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Spektrum der Wissenschaft

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Was die Physiker als “Standardmodell” der Teilchenphysik bezeichnen – um seinen vorläufigen Charakter anzudeuten –, liefert eine beeindruckende Deutung vieler Aspekte unserer Welt. Spektrum.de / Weltbild vor dem Umbruch

Heute ist der große Tag am LHC, dem großen Teilchenbeschleuniger am europäischen Forschungsinstitut CERN. Warum ist es uns wichtig, dass durch die gewaltigen Energien immer feinere Details unserer Welt für uns erkennbar werden? Weil nur durch die Beobachtung offenbar wird, ob unser Bild der Welt, unser Modell, dass wir zu ihrer Erklärung konstruieren, zur Vorhersage von Tatsachen, von Wirklichkeit taugt.

Seit Mai 1980, genau dreißig Jahre lese ich das Spektrum der Wissenschaften (anfangs allerdings waren es eher die mystischen Bilder, die mich in ihren Bann zogen – die meisten Artikel habe ich noch nicht verstanden). Viele der wissenschaftlichen Projekte, die dieser Tage Eingang in die allgemeine Presse finden, waren von Anfang an dabei. An Tagen wie heute wird mir bewusst, was für ein schöner, dialektischer Prozess die Wissenschaft sein kann. Über Jahre hinweg werden Modelle spekuliert, wird die Existenz neue Bausteine unserer Welt daraus abgeleitet – wie etwa das Higgs-Boson, für dessen experimentellen Nachweis schließlich die enorme Anstrengung in Genf unternommen wird. Wenn man diese Entwicklung nur von hinten – von der Veröffentlichung der bahnbrechenden Nachrichten her liest, kann man nicht verstehen, die Wissenschaft funktioniert.

Die Ruhe, diesen Prozess Monat für Monat nachzuzeichnen, ist für mich die herausragende Qualität des Spektrum. – Für und Wider der unterschiedlichen Standpunkte, und zwar Quer durch alle Wissenschaften. – und nicht zuletzt die Philosophie. Hier habe ich zum ersten Mal von John Searls “Chinesischem Zimmer” gelesen (Jan 1990) – und habe seine Kritik an Dougles Hofstadters Vorstellung menschlichen Automaten als Befreiung empfunden; hier bin ich zum ersten Mal David ChalmersRätsel des bewussten Erlebens” begegnet, und wie darin die Möglichkeit zum empirischen Erkenntnisgewinn über uns selbst radikal in Frage gestellt wird.

Vielen Streitgespräche auf Wissenschafts-Blogs oder auf Twitter sparen sich den Punkt, um den sich auch sonst viele Wissenschaftler durch die Konzentration auf das empirisch Machbare allzuleicht herumdrücken: die impliziten Grundlagen von Erkenntnis. Wenn in wissenschafts-ethischen Diskursen gefordert wird, ohne Scheuklappen zu diskutieren, so ist damit meist gemeint, dass man ernste Bedenken, die das Vorgehen in Frage stellen würden, bitte hier nicht zu äußern habe. Doch eben Dispute wie Searle oder Chalmers sie liefern, sorgen für den nötigen Raum zur Selbstreflexion. Das ist für mich eine der herausragenden Stärken von Spektrum. Und dadurch werden mir auch Artikel lesbar (und sogar lesenswert), wie der Essey des Religionskritiers Edgar Dahl “Die Würde des Menschen ist antastbar!” im März-Heft.

Und liegt mir Dahls Menschenwürde noch schwer im Magen, so liefert dieselbe Ausgabe auch wunderbar leichte Kost: Gleich die Titelgeschichte macht sich auf die Suche nach den Geschwistern der Sonne – eine poetisches Überschrift – und wir machen uns auf eine Reise, fünf Milliarden Jahren zurück, sehen, wie eine Supernova in nächster Nähe explodiert und wie die Sonne und ihre Geschwister ihre Kinderstube verlassen und sich langsam über die ganze Milchstraße zerstreuen; reine Utopie!

Bereits Ende der Achtziger wird der Klimawandel thematisiert (leider geht das Online-Archiv nur bis 1993 – immerhin das Geburtsjahr des Browsers, aber der älteste Artikel, an den ich mich erinnere war Juni 1989). Auch zur Zeit läuft eine Reihe unter dem etwas großspurigen Namen “Erde 3.0” und auch hier verharrt Spektrum nicht beim Altbekannten, sondern stellt in zum Teil abenteuerlichen Projekten Alternativen vor. Landwirtschaft in Hochhäusern zum Beispiel.

Scientific American, dessen deutsche Ausgabe das Spektrum der Wissenschaft ist, scheint mir auch eines der ganz wenigen Medienprodukte zu sein, dass wirklich durch seine Internationalität profitiert. Eine Zeit lange habe ich die amerikanische Ausgabe gelesen, musste aber feststellen, dass einem durch das deutsche Spektrum nichts verloren geht.

Spektrum ist auch die einzige allgemeinwissenschaftliche Publikation, die ich kenne, die in jeder Ausgabe der Mathematik ihren Platz gibt – mindestens in einem, häufig, wie im aktuellen Heft sogar in mehreren Artikeln.

Und wenn ich mich gefangen fühlen, in der Wirrsal des Alltags – dann denke ich an den eschatologischen Beitrag zum “Das Ende des Raumschiffs Erde”. Ja, in geologischen Zeiträumen ist das Ende der Erde bereits nahe; schon bald verschluckt die sterbende Sonne alles Leben.

Spektrum inspiriert. Es ist für mich persönlich mein wichtigste Slow-Medium.

Weitere Beiträge auf slow-media.net über Zeitschriften:
Die Brand Eins
Wired Magazine
Kunstforum International: 200 Ausgaben
Widerspruch – Münchner Zeitschrift für Philosophie

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Bücher Slow theory Videos

This is the end of publishing

(auf us.penguingroup.com)

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Slow theory Zeitschriften Zeitungen

Der umgekehrte Turing-Test

Im Oktober dieses Jahres jährt sich die Veröffentlichung von Alan Turings Paper “Computing Machinery and Intelligence“, das damals in der philosophischen Zeitschrift Mind veröffentlicht wurde, zum 60. Mal. Zwei Jahre später, im Turing-Jahr 2012, wird dann wahrscheinlich auf zahlreichen Symposien und Konferenzen über die gegenwärtige Bedeutung des Turing-Tests debattiert und gestritten. Kurz zusammengefasst beschreibt Turing ein Testsetup, das dazu geeignet ist, menschliche und computerisierte Intelligenz voneinander zu unterscheiden.

Dieses Konzept, obwohl auf den ersten Blick aus einem ganz anderen Diskurs stammend, hat für mich einen sehr spannenden Berührungspunkt mit der gegenwärtigen Diskussion über die Folgen der Internetgesellschaft. Unser Slow Media-Manifest skizziert in 14 Punkten eine denkbare Zukunft der (Qualitäts-)Medienproduktion. In den letzten Tagen habe ich immer wieder mit Journalisten und Redakteuren über die faszinierenden Möglichkeiten gesprochen, die sich durch Slow Media für Zeitungen und Zeitschriften eröffnen.

Ein immer wieder diskutiertes Thema war dabei die Frage: Haben auch Tageszeitungen, die wie kein anderes Medium derzeit von einer Sinnkrise befallen sind, eine Zukunft? Können sich auch Medien, deren Kernaufgabe die tägliche Information einer breiten Öffentlichkeit ist, unter dem Zeichen von Slow Media neu erfinden und hierin neue Geschäftsmodelle entwickeln? Welchen Qualitätskriterien müssen Tageszeitungen unter Slow-Media-Gesichtspunkten genügen?

Was wir an dieser Stelle brauchen, ist eine Art umgekehrter Turing-Test. Denn in der zweiten historischen Phase des Internets sehen sich gedruckte Tageszeitungen nicht mehr nur in Konkurrenz mit den Produkten ihrer Onlineredaktionen, sondern zunehmend auch in Konkurrenz mit Computer-Algorithmen. Hinter Plattformen wie Google News oder Rivva stehen keine Redakteure mehr, sondern programmierte Selektionsregeln auf Grundlage der Vernetzung von Internetquellen, ganz gleich ob dies Webseiten oder persönliche Profile sind. Was die Geschwindigkeit und das Volumen betrifft, haben die Algorithmen ihre menschlichen Vorläufer schon lange überholt. Und auch in Punkto Relevanz ist die Distanz nicht mehr allzu groß.

Hier kommt der umgekehrte Turing-Test ins Spiel, der nicht abbildet, wie nah die künstliche Intelligenz an die humane heranrückt, sondern das genaue Gegenteil: die Möglichkeiten der menschlichen Intelligenz, eine inhaltliche und formale Qualität zu schaffen, die jenseits der Möglichkeiten der Algorithmen liegt. Wenn sich der Mantel von Tageszeitungen, was Auswahl und Präsentation der Nachrichten, von automatisierten Angeboten à la Google News nicht mehr unterscheidet, haben die Redakteure den umgekehrten Turing-Test nicht bestanden. In diesem Fall ist ihre Verhandlungsposition denkbar schlecht, denn warum sollten sie für dasselbe Ergebnis ein Vielfaches an Belohnung erhalten. Darüber hinaus: Algorithmen sind keine Gewerkschaftsmitglieder und brauchen keine Pausenräume. Diesen Konkurrenzkampf haben die Redakteure und Journalisten längst verloren, auch wenn sie noch so gute Lobbyarbeit für die Wirkung von Printprodukten machen.

Genau darin liegt aber auch die Chance. Zeitungen und Zeitschriften, die den umgekehrten Turing-Test bestehen und ein Ergebnis liefern, das in dieser Form nie und nimmer von einem Computer hätte errechnet werden können, haben eine Zukunft. Hinter diesen Medien stecken echte Menschen. Und das wichtigste ist: das merkt man auch.

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Bücher Religion

Die Wallfahrer

Von Tuntenhausen nach WeihenlindenWir haben wohl hienieden
Kein Haus an keinem Ort,
Es reisen die Gedanken
Zur Heimat ewig fort.

Allein die Zeitspanne, in der Carl Amery seine Romanfiguren auftreten lässt, ist unzweifelhaft slow. Am Anfang des Romans “Die Wallfahrer” steht das wundertätige Verlöbnis des Innsbrucker Einsiedlers Gropp zur Muttergottes von Tuntenhausen im Jahr 1641. Dann macht sich 1782 eine bunte Runde Wasserburger Laienschauspieler inklusive Freimaurer auf den Weg, um auf einer Wallfahrt nach Tuntenhausen die Große Nachricht von der nahenden Sintflut zu verkünden:

“Die Nachricht von der Universalen Wallfahrt, die allenthalben und aus allen Zeiten, aber möglichst sogleich aufzubrechen habe, wenn anders die krachenden Säume der Welt noch halten und die sieben Siegel des Gerichts nicht vollends aufgesprengt werden sollten.”

Mit dem dritten Pilger, dem Grafen Innozenz Maria I von Busselwang-T., wird das Wallfahren deutlich politischer. Nicht mehr die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit oder die herannahende Katastrophe steht im Mittelpunkt des Gräflichen Planens und Organisierens, sondern die politische Mission eines bäuerlichen Reformprogrammes. Mit dem jüngsten Akteur Marco von B., der Mörder von Kurt Eisner, gerät in den Trubel gerät die Pilgerroute in das verhängnisvolle Spannungsfeld zwischen völkischen und katholischen Bewegungen im Bayern nach dem Ersten Weltkrieg. Am Science-Fiction-tauglichen Ende steht dann das “Tschiritt” des Roten Klammerhörnchens, das durch die Hochbaumetage des mittlerweile menschenleeren Chiemgaus des Jahres 50.000.868 springt.

Von Tuntenhausen nach WeihenlindenDurch die zahlreichen Wallfahrten nach Tuntenhausen scheint kontinuierlich das Long Now der Religion. Die einzelnen Episoden finden zwar in großem zeitlichen Abstand zueinander statt, durchdringen sich aber immer wieder. In Anlehnung an Charles Taylor könnte man dies wie folgt ausdrücken: Die vertikale Dimension des Sakralen bricht in die empirisch-reale horizontale Lebenswelt hinein. Ein Beispiel dafür ist der Weg des Grafen Innozenz Maria I zu einer Wunderheilerin, auf dem auf einmal Elemente der 80er Jahre des 20. in die des 19. Jahrhunderts durchscheinen:

“Reiterhof Hechsenraith stand weiß auf blankem grünem Emailblech, ein schwarzer Roßkopf darüber, ein roter Pfeil darunter; […] Es war ihm klar, daß mit dem Schild etwas nicht stimmte: solche Materialien, solche Farben waren nicht zu haben – oder zumindest hierorts nicht üblich.”

Aber diese Begleiterscheinungen der krachenden Säume der Welt irritieren die Menschen nicht allzu sehr. Sie nehmen diese umgekehrten Madeleine-Erlebnisse als Bestätigung ihres Tuns, ihrer Wallfahrt hin. Ganz anders als zum Beispiel die Kleinstadtbewohner in Philip K. Dicks “Time Out Of Joint“, für die das reflexartige Tasten nach einem Lichtschalter, den es gar nicht gibt und noch nie gab, zu einer tiefen psychologischen Krise führt. Der Menschen Pilgerschaft auf Erden, so könnte man das mit Bernhard Setzwein lesen, ist zu einem bloßen Feiertagsritual verkümmert. An dieser Stelle wird der Roman dann doch ganz modern: Da sie die Zeichen nicht erkennt, muss die Menschheit letzten Endes auch untergehen (anders als in dem zehn Jahre zuvor erschienenen “Untergang der Stadt Passau” gibt es hier kein Danach mehr). So endet der Roman des Grünen Vordenkers Amery mit einer Erde, die ganz bei sich sein kann.

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Architektur Kunst

Glasfenster

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Fenster im Südquerhaus des Kölner Doms von Gerhard Richter.
Abbidlung mit freundlicher Genehmigung der Derix Glasstudios GmbH & Co.KG, Taunusstein.

That [Chamber] at the eastern extremity was hung, for example, in blue -and vividly blue were its windows. The second chamber was purple in its ornaments and tapestries, and here the panes were purple. The third was green throughout, and so were the casements. The fourth was furnished and lighted with orange -the fifth with white -the sixth with violet. The seventh apartment was closely shrouded in black velvet tapestries that hung all over the ceiling and down the walls, falling in heavy folds upon a carpet of the same material and hue. But in this chamber only, the color of the windows failed to correspond with the decorations. The panes here were scarlet -a deep blood color.Poe, The Masque of the Red Death

Die Romantik des 19. Jahrhunderts mit der Begeisterung für das Mittelalter brachte auch das bunte Glasfenster wieder zum Vorschein.

Wohnhaus von Sir John Soane in London, gebaut 1808-24.
The copyright on this image is owned by Peter Barr and is licensed for reuse under the Creative Commons Attribution-ShareAlike 2.0 license.

Es gibt spektakuläre Beispiele voll zeitgebundenem Nationalismus, wie etwa die Bayernfenster, die dem Kölner Dom von Ludwig dem I. “gestiftet” wurden, wobei wohl weniger Frankreich, als vielmehr den Kölnern selbst deutlich gemacht werden sollte, wohin sie sich zu orientieren hatten – ganz gleich auf welcher Seite des Rheins sie lebten. Irronie des Schicksals, dass ausgereichnet Ludwig der einzige deutsche Monarch war, der bei der Revolution 1848 zurücktreten musste – just dem Jahr, in dem die Bayernfenster eingeweiht wurden.

***
Glasmalerei hat es in der Kunstgeschichte selten über das Niveau des Kunsthandwerks geschafft. Zu schrecklich sind auch die Schwundstufen – Butzenfenster mit Pferdegespann im derben Wirtshaus der 30er Jahre, oder gothisch-nationaler Kitsch wie die oben erwähnten Fenster in Köln.

Nach dem Ende des Mittelalters konzentriet sich die Architektur auf das “natürliche” Sonnenlicht. Fenster dienen jetzt nicht mehr als eigenständige Kunstschöpfung sondern sind fester Teil des Gebäudes. Die inszeniert mystische Atmosphäre der alten Kathedralen steht regelrecht im Gegensatz zum grandiosen Theater der Bauwerke des Barock und schließlich passt das künstlich-bunte Licht nicht zum wachsenden Wunsch einer unmittelbaren Erfahrung eines höheren Sinnes in der Natur, wie er sich seit dem 17. Jahrhundert, nicht nur durch die Landschaften Claude Lorrains ausgeprägt hat:

I know that others find you in the light,
That sifted down through tinted window panes.
And yet I seem to feel you near tonight,
In this dim, quiet starlight on the plains. (Lomax, Lomax, Spencer, Rogers)

Die metaphorische Bedeutung von Licht hatte sich verändert. Dadurch kommen wir aber zu einem wichtigen Aspekt von gestalteten Glasfenstern: sie waren nicht (nur) Teil der Architektur sondern vielmehr Medien, geschaffen, um darin zu lesen.

Die frühesten erhaltenen bemalten Glasfenster finden sich im Dom von Augsburg: drei Propheten, wohl aus einer größeren Serie, ca. 1060 n. Chr. Material und Darstellungtyp sind bereits voll ausgeprägt, wie wir sie aus den folgenden vier Jahrhunderten kennen. Kleine, gefärbte Glasstücke, die mit Bleibändern zusammengesetzt werden, teilweise mit Zeichnungen in brauner Emailfarbe oder mit Silberpigment bedeckt.

Die mittelalterlichen Fenster sprechen auf mehrere Bedeutungs-Ebenen:

Zunächst dienen sie als Armenbibel, d. h. als bildhafte Darstellung theologischer Inhalte für die Besucher der Kirche, die in dieser Zeit ja in der Regel nicht lesen konnten.

Die zweite Ebene ist ein Bild vom “himmlischen Jerusalem”. Zunächst natürlich überwältigt es die mittelalterlichen Menschen, die außerhalb der Kirche so gut wie nie andere Farben als Braun, Grün und Himmelblau zu sehen bekamen. Aber das bunte Glas ist nicht nur Inszenierung, es hat auch einen theologischen Aspekt, der sich aus der Vision des Hesekiel und aus der Apokalypse herleitet:

Und über dem Himmel, so oben über ihnen war, war es gestaltet wie ein Saphir. (Hes 1,26)
* Und vor dem Stuhl war ein gläsernes Meer gleich dem Kristall. (Apo 4,6)
* Und ihr Licht war gleich dem alleredelsten Stein, einem hellen Jaspis. (Apo 21,11)
* Und der Bau ihrer Mauer war von Jaspis und die Stadt von lauterm Golde gleich dem reinen Glase. (Apo 21,18)

Das bunte Glas der Kathedralen war ebenso kostbar und teuer wie echte Edelsteine. Tiefes Rot, sogennanten Goldrubin, erhielt man etwa durch Beimischung von nanoskopischen Goldpartikeln. Deshalb wurde in der Gothik das Glas auch nicht als bloßer Ersatz von echten Edelsteinen gesehen. Den Edelsteine wurde ihre Bedeutung ebenso wie dem bunten Glas wegen ihrer farbigen Durchsichtigkeit zugeschrieben.

Sainte Chapelle
Copyright-Informationen

Die Durchsichtigkeit eröffnet die dritte, spirituelle Bedeutungsebene: dem Licht selbst wird die Farbe und auch der Inhalt der Glasbilder eingeschrieben, es wird dadurch verändert, vergleichbar zum Weihwasser. Diese Vorstellung einer “Licht-Taufe” ist sicherlich das Eigentümlichste an der mittelalterlichen Glaskunst. Deren spektakulärste Beispiel ist meiner Meinung nach die Sainte Chapelle in Paris.

***
Wie eingangs bemerkt, war die Renaissance der Glasfenster im 19. Jahrhundert vollständig ekklektizistisch und zeigt kaum Eigenständigkeit – von subtilen, spirituellen Bedeutungsebenen wie im Mittelalter ganz zu schweigen.

Erst im 20. Jahrhundert entstehen wieder Glasschöpfungen die zu Recht als Kunstwerke angesehen werden können.

Naheliegend werden viele dieser Werke in Kirchenbauten eingesetzt: Le Corbusiers Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp besitzt viele kleine, bunte Fensterchen, allderings fehlt hier der Charakter eines Mediums – die Scheiben bleiben architektonische Dekoration.

Anders sieht es bei den wundervollen Glasklebebildern von Rupprecht Geiger aus, sakral, wie das Tauffenster in der Evangelischen Apostelkirche in Stockdorf oder profan, wie im Treppenhaus in der Technischen Universität München (Theresien- Ecke Luisenstraße). Geiger gelingt es, ohne jeden Ekklektizismus eine abstrakte Ausdrucksform in seinen Glasfenstern zu finden.

Auch das Fenster im Südquerschiff des Kölner Doms von Gerhard Richter besitzt wieder die differenzierten Bedeutungsebenen. Die Farbigkeit ist schon in der Herstellung der Gläser direkt den gothischen Fenstern angelehnt. Eine Armenbibel für Analphabeten, das macht Richter klar, braucht es in unserer Welt technisch reporoduzierter, scheinbar objektiver Bilder nicht mehr und hebt sich damit vom üblichen, an Holzschnitte von Ernst Barlach erinnernden Sakral-Kitsch ab. Die menschlichen Worte und Bilder treten vollständig zurück. Es wird nichts abstrahiert, nichts aus der Wirklichkeit ins Bild übertragen. Die Farbflächen sind in jedem der Felder rein zufällig angeordnet, die Felder selbst aber zueinander spiegelsymmetrisch. In dieser globalen Symmetrie löst sich der lokale Zufall auf. Dadurch kommt im überirdische Farbenspiel der Aspekt der gothischen Licht-Mystik wieder vollständig zum Vorschein.

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Ein Glasbild aber markiert regelrecht einen Wendepunkt zwischen den Epochen: das Große Glas von Marcel Duchamp von 1923. Es ist der Angelpunkt für Duchamp selbst und steht wie kaum ein anderes Kunstwerk für das ganze 20. Jahrhundert.

Der Originaltitel dieses wichtigsten Glaskunstwerks der Neuzeut lautet:

“Eine Jungfrau, von ihren Bräutigamen entkleidet, genau das.”
“La mariée mise à nu par ses célibataires, même”

Kunst, die Machine Célibataire, die Junggesellenmaschine.

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Slow theory Zeitungen

Gratwanderung im Offenen

“Slow” bedeutet, Dinge zuzulassen, die nicht den eigenen Erwartungen entsprechen. Sich ins offene Feld zu wagen oder in abgelegene Bereiche, für die es keine Schubladen gibt. Dort, an den Rändern der Gewissheit, gibt man seine Meinungssicherheit auf. Eine schwierige und ungeschützte Stelle. Aber dort wird etwas möglich, was sonst verstellt ist: Wirkliches, tastendes Hinschauen. Ein offener und unvoreingenommener Blick.

Was bedeutet das für Medien? Ein beeindruckendes Beispiel dafür war neulich in der taz zu lesen. In ihrem Beitrag “Der lauteste Leser” vollzieht Anja Maier solch eine Gratwanderung auf faszinierend trittsichere Art. Sie berichtet über einen taz-Kritiker, einen Erzfeind, der über Jahre einen Blog für taz-Schmähkritiken betrieben hat und in der Redaktion allseits als Querulant belächelt wurde. Hans Pfitzinger, so heißt dieser Mann, stellte seinen taz-Schatten-Blog von einem Tag auf den anderen ein, nachdem er seine Diagnose bekam.

Seither stirbt er, erst zu Hause, dann im Hospiz, Zimmer elf. In diesem Zimmer elf besucht ihn die taz-Redakteurin und nimmt es damit gleich mit mehreren Tabus auf, Kritik, den Tod, die Krankheit mit K. Und sie verlässt konsequent das Feld aller Erwartungen. In welche Schublade bitte soll man einen sterbenden Querulanten stecken? Soll man ihn gut oder doof finden? Dürfen Journalisten überhaupt ein Interview mit einem Sterbenden machen? Dürfen Sterbende kritisiert werden?

Der Leser, es hilft nix, muss diesen Weg mitgehen. Und wirklich, die Autorin schafft es. Sie trifft das richtige Verhältnis zwischen Distanz und Nähe, sie trifft den richtigen Ton. Sie verharmlost nicht seine Fehler, sie wahrt Respekt vor seinem Leben, sie beschönigt nicht sein Sterben, sie ist weder voyeuristisch, noch sentimental, noch verleugnet sie sich selbst. Es ist ein Stück Journalismus, wie es einem nur selten gelingt. Es irritiert, berührt und verändert den Blick. Außerhalb der Schubladen natürlich, das muss man wissen, riskiert man missverstanden zu werden, das zeigen auch die Kommentare zu dem Beitrag. Gestorben ist Hans Pfitzinger letzte Woche.

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Bücher Geschichte Literatur

Thesaurus proverbiorum medii aevi

Samuel Singer "Thesaurus proverbiorum medii aevi"Bei der Auswahl der praktischen Beispiele für Slow Media, die wir nach und nach auf diesem Blog zusammentragen, ist mir schon vor längerem aufgefallen: Unter den Büchern und Internetseiten, die mir einfallen, sind sehr viele Lexika, Enzyklopädien und Datenbanken. Dabei bin ich mir nicht ganz sicher, ob Lexika als solche schon eine besondere Qualität im Sinne der Slow Media besitzen. Oder ist es nur ein persönliches Faible für die darin im Idealfall anzutreffende gut kuratierte Auswahl an Wissenswertem zu einem mehr oder weniger breiten Thema? Sind Lexika slow oder ist es nur meine Art in ihnen querzulesen und mich mit dem Finger von Querverweis zu Querverweis vorzuarbeiten?

Ob objektive Eigenschaft des Mediums oder nur meine möglicherweise nicht repräsentative Art, mit ihnen umzugehen: Der “Thesaurus proverbiorum medii aevi” von Samuel Singer (1860-1948, diesem Rezensenten nach “nicht nur ein seriöser Gelehrter, sondern auch ein Geniesser, Freund von Volkstümlichem und Sinnlichem und Liebhaber von Frauen und Katzen“) ist für mich eines der langsamsten und zugleich auch unterhaltsamsten Bücher, denen ich begegnet bin. Hier stimmt alles – vom lateinischen Titel (“Thesaurus“, das ist fast so schön wie “Summa” oder “Codex“) über den Verlag (Weh-deh-geh) bis zu der langsamen Entstehungszeit (19. Jahrhunderts bis 2002). Aber dieses Buch ist wie fast noch keines der in diesem Blog präsentierten – Luxus. Wer sich alle 13 Bände von “A” bis “zwölf” für das Bücherregal im Arbeitszimmer zulegen möchte, ist mit guten 2.000 EUR dabei.

Aber dafür bekommt der Leser auch eine unendliche Vielfalt von Sprichwörtern aus dem romanischen und germanischen Mittelalter – von Französisch, Provenzalisch, Katalanisch, Spanisch, Portugiesisch, Altnordisch, Englisch, Niederländisch, Deutsch, Latein bis Griechisch reicht die sprachliche Welt, die hier in hunderttausenden Sprichwörtern aufgespannt wird. Dieser Blick auf das universalistische humanistische Erbe Europas ist so erfrischend weit entfernt von dem um die Jahrhundertwende so üblichen Nationalchauvinismus. Überhaupt sind hier so viele Anregungen verborgen, die unsere digitale Welt in einem neuen Licht erscheinen lassen, gerade durch die so fremdartigen Formulierungen. Zum Beispiel zum Thema Freundschaft:

“E cuia s’om aver amic Lai on no s’a ges amiguot” (Und man glaubt da einen Freund zu haben, wo man nicht einmal ein Freundchen hat).

Oder auf der anderen Seite:

“Esa es mi amigo, el que muele en mi molinillo” (Derjenige ist mein Freund, der in meiner Mühle mahlt)

Social Networks wie Facebook, Myspace oder StudiVZ als Mühlen, in denen gemeinschaftlich das Mehl für ein gutes Brot gemahlen wird. Schließlich noch:

“Entre deux amis n’a que deux paroles” (Zwischen zwei Freunden braucht es nur zwei Worte)

Was für ein schönes Plädoyer für das alltägliche Zusammenleben mit seinen Freunden auf Twitter.

***

Wer keine 2.000 Euro für diese Reihe ausgeben möchte oder kann, dem ist zu empfehlen, einen Bibliothekslesesaal in der Nähe aufzusuchen und dort in Welt der mittelalterlichen Sprichwörter einzutauchen. Eine besonders passende Atmosphäre bietet hier der Handschriftenlesesaal der Bayerischen Staatsbibliothek in München.

In Auszügen lassen sich diese Bücher auch über die Google-Buchsuche lesen – zu Zufallsfunden kommt es dabei allerdings viel seltener.

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Philosophie Wirtschaft Zeitschriften

Die “brand eins”

 

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“Slow Media,” sagt meine Freundin Anna, “das ist für mich die brand eins.” Immer, wenn sie bei ihrem Freund Peter – einem brand eins Abonnenten – zu Besuch ist und Zeit und Muße hat, nimmt sie sich eine Ausgabe des Wirtschaftsmagazins. Es ist jedesmal schön, darin zu lesen, sagt sie. “Ganz egal, ob es die aktuelle Ausgabe ist, oder eine aus dem letzten Jahr. Die brand eins ist immer lesenswert und gut gemacht, auch wenn mir nicht jeder Beitrag gefällt.” Das ist ziemlich genau auf den Punkt und beschreibt etwas, was ich mediale Nachhaltigkeit nennen möchte: Die souveräne Strahlkraft eines gut gemachten Print-Magazins über die Aktualität und den einzelnen Abonnenten hinaus. Eine brand eins bleibt über Monate und Jahre frisch. Und sie reicht für mehrere Leser.

Slow Media, sagen wir, sind von Menschen gemacht und das merkt man. Und so spürt man hinter der brand eins auch immer die Menschen, die sie machen und die immer schon, auch nach dem Scheitern des Vorgängers Econy, an dieses Wirtschaftsmagazin geglaubt haben. Daran, dass Wirtschaft und Ethik zusammenzudenken sind. Daran, dass Wirtschaftsthemen und hochwertiges Editorial Design (nach wie vor in der Verantwortung von Mike Meiré) zusammengehören. Nicht dass die Chefredakteurin Gabriele Fischer und ihr Team alle Beiträge selbst schrieben. Aber die Haltung, mit der sie der Welt und ihren Lesern gegenübertreten, und die Werte, nach denen sie ihr Magazin realisieren, schwingen bei allem wie ein durchgehender Grundton mit.

Alles Show? Nein. Diese Werte finden sich – ohne ins Detail gehen zu wollen – konsequenterweise auch in den Autorenverträgen wieder. Autoren geben hier in dem selbem Umfang Nutzungsrechte ab wie bei anderen Zeitschriften, aber sie tun es hier als geschätztes und respektiertes Gegenüber. Hinter den Kulissen wird Praktikanten vermittelt, dass ein Beitrag auch nach einem Jahr noch mit Gewinn zu lesen sein muss. Die Wirkung der brand eins auf meine Freundin Anna ist also kein Zufall, sondern erklärtes Ziel. Ein Qualitäts-Luxus, bei dem es eben nicht nur um das Abverkaufen geht, sondern auch um das Nachwirken.

Das Aprilheft 2000 der brandeins

Diese Haltung macht mutige Entscheidungen möglich. Wie das Aprilheft des Jahres 2000 (Nachhaltigkeit: bisher 10 Jahre). Es ist ein Sonderheft. Die ersten 30 Seiten sind dem damals noch weitgehend unbekannten Cluetrain-Manifest und seinen 95 Thesen zum Wandel der Märkte durch das Internet gewidmet (heute ist es längst ein visionärer Klassiker mit ungebrochener Aktualität). Es hat die Menschen, die brand eins machen, damals bewegt. Und sie haben sich von ihrer Inspiration leiten lassen, mitten im Aktienrausch, der gerade Mitte März 2000 seinen Höhepunkt hatte. “Hatten wir uns bei aller Begeisterung für den Gründer-Boom von der Neuen Wirtschaft nicht mehr erhofft als immer neue Millionäre?”, fragt Gabriele Fischer im Editorial dieser Ausgabe. Konzern-Manager und Politiker wollten zu dieser Frage keine Stellung nehmen, sie “ließen sich durch ihre Pressesprecher mit Zeitmangel entschuldigen.” Sie aber fanden es wichtig.

Wann entstand das Aprilheft? Vor dem Absturz? Im Moment der Wende? Wie es auch war. Es war mutig, in diesem Moment so deutlich auf einen krassen Gegenentwurf zu setzen. Wenn es einem nur ums Verkaufen geht, macht man sowas nicht.

Die gute Nachricht also für alle, die die Kategorie “Slow” für realitätsfern halten, lautet: Mediennutzer merken, mit welcher Haltung und welchem Anspruch ein Medium produziert wird. Sie sind bereit, dafür zu bezahlen. Slow Media können gut und erfolgreich sein.

Nun mag man einwenden, dass Anna die brand eins, die sie so schätzt, nicht selbst gekauft hat – dass Inspiration schön und gut ist, dem Verlag aber kein Geld bringt. Eine Antwort darauf gibt Annas Freund Peter: Loyalität. Der treue brand eins Abonnent gestand mir neulich, dass er selbst in den letzten Monaten gar keine Zeit mehr findet, das Magazin zu lesen. Aber dass er trotzdem nie im Leben auf die Idee käme, deswegen sein brand eins Abo zu kündigen.  Dass sie für ihn einfach dazugehört, egal wieviel Zeit er grade zum Lesen hat. Das ist Bindung zwischen einem Medium und seiner Leserschaft.

Cluetrain-These 2 in der brandeins 3/2000

Nachtrag:

Die Frage “Wann entstand das Aprilheft?” hat Gabriele Fischer soeben per Mail beantwortet: Die Dotcom-Blase blähte sich tatsächlich noch auf, als die April-Ausgabe in der ersten Märzwoche 2000 produziert wurde. Als sie nach dem 13. März platzte, war das Cluetrain-Sonderheft der brand eins schon in Druck. Auch Ulf J. Froitzheim bestätigt dies später in seinem Kommentar (s.u.).

 

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