder Staatsverträge zu kritisieren. Jede abstrakte Funktion einer repräsentativen Demokratie wird am Ende doch von Menschen ausgeführt, willkommene Opfer. Während also am Anfang der Bundesrepublik das Verhältnis der demokratisch Gesinnten zur Presse noch ambivalent war – zu frisch die Erinnerung an die Verfemungen und die Hetze der Meinungskartelle der Weimarer Zeit – ist diese Skepsis in den Sechziger Jahren einer bewunderndend Verehrung gewichen. Auch wenn 1967 die protestierenden Studenten noch gerufen “Presse – Ne pas avaler!” und die Medien als Gift dargestellt hatten, das man besser nicht schlucken sollte, war durch Enthüllungen wie die Spiegel-Affäre oder den Profumo-Skandal die Presse für die bürgerliche Mehrheit längst mit kritischer Öffentlichkeit gleichgesetzt.

Öffentlichkeit ist nicht dasselbe wie Medien-Öffentlichkeit. Auch wenn Freiheit der Presse im Artikel 5 des Grundgesetzes neben der Freiheit der Meinung, Kunst und Wissenschaft aufgeführt ist, gibt es keine, den Medien von der Verfassung zugewiesene Funktion in der Willensbildung der Demokratie – anders etwa als bei den Parteien. Umso befremdlicher erscheint mir das Selbstverständnis der Verlage, die sich als vierte Gewalt im Staat gleichwertig neben Parlament, Regierung und Gerichten sehen, was tatsächlich jeder Legitimation entbert.

Aus dieser, sich selbst gesetzten Position als quasi konstitutionieller Teil der Demokratie wird auch sofort klar, dass die Presse gegen Angriffe zu schützen ist. In der goldenen Zeit der Printwerbung musste sich dieser Schutz sich im Wesentlichen nur gegen Übergriffe der Staatsmacht richten – der Presseausweis erinnert als Relikt noch heute an dieses Schutzbedürfnis. Aber heute sehen sich die Verleger von ganz anderen Mächten bedroht: da im Internet schließlich jeder zum Publisher werden kann, ist das Meinungsmonopol der Presse ins Wanken geraten. Die Arbeit der Redaktionen wird zunehmend von Algorithmen in Suchmaschinen übernommen – oder noch effektiver, durch Auswahl und Empfehlung der eigenen Freunde in den Social Networks. Die Folgen sind bekannt: enormer Reichweitenverlust und schwindende Relevanz – und damit nicht zuletzt sinkende Werbeeinnahmen.

Als vierte Gewalt fordern die Medien nun einen Bestandsschutz ein. Leistungsschutzrecht, ACTA, SOPA – wie auch immer die Zensurgesetze genannt werden, die die Lobbyisten der Verlage in Brüssel, Berlin oder Washington D.C. auf den Weg gebracht haben, alle dienen demselben Zweck, das Meinungsmonopol der Presse abzusichern, indem Konkurrenz und Kritik aus dem Netz gleichermaßen mundtot gemacht werden soll. Die ““Sturmgeschütze der Demokratie” – das ist der mustergültige Jargon der Eigentlichkeit – es geht um Angriff, um Krieg, um Kampagne. Vor Medien, die sich selbst auf solche Weise zu Freicorps hochstilisieren, wird mir himmelangst.

Ich wünsche mir, dass wir, die Nutzer der Social Networks, die Blogger, Twitterer, die Online Video Community, dass wir diese Presse nicht wieder so mächtig werden lassen, dass sie nach ihrem dafürhalten Oppositionelle verfehmt, Präsidenten zu Fall bringt und Regierungen stürtzt. Dafür müssen wir sorgen. Nicht jeden Artikel eines großen Medienhauses einfach zu verlinken und mit den Freunden zu teilen, wäre ein Anfang.

– und es ansonsten einfach mal mit Walter Kempowski halten: http://twitpic.com/kcfsw/full
(danke an @lorettalametta für diesen Link!).

weiter Lesen:

Das letzte Aufgebot
Höchste Zeit für verteilte Netze
Filter bubble
“Den Schrott gibt es im Internet”

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Romantische Liebe

William Blake, Adam and Eve
Mein!
Bächlein, laß dein Rauschen sein!
Räder, stellt eur Brausen ein!
All ihr muntern Waldvögelein,
Groß und klein,
Endet eure Melodein!
Durch den Hain
Aus und ein
Schalle heut ein Reim allein:
Die geliebte Müllerin ist mein!
Mein!
Frühling, sind das alle deine Blümelein?
Sonne, hast du keinen hellern Schein?
Ach, so muß ich ganz allein,
Mit dem seligen Worte mein,
Unverstanden in der weiten Schöpfung sein!

Morgengruß
Guten Morgen, schöne Müllerin!
Wo steckst du gleich das Köpfchen hin,
Als wär dir was geschehen?
Verdrießt dich denn mein Gruß so schwer?
Verstört dich denn mein Blick so sehr?
So muß ich wieder gehen.

O laß mich nur von ferne stehn,
Nach deinem lieben Fenster sehn,
Von ferne, ganz von ferne!
Du blondes Köpfchen, komm hervor!
Hervor aus eurem runden Tor,
Ihr blauen Morgensterne!

Ihr schlummertrunknen Äugelein,
Ihr taubetrübten Blümelein,
Was scheuet ihr die Sonne?
Hat es die Nacht so gut gemeint,
Daß ihr euch schließt und bückt und weint
Nach ihrer stillen Wonne?

Nun schüttelt ab der Träume Flor,
Und hebt euch frisch und frei empor
In Gottes hellen Morgen!
Die Lerche wirbelt in der Luft,
Und aus dem tiefen Herzen ruft
Die Liebe Leid und Sorgen.

“Im Blick des Anderen erfahre ich den Anderen als Freiheit, die mich zum Objekt macht.”
J.P. Sartre, Das Sein und das Nichts

Liebe, “romantische” Liebe – Worte, stets in gefährlicher Nähe zum Kitsch. Romantik als Attribut ist uns ohnehin abgesunken in die tiefsten Kloaken der Maklerpoesie und Hotelprospekte. “Romantik Pur” möchte man ergänzen. Bürgerliche Verbrämung der Sexualität; leere Rituale wie Verlobung und Ehe, mit denen der Spießer heute noch den Adel des 18. Jahrhunderts nachahmt. Und schließlich: eine Ehe nach Bürgerlichem Gesetzebuch mit Ehegattensplitting und Steuerklasse III ist vermutlich so ziemlich das Gegenteil dessen, wie sich Menschen in Liebe verbunden sehen wollen.

Die Publizistin Julia Seeliger hat in den letzten zwei Tagen in beispielhafter Weise dialektisch die Begriffe ‘Liebe’, ‘Gender’ und ‘Sex’ herausgearbeitet. Wie bei Sokrates stellt sie am Anfang eine Frage:

“Haben #Piraten eigentlich auch Frauen vorne, die nicht das klassische Frauenbild (@Afelia und @laprintemps) verkörpern? Ich sehe keine”.(*)

Und wie es sich in der Elenktik gehört, bricht ein Sturm los, denn was bitte soll ein “klassisches Frauenbild” sein? etc. etc.

Aber es wäre nur die halbe Mäeutik, hätte die @zeitrafferin nicht auch die Protreptik drauf: In welche Rollenbilder drückt uns die Gesellschaft? Sind Gender und Sex unabhängig? Ist es Biologie? Kulturelle Anpassung? Gibt es Liebe?

“Romantische Liebe ist ja auch Quatsch. Mit dem Argument sollte man zumindest nicht heiraten.”(*)

Was mich dazu bringt, die “romantische Liebe” hier zu würdigen, auch in der Hoffnung, meinen eigenen dialektischen Beitrag zu der Diskussion zu leisten.

Auch wenn es einer Zeit nie gerecht wird, Universalbegriffe wie “Liebe” pauschal mit der ganzen Epoche zu identifizieren, gibt es ein Konstrukt, das kohärent genug ist, als die romantische Liebe bezeichnet zu werden. Ich kenne kein schöneres Bild der romantischen Liebe, als die zwei Gedichtzyklen “Die schöne Müllerin” und “Winterreise” von Wilhelm Müller, berühmt duch die Vertonung von Franz Schubert. (oben zwei Gedichte aus ‘der schönen Müllerin’, unten aus der ‘Winterreise’) Auch wenn die Handlung des einen Liederkreises im Sommer, die andere im Winter spielt, so ist doch der Untertitel der ‘schönen Müllerin’ eine Aufforderung: “Im Winter zu lesen”. Beide Liederkreise handeln von der Liebe, von unterschiedlicher Sichtweise aus betrachtet, aber gleichermaßen düster und winterlich.

Der junge Müllergeselle in der ‘schönen Müllerin’ verliebt sich in die Tochter des Müllers. Aber es bleibt eine einseitige Liebe – die Müllerstochter ist lediglich das Objekt seiner Zuneigung. Zunächst liest er ihr ganzes Verhalten als Erwiderung; die deutlichen Zeichen der Abwendung und Genervtheit der Müllerstochter schiebt er darauf, dass sie vielleicht unausgeschlafen sei. “Die geliebte Müllerin ist mein! Mein!” Erst als es nicht mehr zu leugnen ist, dass die Angebetete vielleicht doch einen eigenen Willen besitzt und sich schon längst mit dem Jäger verlobt hat, wird dem Müllergesellen sein Scheitern bewusst – er geht.

In der ‘Winterreise’ erleben wir das krasse Gegenteil. Der Mann verlässt seine Geliebte und geht. Die Erzählung hier ist stärker symbolisch, so dass sofort klar wird: der haut nicht einfach ab. Hört man die Lieder der Winterreise bis zu Ende ist deutlich, es geht um den endgültigen Abschied, den Tod. “Will dich im Traum nicht stören, wär’ schad’ um deine Ruh'” – sie wird erwachen und ihn niemals wiedersehen. Um diesem tief traurigen und hoffnungslosen Abschied seine Tragik zu geben, wechselt die Tonart an dieser Stelle in Dur.

Bei der ‘schönen Müllerin’ ist die Geliebte ein Objekt, bis sie sich befreit, indem sie selbst einen anderen Partner wählt. Bei der ‘Winterreise’ endet der gemeinsame Sommer der Liebenden, der Liebende geht, die Liebende bleibt alleine zurrück.

In der Liebe sind wir – wie bei Sartre (s.o.) – Objekt oder machen den anderen zum Objekt. Die ‘schöne Müllerin’ und die ‘Winterreise’ illustrieren genau diese beiden Situationen. Romantische Liebe ist ganz beim Einzelnen. Jeder mag sie für sich fühlen, aber er bleibt für sich. Die Sehnsucht, durch Liebe die Einzelnheit zu überwinden ist die blaue Blume der Romantik.

Tod der Atala
Gute Nacht
Fremd bin ich eingezogen,
Fremd zieh ich wieder aus.
Der Mai war mir gewogen
Mit manchem Blumenstrauß.
Das Mädchen sprach von Liebe,
Die Mutter gar von Eh’ –
Nun ist die Welt so trübe,
Der Weg gehüllt in Schnee.

Ich kann zu meiner Reisen
Nicht wählen mit der Zeit:
Muß selbst den Weg mir weisen
In dieser Dunkelheit.
Es zieht ein Mondenschatten
Als mein Gefährte mit,
Und auf den weißen Matten
Such ich des Wildes Tritt.

Was soll ich länger weilen,
Daß man mich trieb’ hinaus?
Laß irre Hunde heulen
Vor ihres Herren Haus!
Die Liebe liebt das Wandern,
Gott hat sie so gemacht –
Von einem zu dem andern –
Fein Liebchen, gute Nacht!

Will dich im Traum nicht stören,
Wär’ schad’ um deine Ruh’,
Sollst meinen Tritt nicht hören –
Sacht, sacht die Türe zu!
Ich schreibe nur im Gehen
An’s Tor dir gute Nacht,
Damit du mögest sehen,
Ich hab’ an dich gedacht.

Nicht von ungefähr erwächst auf dem Höhepunkt der Romantik eine ganze Philosophie des Einzelnen, der anarchische Egoismus. Alle Wahrheit bleibt meine Wahrheit, genau wie alle Liebe in mir entsteht.

“Den Mittelpunkt der moralischen Freiheit bildet, wie wir sehen, die Pflicht der – Liebe. […] In der Liebe bestimmt sich der Mensch, gibt sich ein gewisses Gepräge, wird zum Schöpfer seiner selbst. Allein er thut das Alles um eines Andern, nicht um seinetwillen.”

schreibt Max Stirner. Auch wenn wir einzeln lieben, fühlen wir über unsere Handlungen mit dem anderen verbunden. Im Gegensatz zu jeder Form gemeinsamen oder kollektiven Erlebens, präsentiert sich allderdings jeder Einzelne selbst und wird nicht in der Liebe des Anderen zu ihm hin repräsentiert. Es bleibt bei der Zählung-als-Eins und es findet keine Vermassung der Liebenden (z.B. als Paar) statt. In der direkten Nachfolge Max Stirners haben Marx und Engels schließlich die Liebe als herrschaftliches Konstrukt entlarvt, das überwunden werden wird: “Je weiter also die Zivilisation fortschreitet, je mehr ist sie genötigt, die von ihr mit Notwendigkeit geschaffnen Übelstände mit dem Mantel der Liebe zu bedecken, sie zu beschönigen oder wegzuleugnen, kurz eine konventionelle Heuchelei einzuführen, die weder früheren Gesellschaftsformen noch selbst den ersten Stufen der Zivilisation bekannt war und die zuletzt in der Behauptung gipfelt.” (Engels, “Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats”)

Thomas von Aquin breitet in seiner Summa Theologica aus, wie der Glaube sich nicht erzwingen lässt, sondern aus dem Inneren des Gläubigen kommen muss. Glaube ist nach Thomas eine rein mystische Erfahrung. Das führt Meister Eckhart weiter, wenn er uns predigt, dass immer, wenn ein Mensch zum Glauben bereit sei, sich Gott unweigerlich in ihn ergieße, um ihn zu erfüllen. Es bedarf dazu keiner weiteren (religiösen) Handlungen. Wie Thomas und Eckhart den Glauben mystisch sich in den Menschen ergießend sehen, so kann auch die romantische Liebe nur mystisch erfahren werden. Sie ergießt sich ebenfalls unwillkürlich in den Menschen, der für sie bereit ist.

In der Romantik wird dieses unwillkürliche Sichverlieben zu einem der großen Themen (daher kommt dann auch das Bild von der “romantische Liebe” als getrieben, von Innen kommend, im Gegensatz etwa zur höfischen Liebe des Mittelalters oder der Barockzeit). Aber die Liebe wird dabei aber nicht verklärt, wie man sich das heute in der verkitschten Version romantischer Literaturverfilmungen vorstellen mag.

Ein schönes Beispiel solcher unverklärter, fast satirisch dargestellter, romantischer Liebe gibt Alexander S. Puschkin in seinem großartigen Versroman Efgenij Onegin. Tatjana, die Tochter eines Provinz-Adeligen lernt den Petersburger Fürsten Onegin kennen, der sich (wie Puschkin seinerzeit selbst) ins Exil aufs Land geflüchtet hat. Schon ihr Name kennzeichnet die junge Tatjana als ‘gewöhnlich’ und unbeholfen. Und unsterblich verliebt sie sich in Efgenij, den sie sich, ganz unreif und unerfahren, aus seiner Höflichkeit und Galanterie als liebenswerten Menschen erträumt – wo er in der Tat aber ein лишний человек, ein sinnloser Mensch ist, ein Lebemann und Zyniker, der alle verletzt, die mit ihm zu schaffen haben. Aber letztlich kann man Onegin keinen Vorwurf machen – er hat hatte Tatjana nicht um ihre Liebe gebeten. Das Tragische des Einzelnen, der von Liebe erfüllt, doch keinen Weg zum Herz des Objekts seiner Liebe finden kann.

Die romantische Liebe ist mystisch, man kann sich nicht durch Vernunft vor ihr schützen. Alle Reflektion über Gender und kulturelle Prägung helfen nicht, wenn sich ein Mensch in einen anderen verliebt. Daher bleibt alle Genderkritik wirkungslos, solange wir Menschen eben in diesen Körpern unser vereinzeltes Dasein fristen.

Erst die Utopie des Post Gender verheißt uns Erlösung. Wenn wir dereinst unsere menschliche Existenz überwinden und uns durch genetische Ingenieurskunst, biochemische Medikation oder Upload in die Matrix in die Nou-Späre verabschiedet haben werden, wird es vermutlich auch keine mystische, romantische Liebe mehr geben.

Bis die Singularität uns befreit, müssen wir aber wohl noch ein wenig warten.

Die Liebe ist doch eine kulturelle Sache, #Postgender ey!

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Datenhöflichkeit

Hinrichtung Ludwigs XVI
Der Hof Ludwigs XVI. gilt als Extase der Höflichkeit. Esprit, der Witz und das höfische Auftreten waren in nie wieder erreichtem Maße übertrieben worden. Das Ende: der Terror – die unhöflichste aller möglichen Formen menschlichen Zusammenlebens

“Privacy invasion is now one of our biggest knowledge industries.”
“The more the data banks record about us, the less we exist.”

Marshall McLuhan

“Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.”
Immanuel Kant

“Being socially exposed is OK when you hold a lot of privilege, when people cannot hold meaningful power over you, or when you can route around such efforts. Such is the life of most of the tech geeks living in Silicon Valley. But I spend all of my time with teenagers, one of the most vulnerable populations because of their lack of agency (let alone rights). […] The odd thing about forced exposure is that it creates a scenario where everyone is a potential celebrity, forced into approaching every public interaction with the imagined costs of all future interpretations of that ephemeral situation. “

Diese Sorge teile ich voll und ganz mit danah boyd. Üblicher Weise wird den Kindern und Jugendlichen geraten, sich “vor den Gefahren des Internet” in Acht zu nehmen. Aber was heißt das? Sollen sie sich vom Austausch mit anderen auf Facebook fernhalten? Und wie sollte ein Jugendlicher seinen Altersgenossen oder Freunden verbieten, Fotos zu posten, auf denen er vielleicht zu sehen wäre? (Die Option, ungewollte Fotos über die Eltern “klären zu lassen” besteht im wahren Leben nicht wirklich – von krassen Verunglimpfungen oder Mobbing vielleicht abgesehen).

Wir haben keine Wahl. Entweder wir gelten als Sonderlinge, gar als Ludditen, oder wir werden einen breite Spur von Daten in der Welt zurücklassen. Mit der Zeit entsteht durch unser Verhalten im Netz ein Abbild unserer selbst, eine Projektion in die Datenwelt. Dieses Bild von uns liegt mehr oder weniger offen zu Tage. Und viele heimliche bis unheimliche Gesellen blicken uns im geheimen durch den Spiegel der Daten in unser Leben – Google, Facebook, Targetingsysteme und Shop-Empfehlungsmaschinen und schließlich auch die staatlichen Sicherheitsdienste, die hinter den Datengardinen auf unsere Verfehlungen lauern.

Aber die Indiskretion ist nicht auf professionelle Datenkraken beschränkt. Die Profile mit unseren persönlichen Informationen, unsere Posts, unsere Check-Ins – alles kann sich jeder, der möchte, ansehen. Und zum Teil wollen wir das ja auch: selbstverständlich freue ich mich über Leute, die mir auf Twitter folgen und ich habe einige meiner besten Freunde in Social Networks kennengelernt. Social Media funktionieren über Authentizität – diese Phrase ist schon so oft gesagt und geschrieben worden, dass sie vollkommen schal daherkommt! Aber es stimmt: wenn wir nicht offen sind, tatsächlich über uns selbst sprechen, werden wir kaum Kontakt zu anderen schließen. Es ist Teil der Kultur in Social Media (wie auch sonst im sozialen Leben), Dinge über uns preiszugeben, obwohl diese von anderen auch gegen uns verwendet werden könnten. Ich habe zum Beispiel zwischen Weihnachten und Neujahr an mindestens fünf Tagen über Wein (seltener Bier oder andere alkoholische Getränke) geschrieben. Natürlich möchte ich, dass Leute, die sich für mich interessieren, dies auch lesen können, wenn sie wollen. Wie wäre es aber, wenn jemand einen “Jörg trinkt”-Bot einrichten würde, der eine Statistik über meine Wein-Tweets führt uns publik macht? Aus dem Kontext gerissen würden meine Wein-Tweets ein ganz und gar ungünstiges Bild von mir zeichnen. (Das Beispiel verdanke ich Benedikt).

Nach meiner persönlichen Erfahrung ist der Schaden, sind die Kränkungen, die durch “manuellen” Datenzugriff an uns entstehen wesentlich schwerwiegender, als das professionelle Analysieren der Daten-Kraken zu kommerziellen Zwecken. Und während bei diesen sich Datenschutz und Persönlichkeitsrechte juristisch fassen und häufig, z.B. via ‘Unlauterer Wettbewerb’ sogar durchsetzen lassen, sind Übergriffe auf Daten durch Einzelne kaum sinnvoll durch Gesetze zu regeln. Wo fängt der Stalker an, wo die Beleidigung oder üble Nachrede? Und schon gar nicht gut ist es, wenn das Opfer sich wehren muss – der ‘Streisand-Effekt’, Hohn und Spott über jemand der eben ‘die Regeln nicht versteht’ und so dumm ist, sich auch noch zu widersetzen.

“Es haben ja eh schon xyz viele Leute gesehen, also mache ich es mal ganz öffentlich ist nunja, ein blödes Argument.”

twittert Sylvia Poßenau und das klingt fast wie die Übersetzung des Kernsatzes aus danah boyds Essay:

“Just because people can profile, stereotype, and label people doesn’t mean that they should.”

Aber was soll/darf “man” mit den Daten? Wo ist die Grenze?
Die Antwort liefert Sylvia Poßenau gleich mit: Datenhöflichkeit.

Höflichkeit ist eine kulturelle Technik, um Distanz zu wahren. Wir sind höflich, um unseren Abstand zu anderen zu organisieren und ihnen nicht zu nahe zu kommen.Höflich ist man durch Einhalten von Grenzen, die nicht durch Gesetze oder anders verschriftlichte Regeln definiert sind, sondern durch ein Verständnis, durch Achtung und Respekt dem anderen gegenüber. Höflichkeit ist der Esprit de Conduite, der gute Geist des Verhaltens. Was in Antike und Mittelalter als religiöse oder untertänige Pflicht erklärt wurde, erlebt in der Aufklärung seine philosophische Entfaltung. War dieser Esprit am Hofe Ludwigs XIV. noch Teil der Machtausübung des erstarkenden Königs gegen die schwächer werdenden Fürsten, wird er nach der französischen Revolution zu einem bürgerlichen Gut. Und die Maximen zum guten Handeln, die Kant für die Menschenwürde formuliert, werden schließlich von Adolph von Knigge in seinem Ratgeber “Über den Umgang mit Menschen” zu Handlungsempfehlungen für den Alltag.

Noch vor der Erfindung des Web hatte die Community der ersten User im Internet die Netiquette formuliert. “When someone makes a mistake – whether it’s a spelling error or a spelling flame, a stupid question or an unnecessarily long answer – be kind about it.” – Höflichkeit ist schon damals, neben den Ratschlägen zur technischen Klarheit – das Thema gewesen.

“Gar zu leicht missbrauchen oder vernachlässigen uns die Menschen, sobald wir mit ihnen in einem vollkommen vertraulichen Tone verkehren. Um angenehm zu leben, muss man fast immer als ein Fremder unter den Leuten erscheinen.” warnt Knigge. Und auch sonst scheinen mir die Kultur der Höflichkeit des 19. Jahrhunderts für unsere Epoche der Post-Privacy durchaus angemessen. Höflichkeit ist Kultur. Kultiviert bedeutet gepflegt. Es ist wirklich Zeit für einen pfleglichen Umgang mit unseren Daten, die doch so eng mit uns persönlich zusammenhängen. Zeit für Datenhöflichkeit.

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Die Lebensalter

Daniel 2,31-36 aus der Merian-Bibel
Du, König, sahst, und siehe, ein großes und hohes und sehr glänzendes Bild stand vor dir, das war schrecklich anzusehen. Des Bildes Haupt war von feinem Golde, seine Brust und Arme waren von Silber, sein Bauch und seine Lenden waren von Erz, seine Schenkel waren Eisen, seine Füße waren eines Teils Eisen und eines Teils Ton. 34 Solches sahst du, bis daß ein Stein herabgerissen ward ohne Hände; der schlug das Bild an seine Füße, die Eisen und Ton waren, und zermalmte sie. Da wurden miteinander zermalmt das Eisen, Ton, Erz, Silber und Gold und wurden wie eine Spreu auf der Sommertenne, und der Wind verwehte sie, daß man sie nirgends mehr finden konnte. Der Stein aber, der das Bild zerschlug, ward ein großer Berg, daß er die ganze Welt füllte.
Daniel interpretiert die Vision Nebukadnezars. Die kolossale Statue symbolisiert den Ablauf der Geschichte, beginnend in einem ‘goldenen Zeitalter’, dem Paradies, sich Epoche für Epoche verschlechternd. Bis zu einem messianischen Ereignis – der Weltrevolution, die am Ende dieses ‘historischen Materialismus’ steht.

Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.1. Kor 13

.והיית אך שמח Devarim 16,15


Dass sich Stunden, Tage oder Wochen wiederholen, ist eine nützliche Illusion. In Wirklichkeit erleben wir jeden Moment unseres Lebens nur einmal; danach ist er vergangen. Was wir über gewisse Zeiträume unseres Lebens als relativ gleichförmig erleben, sind wir selbst. Wir haben von uns den Eindruck von Einheit, davon, dass wir eine Person sind, und zwar jeden Tag mehr oder weniger dieselbe.

Über lange Zeiträume hinweg verändert sich unsere Person allerdings, und zwar nicht gleichmäßig, sondern zu bestimmten Zeiten unseres Lebens sehr schnell, während sie dann wieder über Jahre und Jahrzehnte nahezu konstant zu sein scheint. Es ist keine völlig willkürliche Festlegung, unser Leben in Abschnitte zu unterteilen: in Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, Greisenalter – oder Ähnliches.

Romano Guardini (1885-1968) hat über die Lebensalter, Ihre ethische und pädagogische Bedeutung ein ganz bemerkenswertes Buch geschrieben, dessen Gedanken ich hier weiterspinne. Jedem der Altersabschnitte liegen ganz bestimmte Bedürfnisse, Fähigkeiten und Antriebe zugrunde. Aus der Notwendigkeit, diese Bedürfnisse zu befriedigen, die Fähigkeiten dem Lebensalter gemäß zu entwickeln und den Antrieben zu folgen, ergibt sich für jede Phase des Lebens eine spezifische Ethik – was für Kinder gut und wichtig ist, muss für den erwachsenen Menschen noch lange nicht immer noch recht sein.

Alles hat seine Zeit, und ein jegliches hat seine Stunde, wie Kohelet sagt. Dieses Konzept vom zielgerichteten, voranschreitenden Leben, ist typisch für unser jüdisch-christliches Weltbild; der Tod ist der Punkt, an dem das Leben abgeschlossen ist und jedes Ziel erreicht sein muss – im Gegensatz zu zyklischen Vorstellungen, wie etwa der des Hinduismus, spannt sich unser Leben als Bogen.

Ein zentraler Aspekt im Voranschreiten von einem Lebensalter zum nächsten, sind Krisen, zum Teil dramatische Umbrüche, die wir durchleben (sollten), wenn wir, etwa von der Zeit des reifen Erwachsenen zum Greis uns verändern; Dinge, die uns als Erwachsene selbstverständlich von der Hand gehen, müssen wir lernen, fahren zu lassen, lernen, anderen Platz zu machen; ob wir in Würde alt werden, liegt nicht zuletzt daran, ob wir in der Lage sind, diesen Schritt zu gehen oder, ob wir als unwürdige Greise, wie Aschenbach, der Protagonist des Tod in Venedig, versuchen, unser in Wahrheit verlorenes Jugendalter in Ewigkeit zu perpetuieren, als Gecken. Diese Krisen begründen die oben beschriebene Einteilung des Lebens in die Lebensalter.

Jedem Alter entspricht eine bestimmte Art, die Welt wahrzunehmen. Diese Wahrnehmung von der Welt entspricht wiederum eine bestimmte Art, sich durch Sprache auszudrücken. Kinder erleben die Welt sozusagen mystisch, alles Märchenhafte ist nicht, wie für Erwachsene am Rand des Kitsches, sondern wird als realer Teil der eigenen Welt wahrgenommen. Für Kinder sind Metaphern keine Umschreibungen der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selbst.

Hier verlassen wir Guardini, der den Gedanken der rhetorischen Figuren im Zusammenhang der Lebensalter nur ganz am Rande erwähnt und wechseln zweihundertfünzig Jahre früher nach Neapel. 1725 veröffentlichte Giambattista Vico seine Scienza Nuova, die Neue Wissenschaft, sein Philosophisches Hauptwerk. Vico hatte sich über viele Jahre mit der Geschichte auseinandergesetzt, vor allem der griechischen und römischen Antike und intensiv die Literatur dieser Zeiten studiert. Dabei war er auf eine bis dahin vollkommen unbeachtete Tatsache aufmerksam geworden: die von ihm untersuchten “Hochkulturen” waren über die Zeit nicht gleichförmig, sondern es erschien ihm eine Hierarchie der Epochen, ein “Erwachsenwerden”, “Altern” und schießlich “Vergehen” – Corso und Ricorso. Mit jedem dieser Zeitalter, so folgerte Vico, kommen ganz spezifische Eigenschaften der Kultur und Gesellschaft, in der die Menschen dieser Zeit leben, die man, ganz vergleichbar zu Guardinis Lebensaltern beschreiben könnte.

Vico war aber besonders eines aufgefallen: jede Epoche hat ganz bestimmte Tropen, die ihre Literatur und vermutlich ihr ganzes Denken prägen. Und daraus entwickelt er eine orginelle Systematik. In der frühesten Literatur einer Kultur drückt sich eine mystische Welterfahrung aus – alles wird durch Metaphern verkörpert. Götter lenken direkt das Schicksal in der Vorstellung der Menschen solch einer Zeit, bis sie schießlich durch Helden abgelöst werden, es sind jetzt Menschen, die das Schicksal bestimmten, aber ins unnatürliche überhöhte, legendäre Figuren. Die Umschreibung ist das Stilmittel der Literatur der Heldenzeit, die Metonymie. Schließlich folgt die eigentlich historische Epoche, Polis oder Republik, mit wirklichen Menschen als handelnde Subjekte. Juristische Texte und politische Reden machen jetzt einen Großteil der Literatur aus. Darin haben Metaphern oder Übertragungen kaum platz. Die Ironie ist die Trope des Menschen-Zeitalters. Danach geht es wieder abwärts – Kaiserzeit/Diktatur mit Heldenverehrung und schließlich Zerfall in die mystische Zeit der Völkerwanderung.

Vergleicht man Vico mit Guardini, so lieg nahe, die Zeitalter des einen mit den Lebensaltern des anderen zu verbinden – und man bekommt auch für jede Phase unseres Lebens eine passende rhetorische Figur. Kinder erfahren die Welt im Spiel. Wie in der Mystik, kann alles gleichzeitig das “normale Ding”, z.B. ein Brett und doch “etwas anderes”, z.B. ein Raumschiff sein. Es gibt für Kinder keinen Unterschied zwischen Sachbuch und Märchen. In der Jugend kommt die “Heldenverehrung”, die Überhöhung von Vorbildern, die Übertragung, die Übertreibung. Für Erwachsene ist alles machbar, wissenschaftlich, alles geregelt. Im gegenseitigen Umgang hilft die Ironie den Erwachsenen, distanz zur eignen Position zu zeigen, “ist alles nicht so ernst”. Mit schwindenden Kräften wächst im Alter das Gefühl von Unsicherheit. Sicherheitsbedürfnis, Fixierung auf feste Strukturen, das Bedürfnis nach starker “Führung” der als tendenziell bedrohlich empfundenen Gesellschaft sind die Folgen. Und schließlich können wir als Greise Wirklichkeit von Einbildung nicht mehr unterscheiden – es kommen die senile Paranoia, Depression, oder mystische “Altersweisheit”.

Lebensalter Zeitalter Tropus
Kindheit Mystik Metapher
Jugend Helden Metonymie
Erwachsenenzeit Menschen Ironie
Alter Ricorso Metonymie
Senilität Zerfall Metapher

Wie schon öfter angeführt, kann man unsere neuere Geschichte regelrecht als eine Folge von “Wendepunkten” in der Kommunikationskultur beschreiben. Als erstes beendet das Linguistic Turn das “finstere Mittelalter” des allegorischen Denkens, die “Kindheit” unserer Kultur. Der “Iconic Turn” hebt uns ins Zeitalter der globalen Massenkommunikation mit Ironie, um nicht zusagen Zynismus als Leitfigur. Und schließlich erleben wir gerade jetzt die nächste Wende, den Memetic Turn, bei dem wir wieder ins bildhafte zurückfallen. Diese “History of Turns” habe ich – wie gesagt – etwas ausführlicher in einem eigenen Post beschrieben: Memetic Turn.

***

Unsere Welt als unaufhaltsame Abfolge von Fort-Schritten, hat unterliegend etwas Trauriges. Man stirbt nämlich immer zu früh. Es gibt wohl so gut wie keine angenehme Art, aus dem Leben zu scheiden. Unerreichte Ziele, Dinge, die am Lebensende übrig bleiben, erscheinen uns sogar tragisch. So muss der Engel der Geschichte mit weit aufgerissenen Augen der zusehen, wie “eine einizige Katastrophe, unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.”; Fortschritt als Abfolge von Tragödien. Statt aber uns über unser sicheres Ende zu grämen, empfehle ich jetzt, Nachman von Bretzow zu lesen, jenen großen Mystiker, der vor zweihundert Jahren in der heutigen Ukraine als chassidische Zaddik lehrte; sein moralisches Gebot: “Mitzvah gedolah le’hiyot besimcha tamid” – Es ist die große Weisheit, stets glücklich zu sein.

Weiterlesen:
Kohelet – Zeit und Glück
Michael Ende: Momo
Memetic Turn
Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte IX

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Kein Mädchenpensionat

Wikipedia ist kein Mädchenpensionat. de.wikipedia.org

“Brauchen wir Frauenquoten?” als Antwort auf “Warum sind hier so wenig Frauen?”, austauschbar im Kontext Führungskräfte, Professoren, Ingenieure, Mathematiker, Naturwissenschaftler, Gamer oder Piraten, darauf scheint sich mir die Gender-Debatte aktuell zu reduzieren. Wie ein Blick nach Skandinavien, Frankreich oder den USA leicht plausibel macht, hat ein Ungleichgewicht von Männern und Frauen in den Durchschnittsgehältern und der durchschnittlichen hierarchischen Stellung im Beruf offensichtlich etwas mit dem Angebot an Kindertagesstätten und Ganztagsschulen zu tun. Dies zu leugnen ist ähnlich naiv, wie zu behaupten, der Klimawandel sein nur eine kurzfristige, statistische Schwankung.

Das erklärt aber überhaupt nicht, warum es in den “männlichen” Studiengängen und Berufen so wenig Frauen geben sollte. Für eine Mathematikerin ist die Chance auf Kinderbetreuung im Berufsleben vermutlich sogar besser, als für eine Kunsthistorikerin, würde ich zumindest aus meinem beruflichen Umfeld direkt folgern. Fragt man also, warum es diese Ungleichheit schon in der Ausbildung gibt, ist die stereotype Antwort, das läge an Erziehung und gesellschaftlich-kulturellem Rollenbild. Und da wird es meiner Ansicht nach interessant.

Üblicher Weise wird es als Flucht, als Schwäche der Frauen interpretiert, wenn sie sich für das “Weibliche” entscheiden. (“Weiblich” im Gender-Sinne, also das Verhalten, welches gesellschaftlich als eher weiblich attribuiert wird, finde ich ein schwieriges Konstrukt, das ich mir nicht zu eigen machen möchte, sondern in der Bedeutung zu verwenden versuche, wie es in den betreffenden Kontexten häufig auftaucht). “Frauen studieren Kunstgeschichte, weil sie sich nicht an die harten Fächer herantrauen” – hab ich tatsächlich schon den einen oder anderen Akademiker sagen hören. “Hier weht eben ein rauerer Wind.” – und dann sind wir ganz schnell bei den “Warmduschern” und anderen “Weicheiern” – wir sind also bereits weit jenseits von Sexismus, bei Diskursmacht angekommen und stehen mal wieder kurz vor der “Schweigespirale”. Und es ist ja so einfach, sich lustig zu machen, über “Political Correctness”; da hat man die Lacher immer auf seiner Seite.

Bevor wir also “das Weibliche” (s. oben) einfach pauschal über Bord werfen, sollten wir doch sehen, was wir da Opfern. Es ist, z.B. sicher kein Zufall, dass die Löschtrolle (männlich/weiblich) in der Wikipedia ihre in der Regel groben bis rüpelhaften Umgangsformen genau damit begründen, “Hier ist doch kein Ponyhof.” Dieses Post-Gender “stellt euch nicht so an, sonst seid ihr nicht emanzipiert genug, um hier mitzumachen” trifft den jeweiligen Diskussionsgegner übrigens völlig unabhängig von seinem Geschlecht oder Gender, soweit sich diese überhaupt aus dem Nutzerprofil ablesen lassen. Es geht also nicht darum, tatsächlich Frauen zu diskriminieren, sondern eine bestimmte Kultur abzuqualifizieren, die sich durch Höflichkeit oder dem Abwägen von Argumenten auszeichnet.

Eine extrem geringe Bereitschaft, sich in etwas Distanz und Selbstkritik mit dem eigenen Fach zu beschäftigen ist mir bei vielen Kommilitonen und später bei Kollegen unangenehm aufgestoßen, als ich vor zwanzig Jahren Mathematik studiert und anschließend eine Zeit im wissenschaftlichen Betrieb gearbeitet habe. Der dogmatische Positivismus, den ich in meiner Timeline regelmäßig auch in Diskussionen um Medizin-Ethik, Evidenzbasierte Wissenschaft oder Technikfolgenabschätzung wahrnehme, wird durch ein “so ist das harte Leben eben; da ist kein Platz für Metaphysik.” jenseits von Argumenten absolut gesetzt.

Es stimmt, meiner eigenen Erfahrung mit Kindern nach zu urteilen, übrigens nicht, dass Mädchen nichts mit Star Wars anfangen können. Gerade deshalb – das hab ich schonmal hier geschrieben – finde ich es seltsam, was für eine geringe Rolle die relativ flachen Frauen-Charaktere in den ikonischen Romanen zum Anbruch des Nerd-Zeitalters spielen.