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Disrupt Politics!

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“Wenn wir, vom Hungern matt, im Regen lagen
Und sich vor Müdigkeit die Augen schlossen,
Da ist an der Sierra-Front, im Regen,
Gar manche bittre Träne mitgeflossen.”
Jef Last

“Er sagte, es krache im Oberbau, und es krache im Unterbau. Da müsse sich sogleich alles verändern.”
(Bloch über Benjamin)

Gemeinschaften bestehen, indem die Mitglieder Aufgaben in der Gemeinschaft übernehmen, Pflichten erfüllen und an den gemeinschaftlich erlangten Erfolgen teilhaben. In einer Staatsgesellschaft delegieren Bürger Teile ihrer Aufgaben und Pflichten an die Staatsverwaltung. Über die letzten zweihundert Jahre haben die Bürger der sogenannten westlichen Welt mehr und mehr ihrer zum Teil ureigensten Verantwortungen an den Staat abgegeben – Kranken- und Altenpflege, Geburt und Sterben, Alterssicherung, Kindeserziehung und vieles mehr.

Wie diese delegierten Aufgaben zu erfüllen sind, wird über den repräsentativen Willensbildungsprozess der parlamentarischen Demokratie bestimmt. Mandatsträger werden für eine mehrjährige Zeitspanne beauftragt, sich darum zu kümmern. Dass all diese Aufgaben erfüllt werden können, müssen Fachkräfte bezahlt und mit Arbeitsmitteln ausgestattet werden. Und damit diese Fachkräfte wiederum wenigstens so in etwa mit ihren Mitteln das tun, was die Gesellschaft in ihrer Willensbildung vorgesehen hat, braucht es eine Verwaltung darüber.
***

Immer wieder wird Facebook mit einer Nation verglichen, die dann von ihrer Einwohnerzahl her – nach China und Indien – an dritter Stelle in der Welt stünde. Was macht Social Networks (und allen voran Facebook) so staats-artig?

Menschen schließen sich in den Systemen der Social Networks zu Gemeinschaften zusammen, teilen sich mit und tauschen sich aus. Meist ist der Austausch eher persönlich; auch wenn sich tausende arabische Frauen auf der Facebook Page des Persil Abaya Shapoo unter dem Dach ihres Lieblingswaschmittels zusammen finden, geht es hier doch zunächst um die kleinen Dinge des Alltags.

Aber nicht immer bleibt es beim Kleinen, Privaten. Ob Stuttgart 21, Agypten, Tunesien, Lybien oder Spanien – in den letzten Monaten finden sich große Gruppen von Menschen zusammen, zunächst, um sich auszutauschen, dann, sich einen gemeinsamen Willen zu bilden – das gemeinsame Bewusstsein, einen Zustand nicht mehr akzeptieren zu wollen, schließlich sich zu organisieren und gemeinsam zu protestieren. Und da es über die Networks stets transparent ist, wie weit sich andere der Bewegung anschließen, können sich die Protestierenden sicher sein, nicht plötzlich alleine im Regen zu stehen.

Inhalt der Proteste ist stets ein sich Zurück-Holen von Verantwortung und Einfluss, die – je nach Gesellschaftsform mehr oder weniger freiwillig – an den Staat abgegeben worden waren. Dieser Ruf “Wir sind das Volk” ist dabei nicht unproblematisch. Nur weil sich viele zu einem Thema zusammenfinden und artikulieren, heißt es noch lange nicht, dass eine Mehrheit diese Meinung teilt. Oft ist der Wille der Mehrheit völlig unklar, wie im Beispiel des Stuttgarter Hauptbahnhof. Und selbst wenn man davon ausgehen kann, dass wirklich eine Mehrheit der Betroffenen den Protest unterstützt, so fehlen immernoch die wichtigen demokratischen Korrektive des Minderheitenschutz und anderer, unverrückbarer Regeln, die unserem Verständnis von Staatlichkeit nach, selbst durch Mehrheiten sich nicht verändern lassen sollten.
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Politik wird zunehmend weniger durch Delegieren funktionieren. Die Wahlperioden scheinen uns angesichts der Bewegung von Themen in unserer Timeline vollkommen unangemessen lange – aber kürzere Perioden würden wohl lediglich zu einem ständigen Wahlkampf führen und nicht zu besserer Abbildung des Willens. Parteiprogramme scheinen uns ebenso irrelevant und unpassend, wie die seichten Inhalte der massenmedialen Nachrichten. Durch die neuen Gemenschaften und den Druck, den sie über die Social Networks aufbauen können, wird die politische Willensbildung erschüttert. Es ist aber nicht so, dass einfach eine neue Variante an die Seite der etablierten Kanäle der repräsentativen Demokratie träte, genauso wenig, wie ich glaube, dass die Internetnutzung die Zeitung oder andere traditionellen gesellschaftlichen Medien einfach nur ergänzt oder substitutiert.

Initiativen, die versuchen “Netzpolitik” irgendwie in die parlamentarischen Prozesse zu bringen, greifen notwendiger Weise zu kurz, um tatsächlich die Verwerfungen aufzuhalten. Die von den protestierenden Menschen – durch die Massenmedien neuerdings auch als Wutbürger geschmäht – geforderte Geschwindigkeit, Flexibilität und auch Kompromisslosigkeit lässt sich, meiner Meinung nach, kaum mit Fraktionszwang, Delegiertenversammlungen und Parteipräsidien unter einen Hut bringen, ohne die aber ein parlamentarisch-demokratisches System sich nicht organisieren lässt. Als eigenständige Bewegung, die, wie z. B. noch die Grünen in den Achziger Jahren, sich zusammenfindet, um letztlich ein gesamtgesellschaftliches Modell zu Verwirklichen, taugen die eher losen und spontanen Interessensgemeinschaften ohnehin auch nicht wirklich.
***

Es wird geschehen; der Parteipolitik droht das selbe Schicksal, wie der Zeitungsindustrie. Es hilft nicht, an einer Politik 2.0 wie an Symptomen einer Krankheit herumzudoktoren. Gedankliche Offenheit, dass ein jahrhundertealtes System auch scheitern kann, sollte uns den Blick frei geben, auf die Alternative, die vor uns liegen mag. Nur Ausprobieren vieler Möglichkeiten und Zulassen von Fehlern wird uns in die Lage versetzen, das, was uns an der alten Welt wichtig und teuer ist, in die neue hinüber zu heben. Dieser Wandel geschieht nicht von selbst, ist kein Naturgesetzt. Insbesondere die technologische Infrastruktur, die das Neue ermöglicht, wird gestaltet. Ist es uns wichtig, wie die Zukunft der Politik aussehen soll, müssen wir selbst Hand anlegen, nicht zuletzt an technologischen Entwicklungen und an der Ausformung der neuen, gemeinschaftlichen Systeme, wie etwa der Kultur in den Social Networks.

Semil Shah hatte auf Techcrunch bereits im Februar angesichts der Erhebungen in Nordafrika einige Überlegungen angestellt, die politischen Umbrüche als neues Social-Media-Produkt zu interpretieren. Ob dazu – wie er meint – tatsächlich Start-Ups gebraucht werden, die irgendwelche politischen Funktionen in Social Media transformieren, sehe ich nicht unbedingt. Ich denke, dass die Infrastruktur der bestehenden Social Networks, Smartphones, Video- und Photo-Networks wahrscheinlich schon ausreicht. In einem stimme ich ihm aber uneingeschränkt zu:

Politics – there is no greater market to disrupt.

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Das Recht aller Menschen, durch das Internet jederlei Gedanken und Informationen zu suchen, zu erhalten und mitzuteilen.

“Internet should remain as open as possible”

“There should be as little restriction as possible to the flow of information via the Internet, except in a few, very exceptional, and limited circumstances prescribed by international human rights law”

Mein ganzes Leben lang bin ich immer wieder durch die Vereinten Nationen und ihre Agenturen beeindruckt worden.

Vor kurzem hat der UN Sonderberichterstatter zur Lage der Meinungsfreiheit Frank La Rue seinen Bericht zur Meinungsfreiheit im Internet an die UN Menschenrechtskomission abgegeben. Ich empfehle, den Bericht zu lesen. Darin finden sich unterschiedliche Positionen sorgfältig abgewogen, die Eigenverantwortung contra die kollektive Verantwortung durch Gesellschaft oder Verwaltung, politische und ökonimische Freiheit, Recht auf Eigentum contra Gewaltexzess.

Das Urteil ist klar: es gibt ein “Menschenrecht, durch das Internet jederlei Gedanken und Informationen zu suchen, zu erhalten und mitzuteilen.” Diese dreigeteilte Forderung (suchen, erhalten, senden) ist das fundamentalste ernstgemeinte Statement, dass ich bis jetzt in der Diskussion gelesen habe. Einschränkungen dürfen nur in engstem Rahmen und nur unter Angemessenheit der Mittel getroffen werden, ausschließlich und ohne Ausnahme nur auf gesetzlicher Grundlage, in Übereinstimmung der UN-Vorgaben und nur unter Wahrung vollständiger Transparenz.

Jedem, der einseitig Rechte einschrenken möchte, können wir von nun an diese Rahmenbedingungen entgegenhalten, die die Vereinten Nationen allen Staaten als Mindeststandards nennen. Jeden, der davon abweichende Regelungen einführen möchte, können wir nun zur Rechenschaft auffordern.

Das Internet als Menschenrecht ist die konsequente Fortsetzung der Idee der Meinungsfreiheit.

Links:
Der Bericht im Original (pdf): “Report of the Special Rapporteur on the
promotion and protection of the right to freedom
of opinion and expression, Frank La Rue”

Und die Pressemitteilung.

Weiter lesen:
Virtueller Rundfunk
Die Illusion vom freien Internet

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Die Stasi und die Meme: Was ist politisch an Slow?

Was ist politisch an Slow? Neben den ästhetischen und medientheoretischen Aspekten in dem von uns entwickelten Slow-Media-Ansatz gibt es eine immer stärker zutage tretende politische Dimension. Die Sprengkraft liegt meines Erachtens in der These 6 “Slow Media sind diskursiv und dialogisch”, sekundiert von These 5 “Slow Media fördern Prosumenten”. An die Stelle des klassischen Medienkonsums, der auf der einen Seite einen Produzenten von Inhalten und auf der gegenüberliegenden Seite einen passiv-rezipierenden Aufnehmer von Informationen hat, tritt eine neue Form der Mediennutzung. Sie nähert sich der Form der Kommunikation und dem mündlichen Gespräch an. Die Rollen des Gebens und Nehmens vermischen sich, jeder kann Informationen aufnehmen und weitergeben, kann Sender und Empfänger zugleich sein.

Das ist die Voraussetzung für das, was Jörg Blumtritt den Memetic Turn nennt – die Entstehung memetischer Gemeinschaften durch den Austausch identitätsstiftender Meme, seien es die Idee der Freiheit, das Bekenntnis zu “We all are Khaled Said”, Laufenten oder die vielzitierten Katzenfotos. Diese Gemeinschaften sind nicht mehr lokal oder ethnisch begründet, sie entstehen durch Kommunikation und Austausch, ja sie untergraben bestehende gesellschaftliche Strukturen.

Pfingstmontag auf der Autobahn habe ich das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung gelesen. Dort findet sich der Beitrag “Die Akte “Tänzer”” von Renate Meinhof (Süddeutsche Zeitung Nr. 134, Pfingsten 11./12./13. Juni 2011, S. 15). Der hier geschildete Fall zeigt genau, was an Slow politisch ist.

Es geht in dem Beitrag um die Stasi-Akten über eine Gruppe junger Breakdance-Tänzer in den 80er Jahren in Neubrandenburg. Sie gerieten durch ihre eigenartig geformten Frisuren und die “ruckartige[n], tanzähnliche[n] Bewegungen” ins Visier der Staatssicherheit. Man darf annehmen, dass die Stasi ein feines Gespür für Staatsgefährdung hatte. Wie kann es sein, dass ein Staat sich durch Frisuren und tanzähnliche Bewegungen bedroht sieht?  “Der Tanz stellt keine Beeinträchtigung von bestehenden Norm- und Moralauffassungen dar. Von der Gestaltung des Tanzes ist dieser nicht geeignet, dass ihn Massen nun auf der Tanzfläche ausüben können”, schlussfolgert die Staatssicherheit Neubrandenburgs erleichtert nach eingehender Inspektion und dem Anwerben mehrerer Spitzel.

Und damit benennt sie im Umkehrschluss, wonach sie gesucht und was sie befürchtet hat: Es ist die gesellschaftszersetzende Kraft einer memetischen Gemeinschaft. Frisuren und Tanzstile sind Meme, die Identität stiften, Menschen miteinander verbinden und sich staatlicher Kontrolle entziehen können.

Die Staatssicherheit der DDR hat Meme bekämpft. Sie hat mögliche Herde nicht gesellschaftlich verankerter Gemeinschaften aufgespürt und entschärft: entweder durch die Auflösung der Gruppe oder durch ihre gesellschaftliche Integrierung durch die Einstufung als ein “anerkanntes Volkskunstkollektiv”. Die Gemeinschaft sind wir – so lautet die sozialistische Variante des “l’état c’est moi”.

Die Stasi und mit ihr die Geheimdienste und Staatssicherheitsabteilungen aller autokratischen Regierungen sind Experten im Aufspüren und Entschärfen von Memen. Die Unterbindung und Sabotage von Kommunikation (durch Spitzelei oder durch das Abschalten des Internet) ist früher und bis heute ihre Königsdisziplin. Sie fürchten nichts mehr als Benedikt Köhlers Satz “Meme zersetzen Gesellschaft“. Völlig konsequent ließ die chinesische Regierung wegen Ansteckungsgefahr sofort Suchbegriffe wie “Ägypten” oder “Tunesien” sperren, als die dortigen Dikatoren ihre Meme nicht mehr im Griff hatten.

Doch die Kommunikationswege haben ihre feste Kontur und damit ihre Kontrollierbarkeit verloren. Sie wandeln sich unter dem Zugriff, sie  verändern sich, passen sich an, umgehen Sperren, finden Umwege und neue Räume. Das ist das Potential von Kommunikation und von memetischen Gemeinschaften. Das ist politisch an Slow.

“Dringend empfohlen: TED-Gespräche über Ägypten” Von Ai Weiwei weitergeleitete chinesische Empfehlung des TED-Talks von Wael Ghonim, der Symbolfigur der ägyptischen Revolution

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Medien und andere Artefakte verändern sich kontinuierlich. Irgendwann landen sie entweder auf einer Roten Liste (der Verkehrsmittel, der Medien, der Zielgruppen etc.) oder sie werden gentrifiziert.

Zeitungen, die früher der Grundversorgung mit Nachrichten dienten, werden zum mobilen Ausweis von Bildung und Kultiviertheit. Das Logo der Zeitung ist auch aus mittlerer Entfernung besser lesbar als der entsprechende Webseitenheader auf dem iPad. Genauso wie die Transatlantikschiffahrt nur noch wenig mit Mobilität und viel mit Arriviertheit zu tun hat.

Ich verlasse Hamburg mit dem Zug.

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Die memetische Geste: “Ich höre dir zu”

Der “memetic turn”: Ein  schönes Grundkonstrukt, ein neuer Gedanke, der sich in den Beiträgen der letzten Tagen auf diesem Blog aufgefächert hat. Wir nähern uns dem Begriff, wir kreisen ihn ein. Mischen Flüssigkeiten und Ingredienzen, lösen und fügen Festkörper und Schwebeteilchen. Wer weiß, was in einem solchen Kessel entsteht.

Was bedeutet es eigentlich, Meme auszutauschen? Das habe ich mich gestern morgen gefragt und die Antwort hat mich selbst überrascht, obwohl sie eigentlich ganz einfach klingt.

Meme auszutauschen bedeutet, sich gegenseitig zu signalisieren:  “Ich höre dir zu.” Eingedenk der Etymologie, die zwischen dem grch. “Mneme” (Erinnerung) und dem französischen “même” (gleich) changiert – auch: “Ich erinnere mich an dich”, “Es gibt etwas Gleiches zwischen uns” und “Ich verbinde mit dir etwas”.

Das ist der neue Kitt der Gemeinschaften, von dem auch bei Jörg die Rede war. Es ist die Kommunikation selbst, die Gemeinschaft und Identität stiftet. Natürlich wurden Gesellschaften immer schon über Kommunikation zusammengehalten. Aber jetzt schafft die Kommunikation Gemeinschaften. Ist es das, was an memetischen Gemeinschaften neu ist?

Meme zersetzen die Gesellschaft – so lautet die vielleicht zunächst irritierende Aussage von Benedikt. Jörg spricht von einer “Korrosion“. Das Zersetzende an Memen ist, dass sie über bestehende gesellschaftliche Strukturen hinweggehen und neue Zusammengehörigkeiten, Zusammenhänge und neue Strukturen schaffen. Dynamische, sich verändernde, wabernde Strukturen. Vielleicht sogar gar keine Strukturen, sondern nur noch Gewebe, wie Benedikt in seiner Antwort auf den Thixotropie-Beitrag gemutmaßt hat.

Das Ich-höre-dir-zu des memetischen Handelns hat eine zutiefst politische Dimension. Das Nichtgehörtwerden und Keinestimmehaben gehörte lange zum Los der gesellschaftlichen Mehrheit – in allen unterschiedlichen Ausprägungen, die zwischen Demokratien und autokratischen Systemen möglich sind. Es scheint, dass sich in diesem Punkt gerade etwas ändert.

Womit wir bei den maghrebinisch-maurisch-spanischen Revolutionen wären. Man kann diese nicht alle in einen Topf werfen – auch nicht in unseren Theorienkessel – aber seit einiger Zeit fällt mir ein Muster auf: Kurz vor Ausbruch der Unruhen gibt es einen Moment, an dem die jeweiligen Machthaber hätten das weitere Geschehen beeinflussen können – durch schlichtes Zuhören und Reagieren auf das Gehörte.

Die “Revolutionen” entstanden nicht aus dem Nichts, es braute sich der Unmut über Monate, manchmal Jahre hinweg zusammen, bis schließlich aus Unbehagen die vielzitierte Empörung wurde. Und es hätte durchaus Gelegenheiten gegeben, darauf zu reagieren.

Wael Ghonim, die Orientierungsfigur der ägyptischen Revolution, berichtet auf der TED-Konferenz 2011 von diesen Anfängen. Über die Facebookseite “We all are Khaled Said” fanden innerhalb weniger Tage Tausende von Ägyptern zusammen, die ihr Regime aufforderten, rechtstaatlich zu handeln und die Mörder des Bloggers Said zur Verantwortung zu ziehen. “Angry egyptians who were asking the ministry of interior affairs: It’s enough!” Zu diesem Zeitpunkt hätten das Regime noch reagieren und handeln können. “But of course they don’t listen”, fährt Ghonim nahtlos fort (min 4:20). Alte Strukturen sind nicht reaktionsfähig. Die Ägypter haben daraus ihre Konsequenzen gezogen.

Am 6. Februar, elf Tage vor Beginn des libyschen Aufstands, wurde eine Delegation von vier Intellektuellen in Gadhafis Zelt vorgeladen. Ben Ali war schon im Ausland, Mubarak sollte fünf Tage später aufgeben. “Ihr seid jetzt also auch mit den Facebook-Kids zusammen”, begrüßte Gaddafi sie, offenbar bemerkend, dass da etwas im Busche sein könnte. Doch obwohl er selbst der Meinung ist, Mubarak und Ben Ali hätten ihr Schicksal verdient, weil sie nicht auf ihr Volk gehört hätten, kann auch er nicht entsprechend handeln. Als die vier Juristen “Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und eine Verfassung” und mehr Beteilung der jungen Generation fordern, reagiert er “verwundert” und weist die Forderungen weit von sich. “Niemand in Libyen sei scharf auf derartigen Freiheiten, solche intellektuellen Diskussionen seien nicht gefragt.” Er hatte zwar zugehört, traute aber offenbar seinen Ohren nicht und ließ die Gelegenheit ungenutzt. Die Delegation fuhr schweigend nach Hause und beschloss für den 17. Februar den “Tag des Zorns” auszurufen (Quelle: ZEIT).

Bernardo Gutiérrez berichtet kürzlich im Tagesspiegel über die gesellschaftlichen Vorbeben in Spanien, die in direktem Zusammenhang mit der Banken- und Schuldenkrise des Landes steht. Auch hier gab es vorher Kontaktaufnahmen, Ermahnungen, Aufrufe. “Es braute sich etwas zusammen.” Doch offenbar wurden diese Anzeichen ignoriert, das alte Spiel in den alten Strukturen unverändert weiterbetrieben. “Die Arbeitslosigkeit stieg weiter, die Konzerne zahlten weiter astronomische Managergehälter. Dann präsentierten die Sozialisten und die Volkspartei ihre Kandidaten für die Regionalwahlen. Darunter: zahlreiche Politiker, die unter dem Verdacht standen, sich während des Immobilienbooms illegal bereichert zu haben.” Der Widerstand formierte sich. “Die Spanische Revolution klopfte laut an die Tür. Aber niemand schien sie hören zu wollen.” Noch hätte die spanische Regierung wohl reagieren können. Sie tat es nicht. Bis die Plattform „Democracia Real Ya“ zu Demonstrationen aufrief, mit bekanntem Ergebnis.

Einanderzuzuhören und Sich-Aufmerksamkeit-Schenken ist das, was memetische Gemeinschaften verbindet. Mich, die ich mich seit vielen Jahren mit den verschiedensten Ausprägungen der Kommunikation befasse, hat dieser Gedanke sehr berührt.

 

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Memetische und massenmediale Kommunikation

Nachdem wir hier den Rahmen des memetischen Ansatzes abgesteckt haben und in diesen beiden Beiträgen konkrete Anwendungsbeispiele dargestellt haben, möchte ich im Folgenden kurz die Grundlagen der memetischen Theorie durch die idealtypische Unterscheidung zwischen massenmedialer und memetischer Kommunikation beschreiben. Idealtypisch bleibt dieses Unterfangen vor allem deshalb, weil sich beide Kommunikationsformen in der Geschichte immer wieder gegenseitig beeinflusst und durchdrungen haben.

Der wichtigste Unterschied zwischen massenmedialer und memetischer Kommunikation ist die dahinterliegende Kommunikationsstruktur: Massenmedien wie die Tageszeitung, das Fernsehen oder das Radio funktionieren fast ausschließlich so, dass wenige Sender ihre Botschaften an viele Empfänger übermitteln. Es kann zwar in Einzelfällen einen Rückkanal geben (z.B. Call-In-Sendungen oder Leserbriefe), diese stellen gegenüber dem einseitigen Normalbetrieb stets die Ausnahme dar. Memetische Kommunikation dagegen verläuft über Netzwerke, die in vielen Fällen skalenfrei sind, das heißt die Knoten und Verbindungen sind nicht zufällig verteilt, sondern weisen eine exponentielle Verteilung auf. Die meisten Knoten haben nur wenige Verbindungen, einige wenige haben dagegen sehr viele Verbindungen und können als Multiplikatoren im Kommunikationsfluss dienen. Experimente wie Milgrams Small-World-Studie (die selbst memetische Qualitäten hat) zeigen die Funktionsweise und Stärke dieser Netzwerke.

Die unterschiedliche Kommunikationsstruktur hat auch Auswirkungen auf die jeweils zugrunde gelegten Maßeinheiten. Die Leistung massenmedialer Kanäle wird in Reichweiten gemessen, also in ihrer Fähigkeit möglichst viele Menschen zu erreichen. Wer diese Menschen sind, ist dabei zweitrangig, da Erfahrungswerte dafür bestehen, mit welchen Reichweitenschwellen welche Wirkungen einhergehen. Die zentrale memetische Reichweite ist dagegen der Einfluss. Für die möglichst intensive Durchdringung einer Gemeinschaft mit einem Mem ist nicht so sehr die reine Anzahl der Kontakte maßgeblich, sondern die möglichst effiziente Nutzung von hochdistributiven Schaltstellen (in der Epidemologie nennt man diese „Super-Spreader“).

Das Leitmedium der massenmedialen Kommunikation ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts das Fernsehen. In diesem Medium wurden (und werden nach wie vor) die größten Publika erreicht. Zuvor war es das Radio und davor die Tageszeitung. Alle diese Medien wurden mit ihren großen Reichweiten immer wieder für politische Zwecke eingesetzt (als Staatspresse, Staatsfernsehen etc.). Das Leitmedium der memetischen Kommunikation dagegen ist das Internet, insbesondere die heute als Social Web diskutierten Plattformen, auf denen Nutzer eigene Inhalte publizieren können.

Die unterschiedlichen Kommunikationsstrukturen haben darüber hinaus auch Folgen für die zeitliche Dimension der Nachrichtenübermittlung. Massenmedien sind Augenblicksmedien. Die Reichweite einer Fernsehsendung baut sich nicht über die Zeit hinweg auf, sondern entsteht im Augenblick des Sendebeginns. Ebenso scharf ist das Ende gekennzeichnet – wenn die Sendung beendet ist, fällt die Reichweite sofort ab. Memetische Kommunikation ist dagegen zeitlich unspezifisch. Der Beginn der Verbreitungskarriere eines Mems kann sich über Tage oder Wochen ziehen, und das Ende ist ebenso amorph, da ein Mem immer wieder zum Leben erweckt werden kann. Im Grunde genommen stimmt der Begriff der Echtzeitkommunikation, der immer wieder dem Internet und seinen memetischen Kommunikationen zugerechnet wird, gar nicht. Die Massenmedien waren die echten Echtzeitmedien.

Wenn in der memetischen Theorie immer wieder von der „Gesellschaft zersetzenden“ Qualität von Memen die Rede ist, bezieht sich das nicht auf einen systemtheoretischen Gesellschaftsbegriff (Gesellschaft als umfassendstes Kommunikationssystem), sondern auf die stärker kulturanthropologische Unterscheidung von Ferdinand Tönnies zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Der Kern dieser Unterscheidung: Während Gemeinschaft durch den Wesenswillen zusammengehalten wird (z.B. Verwandtschaft, Nachbarschaft oder Freundschaft) und auf dem ökonomischen Prinzip des Teilens  basiert (z.B. das gemeinsame Mahl), ist Gesellschaft durch den Kürwillen und den ökonomischen Tausch geprägt. Gesellschaftliches Handeln entsteht nicht aus dem gegenseitigen Verständnis, sondern aus der Erwartung einer Gegenleistung. So holzschnittartig und altmodisch das alles klingt, Tönnies Text aus dem Jahr 1887 beschreibt sehr detailliert die Dynamik der memetischen Kommunikation. Die erfolgreiche Verbreitung eines Mems funktioniert im Wesentlichen durch den Wesenswillen der Gemeinschaften im Web – Meme werden nicht getauscht, sondern geteilt („Sharing“). Aber nicht nur Tönnies steht hier Pate, sondern auch Max Weber mit seiner Unterscheidung von Vergemeinschaftung (= soziales Handeln, das sich am Zugehörigkeitsgefühl der Handelnden orientiert) und Vergesellschaftung (= soziales Handeln, das sich an Rationalitätsstandards wie Zwecken oder Werten orientiert).

Die charakteristische rhetorische Figur der memetischen Kommunikation ist die Metapher. Die Metapher schlägt eine Brücke zwischen zwei höchst unterschiedlichen Bedeutungskontexten. Der Übertragungskontext ist dabei höchst esoterisch und kann außerhalb der Gemeinschaft häufig nicht verstanden werden. Man braucht nur wenige Minuten auf Twitter mitlesen und wird im Minutentakt auf übertragene Bedeutungen in einem mikroskopischen Verweisungskosmos stoßen, die nur mit großer Mühe entschlüsselt werden können. In den meisten Fällen bleibt ein unübersetzbarer Rest, der in der Übersetzung verloren geht („lost in translation“). Besonders deutlich sieht man das an der großen Zahl toter Metaphern, die wir heute aufgrund unserer zeitlichen und kulturellen Distanz nicht mehr entschlüsseln können. Dagegen ist die Sprache der Massenmedien, wenn sie überhaupt mit rhetorischen Figuren arbeitet, metonymisch (man denke an typische Zeitungsschlagzeilen wie „Berlin erklärt Paris den Krieg“) oder ironisch-zynisch (z.B. in der TV-Berichterstattung über Gewaltverbrechen).

Der Journalist ist in massenmedial geprägten Kommunikationssystemen der mit Abstand wichtigste Akteur. Er wird als eine Art genialer Schöpfer der transportierten Inhalte skizziert, auf dessen Arbeit das ganze System aufbaut – so wie der Wissenschaftler Wissen schafft oder der Künstler Kunst. Diese vulgärsoziologische Great-Men-Perspektive ist mittlerweile nicht allein in den Geschichtswissenschaften passé, sondern auch in den anderen Gesellschaftsbereichen immer schwerer zu halten. Für die memetische Theorie spielen „geniale Schöpfer“ von Anfang an keine Rolle mehr. Zum einen, da eine effiziente Vernetzung viel wichtiger ist als individuelle Genialität. Zum anderen wird die Vorstellung der Schöpfung durch eine stärker prozessuale Betrachtung abgelöst. Meme werden nicht im stillen Kämmerlein erdacht, sondern entstehen im Vollzug. Nur die wenigsten Meme lassen sich auf einen aristotelischen Urheber zurückführen („Wer hat die Katzenfotos erfunden?“), sondern haben sich allmählich im kommunikativen Hin und Her der Gemeinschaften zu dem entwickelt, was sie sind.

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Den Fortschritt genießen

Das Tempo, in dem sich unsere Welt verändert, wird immer schneller. So viele neue Technologien, wie zur Zeit erfunden wurden, gab es in keinem Zeitabschnitt zuvor. Kurz: Wir leben in einer Zeit allerschnellsten Wandels. So erzählen uns das auf jeden Fall die Journalisten, Politiker, Wissenschaftler und Philosophen. Aber ist das tatsächlich der Fall? Kann die Menschheit des frühen 21. Jahrhunderts tatsächlich kaum mehr Laufen vor lauter Innovationskraft? Oder erleben wir gerade die Entstehung eines neuen posthistorischen Mythos hautnah mit? Tim Harford argumentiert in der aktuellen Wired genau in diese Richtung.

Klar, niemand bestreitet, dass das Internet die Weltgesellschaft vom wirtschaftlichen Substrat bis zum geistigen Überbau kräftig durchgeschüttelt hat und viele Veränderungen sich erst in ihren ersten Vorbeben abzeichnen. Aber die technologische Basis aller shiny & new Internetplattformen ist schon mehr als 40 Jahre alt. Die Grundlage der Datenübertragung von hochmodernen Plattformen wie Facebook, Foursquare oder Google ist das TCP/UP-Protokoll, die “Specification of Internet Transmission Control Program” aus dem Dezember 1974. Mit jedem Link, auf den wir klicken, setzen wir einen Oldtimer in Bewegung.

Aber was für die virtuelle Mobilität gilt, trifft erst recht auf die physische Mobilität zu. Wenn ich innerhalb Europas mit dem Flugzeug unterwegs bin, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, mit einem echten Oldtimer unterwegs zu sein – die Boeing 737 hatte ihren Erstflug im April 1967. Im Langstreckenbereich sieht das nicht anders aus: Die Boeing 747 ist regulär seit 1970 unterwegs und was die außerirdische Mobilität betrifft: Das Space Shuttle wird vermutlich dieses Jahr im hohen Alter von 34 Jahren endgültig musealisiert.

Dagegen hat sich bei dem sehr viel langsameren Fortbewegungsmittel Fahrrad seit den 1970er Jahren sehr viel mehr getan. Die damals üblichen gemufften Stahlrenner sind fast schon ausgestorben. Die neuen Werkstoffe Kunststoff (“Karbon”) oder Aluminium haben den Stahl fast schon abgelöst. Hier muss man schon eher auf die Mechanik blicken, um auch hier die Entschleunigung festzustellen: Das Prinzip des Umwerfers, der die Kette relativ grobmotorisch von einem Blatt zum nächsten lenkt, hat sich seit
den 1960er Jahren nur marginal verändert.

Tyler Cowen beschreibt diese Ungleichzeitigkeit der technologischen Entwicklung in seinem wunderbar barock überschriebenen Band “The Great Stagnation: How America Ate All The Low-Hanging Fruit of Modern History,Got Sick, and Will (Eventually) Feel Better”. Obwohl der Titel eher pessimistisch klingt, ist die Grundaussage eigentlich eine frohe Botschaft: Die “stagnierenden” Technologien wie Internetprotokolle, Rasierhobel oder Umwerfer funktionieren schon so gut, dass jeder weitere marginale Verbesserungsschritt unmäßige Kosten verursachen würde. Die Wired-Antwort lautet: mehr und bessere Fortschrittsförderung. Aus Slow Media-Perspektive könnte man aber auch schlussfolgern: Genießen wir den Fortschritt, den wir schon haben.

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Memetic Chic – Revolution und Struktur nach dem Ende der Moderne

Struktur1 – Anti-Struktur – Struktur2. So einfach klingt das gesellschaftliche Grundmuster bei Anthropologen wie Victor Turner. Am Anfang ist Struktur und am Ende wird wieder Struktur sein. Nur dazwischen gibt es ein liminales Stadium des Flusses. Aber ist das wirklich so? Oder ist das nur eine, naja, sagen wir einmal kryptostrukturkonservative Ideologie? Man braucht gar nicht so weit zu gucken, um alternativen Entwürfen zu begegnen, ganz gleich ob es die biblische Schöpfungsgeschichte ist oder die Thermodynamik. Dort ist Struktur nur ein relativ kurzer Zwischenstopp auf dem Weg.

Struktur war in der großen Erzählung der Moderne gleichbedeutend mit Gesellschaft. Der anti-strukturelle Zustand wurde im Verlauf der Menschengeschichte gezähmt und in einen mehr oder weniger wohlwollenden eisernen Käfig gesperrt. Ob man Max Weber oder Norbert Elias befragt, sie alle spielen dasselbe Lied von der allmählichen Zivilisierung. Einmal mit Blick auf die Ertrags-, einmal mit Blick auf die Kostenseite. Gesellschaft bedeutet: so viel Sicherheit, aber auch so viel Herrschaft wie nie zuvor.

Was wir in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher gesehen haben, ist eine überwältigend starke Rückkehr der Gemeinschaft. Im Marketing spricht man längst nicht mehr von der Massenkommunikation, sondern von Brand Tribes, die sich um Marken scharen wie früher um Stammestotems. In der Soziologie betrachtet man verwundert die „Rückkehr“ von Religion, Ethnizität und Kommunalismus und die schleichende Transformation der massengesellschaftlichen Grundpfeiler der Gesellschaft in zombieartige Schwundstufen. Egal, ob es um Massenheere, Massendemokratie, Massenkonsum oder Massenbildung geht. Überall dasselbe Bild von hermetischen, von außen schwer durchschaubaren neotribalen Gemeinschaften mit ihren ganz eigenen Hierarchien, Riten, Werten, Dialekten und Ernährungsgewohnheiten.

Sabria nennt es in ihrem Blogbeitrag über die Spanische Revolution „Thixotropie“: „Sie lassen sich durch Bewegung in Bewegung bringen, sie verändern ihren Aggregatzustand, ihre Form und ihre Kontur.“ Man könnte aber auch Meme dazu sagen. Meme sind hochgradig thixotrop, sie bewegen sich durch Gemeinschaften, verändern dabei immer wieder ihre Form und Kontur und schaffen dabei genau das, worin Gesellschaft immer schlechter ist: sie binden Menschen zusammen. Allerdings nicht ohne die beunruhigende Nebenwirkung: Sie verändern den Aggregatzustand von Gesellschaft. Anders ausgedrückt: Meme zersetzen Gesellschaft.

Insofern bin ich auch skeptisch, inwiefern die stark von memetischen Kommunikationsmustern geprägte Spanische Revolution wieder in einen stabilen und kalten – kurz: gesellschaftlichen – Aggregatzustand zurückfinden kann. Übergang ist mir ein viel zu optimistisches Wort. Meme brauchen keine angemessenen Strukturen. Ihnen reicht es, wenn sie sich verbreiten. Notfalls werden die gesellschaftlichen Schwundstrukturen à la Favela Chic zusammengebastelt. Genau nach demselben Muster, nach dem in diesem Blog immer mal wieder Blutwunder und Ketchup aneinandergeheftet werden.