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Papier und ökologische Nachhaltigkeit

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Traunsteiner Salzmeierzyklus “Nachhaltigkeit”, sagt der Mann in dem Video auf der Leinwand, “das ist für mich wenn man immer dasselbe macht. Das Gegenteil von flexibel”.
– Für mich einer der stärksten Momente auf dem Mediamundo Kongress zur nachhaltigen Medienproduktion, der dieser Tage in Berlin stattfand.

Für die einen ist der Begriff schon zum Marketing-Buzzword verkommen, während er für die meisten Menschen schlicht missverstanden wird. Gute Voraussetzungen, eine leere Hülse zu werden, ein toter Begriff.

Der Term Nachhaltigkeit stammt aus der Forstwirtschaft. Den Waldbauern ist bereits seit Jahrhunderten klar, dass man nur soviel abholzen darf, wie nachwachsen kann – da in dieser Industrie oft zwei oder mehr Generationen zwischen Saat und Ernte vergehen, ist es nicht verwunderlich, dass spätestens mit Aufkommen sehr holzintensiver Produkte am Ende des Mittelalters, wie den wachsenden Flotten immer größerer Segelschiffe oder den Salinen mit stark zunehmendem Bedarf an Brennstoff zum Verdampfen der Sole, die nachhaltige Wirtschaft explizit in die Ökonomie Eingang gefunden hatte. Erst im Zeitalter des Stahl und der Steinkohle – später des Erdöls – wurde das Konzept Nachhaltigkeit zunächst scheinbar überflüssig.

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Von den etwa 390 Millionen Tonnen Papier, die jährlich produziert werden, verbrauchen Europa und die USA alleine knapp die Hälfte. Deutschland, mit einem pro-Kopf-Verbrauch von 256 kg pro Jahr (1950 waren es gerade einmal 40 kg), liegt dabei nur knapp hinter den USA und weit über dem europäischen Durchschnitt. Alleine der Anteil von 7,4 Millionen Tonnen Papier in Deutschland, die aus frisch geschlagenem Holz und nicht aus Altpapier hergestellt werden, entspricht etwa der Menge die Afrika als Ganzes verbraucht. Zunächst sind es die gewaltigen Waldflächen – 20% der globalen Holzernte werden für Papier verwendet; mehr als 50 Millionen Kubikmeter alleine in Deutschland. Daneben schlägt vor allem der Wasserverbrauch bei der Papierherstellung zu Buche. 7 Liter Wasser werden für ein Kilogramm Papier verbraucht, der größte Teil davon bleibt als giftiges Abwasser zurück.

Bis Druckerzeugnis nachhaltig produziert werden, scheint es also noch ein weiter Weg. Zwar werden Tageszeitungen heute vollständig aus Altpapier hergestellt, bei allen anderen Drucksachen ist der Altpapieranteil aber seit Jahren rückläufig. Es gilt drei Ziele zu verfolgen, sollen Printmedien ökologisch nachhaltig werden:

1) Vermeiden
Insbesondere bei Werbedrucksachen bleibt es unverständlich, wie selbst grundsätzlich wertvolle Marken ungeniert Spam-Mailings an nahezu ungefilterte Verteiler schicken. Auch die Katalogversender schaffen es so gut wie nie, sich auf Kunden einzustellen, die das Altpapier leid sind, das regelmäßig Briefkasten und Papiertonne verstopft. Von den Schweinebauchanzeigen und Beilegern, die die meisten Zeitungsleser ohnehin aus der Zeitung direkt in die Tonne schütteln (“de-bonning” – ja, das hat sogar einen Namen!). Dann das Ausdrucken von Mails und anderem Büro-Kram. Und schließlich auch ein Appell an die Drucker-Hersteller: solange es selbst technisch geschultes Personal nicht schafft, auf Anhieb zweiseitig Auszudrucken, bleibt die Rückseite eben ungenutzt.

2) Wiederverwerten
Recycling-Papier muss wieder Standard werden. Die öffentlichen Verwaltungen in Deutschland berufen oft sich auf EU-Recht und sehen in der Einschränkung auf bestimmte Papiersorten eine Wettbewerbsverzerrung. Auch bei öffentlichen Ausschreibungen wird keine Recycling-Quote vorgegeben. Dass dies nur ein Vorwand ist, belegen die Niederlande mit ihrer Selbstverpflichtung zu ökologischem Papier in der Verwaltung. Aber auch hier sind die Hardware-Hersteller gefragt: solange unklar bleibt, inwieweit Recycling-Papier zu höherem Verschleiß und häufigerer Wartung der Geräte führt, bleibt beim Einsatz von Recycling-Papier zumindest Unsicherheit.

3) Zertifizieren
Auch eine strikt ökologisch Ausgerichtete Druckerei ist auf Papier mit Frischfasern angewiesen. Auf Bäume als Rohstoff ist nicht zu verzichten. Aber genau hier liegt ja eine der Stärken von Papier im Vergleich etwa zu elektronischen Medien: es ist nachwachsender Rohstoff, ja in gewissem Umfang wird sogar CO2 in Papier dauerhaft gebunden. Es ist Zeit für eine Rückbesinnung auf die Waldwirtschaft der Zeit vor der industriellen Revolution – das Holz, dass geschlagen wird, nachwachsen lassen.

International transparente Testate wie die Zertifizierung der Forest Stewardship Council geben den Papierverarbeitern die Sicherheit, tatsächlich nachhaltig produzierten Rohstoff zu kaufen und nicht nur Greenwashing zu betreiben. Erfreulicher Weise wird das FSC-Zertifikat bereits in weiten Teilen der Industrie anerkannt und eingesetzt. Die Nachfrage nach sauberem Holz ist allerdings so stark, dass es kaum möglich ist, den Bedarf mit FSC-Zertifiziertem Wald zu decken. Damit es nicht reine Utopie bleibt, muss ein Zertifikat Kompromisse eingehen, was natürlich auch nicht unproblematisch ist. “Während wir für die einen schon als unglaubwürdig gelten, sind unsere Kriterien für viele andere gleichzeitig immernoch unbezahlbar.”, beschreibt Uwe Sayer von FSC Deutschland die Zwickmühle zwischen Glaubwürdigkeit und Praxis.

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Papier ist ein wunderbares Medium – es hält seinen Inhalt unter einigermaßen guten Bedingungen über Jahrhunderte lesbar. Keine Abspielgeräte sind notwendig, keine Stromversorgung. Unter diesem Aspekt ist Papier an sich schon immer nachhaltig. Umso wichtiger ist es, jetzt den Schritt zu gehen, auch der Papiererzeugung eine langfristige Perspektive für die Zukunft zu geben!

“Nein, das ist eine Überraschung! Und eine herrliche Überraschung!” sagte das Papier. “Nun bin ich feiner als zuvor, und nun werde ich beschrieben werden! Was kann nicht alles geschrieben werden! Das ist doch ein außerordentliches Glück!” Es wurden die allerschönsten Geschichten darauf geschrieben, und die Leute hörten, was darauf stand, und es war richtig und gut, es machte die Menschen weit klüger und besser, als sie bisher waren, es war ein wahrer Segen, der dem Papier in den Worten gegeben war. Hans Christian Andersen, Der Flachs.

Weitere Beiträge zum Thema Druck:

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This is the end of publishing

(auf us.penguingroup.com)

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Die Wallfahrer

Von Tuntenhausen nach WeihenlindenWir haben wohl hienieden
Kein Haus an keinem Ort,
Es reisen die Gedanken
Zur Heimat ewig fort.

Allein die Zeitspanne, in der Carl Amery seine Romanfiguren auftreten lässt, ist unzweifelhaft slow. Am Anfang des Romans “Die Wallfahrer” steht das wundertätige Verlöbnis des Innsbrucker Einsiedlers Gropp zur Muttergottes von Tuntenhausen im Jahr 1641. Dann macht sich 1782 eine bunte Runde Wasserburger Laienschauspieler inklusive Freimaurer auf den Weg, um auf einer Wallfahrt nach Tuntenhausen die Große Nachricht von der nahenden Sintflut zu verkünden:

“Die Nachricht von der Universalen Wallfahrt, die allenthalben und aus allen Zeiten, aber möglichst sogleich aufzubrechen habe, wenn anders die krachenden Säume der Welt noch halten und die sieben Siegel des Gerichts nicht vollends aufgesprengt werden sollten.”

Mit dem dritten Pilger, dem Grafen Innozenz Maria I von Busselwang-T., wird das Wallfahren deutlich politischer. Nicht mehr die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit oder die herannahende Katastrophe steht im Mittelpunkt des Gräflichen Planens und Organisierens, sondern die politische Mission eines bäuerlichen Reformprogrammes. Mit dem jüngsten Akteur Marco von B., der Mörder von Kurt Eisner, gerät in den Trubel gerät die Pilgerroute in das verhängnisvolle Spannungsfeld zwischen völkischen und katholischen Bewegungen im Bayern nach dem Ersten Weltkrieg. Am Science-Fiction-tauglichen Ende steht dann das “Tschiritt” des Roten Klammerhörnchens, das durch die Hochbaumetage des mittlerweile menschenleeren Chiemgaus des Jahres 50.000.868 springt.

Von Tuntenhausen nach WeihenlindenDurch die zahlreichen Wallfahrten nach Tuntenhausen scheint kontinuierlich das Long Now der Religion. Die einzelnen Episoden finden zwar in großem zeitlichen Abstand zueinander statt, durchdringen sich aber immer wieder. In Anlehnung an Charles Taylor könnte man dies wie folgt ausdrücken: Die vertikale Dimension des Sakralen bricht in die empirisch-reale horizontale Lebenswelt hinein. Ein Beispiel dafür ist der Weg des Grafen Innozenz Maria I zu einer Wunderheilerin, auf dem auf einmal Elemente der 80er Jahre des 20. in die des 19. Jahrhunderts durchscheinen:

“Reiterhof Hechsenraith stand weiß auf blankem grünem Emailblech, ein schwarzer Roßkopf darüber, ein roter Pfeil darunter; […] Es war ihm klar, daß mit dem Schild etwas nicht stimmte: solche Materialien, solche Farben waren nicht zu haben – oder zumindest hierorts nicht üblich.”

Aber diese Begleiterscheinungen der krachenden Säume der Welt irritieren die Menschen nicht allzu sehr. Sie nehmen diese umgekehrten Madeleine-Erlebnisse als Bestätigung ihres Tuns, ihrer Wallfahrt hin. Ganz anders als zum Beispiel die Kleinstadtbewohner in Philip K. Dicks “Time Out Of Joint“, für die das reflexartige Tasten nach einem Lichtschalter, den es gar nicht gibt und noch nie gab, zu einer tiefen psychologischen Krise führt. Der Menschen Pilgerschaft auf Erden, so könnte man das mit Bernhard Setzwein lesen, ist zu einem bloßen Feiertagsritual verkümmert. An dieser Stelle wird der Roman dann doch ganz modern: Da sie die Zeichen nicht erkennt, muss die Menschheit letzten Endes auch untergehen (anders als in dem zehn Jahre zuvor erschienenen “Untergang der Stadt Passau” gibt es hier kein Danach mehr). So endet der Roman des Grünen Vordenkers Amery mit einer Erde, die ganz bei sich sein kann.

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Thesaurus proverbiorum medii aevi

Samuel Singer "Thesaurus proverbiorum medii aevi"Bei der Auswahl der praktischen Beispiele für Slow Media, die wir nach und nach auf diesem Blog zusammentragen, ist mir schon vor längerem aufgefallen: Unter den Büchern und Internetseiten, die mir einfallen, sind sehr viele Lexika, Enzyklopädien und Datenbanken. Dabei bin ich mir nicht ganz sicher, ob Lexika als solche schon eine besondere Qualität im Sinne der Slow Media besitzen. Oder ist es nur ein persönliches Faible für die darin im Idealfall anzutreffende gut kuratierte Auswahl an Wissenswertem zu einem mehr oder weniger breiten Thema? Sind Lexika slow oder ist es nur meine Art in ihnen querzulesen und mich mit dem Finger von Querverweis zu Querverweis vorzuarbeiten?

Ob objektive Eigenschaft des Mediums oder nur meine möglicherweise nicht repräsentative Art, mit ihnen umzugehen: Der “Thesaurus proverbiorum medii aevi” von Samuel Singer (1860-1948, diesem Rezensenten nach “nicht nur ein seriöser Gelehrter, sondern auch ein Geniesser, Freund von Volkstümlichem und Sinnlichem und Liebhaber von Frauen und Katzen“) ist für mich eines der langsamsten und zugleich auch unterhaltsamsten Bücher, denen ich begegnet bin. Hier stimmt alles – vom lateinischen Titel (“Thesaurus“, das ist fast so schön wie “Summa” oder “Codex“) über den Verlag (Weh-deh-geh) bis zu der langsamen Entstehungszeit (19. Jahrhunderts bis 2002). Aber dieses Buch ist wie fast noch keines der in diesem Blog präsentierten – Luxus. Wer sich alle 13 Bände von “A” bis “zwölf” für das Bücherregal im Arbeitszimmer zulegen möchte, ist mit guten 2.000 EUR dabei.

Aber dafür bekommt der Leser auch eine unendliche Vielfalt von Sprichwörtern aus dem romanischen und germanischen Mittelalter – von Französisch, Provenzalisch, Katalanisch, Spanisch, Portugiesisch, Altnordisch, Englisch, Niederländisch, Deutsch, Latein bis Griechisch reicht die sprachliche Welt, die hier in hunderttausenden Sprichwörtern aufgespannt wird. Dieser Blick auf das universalistische humanistische Erbe Europas ist so erfrischend weit entfernt von dem um die Jahrhundertwende so üblichen Nationalchauvinismus. Überhaupt sind hier so viele Anregungen verborgen, die unsere digitale Welt in einem neuen Licht erscheinen lassen, gerade durch die so fremdartigen Formulierungen. Zum Beispiel zum Thema Freundschaft:

“E cuia s’om aver amic Lai on no s’a ges amiguot” (Und man glaubt da einen Freund zu haben, wo man nicht einmal ein Freundchen hat).

Oder auf der anderen Seite:

“Esa es mi amigo, el que muele en mi molinillo” (Derjenige ist mein Freund, der in meiner Mühle mahlt)

Social Networks wie Facebook, Myspace oder StudiVZ als Mühlen, in denen gemeinschaftlich das Mehl für ein gutes Brot gemahlen wird. Schließlich noch:

“Entre deux amis n’a que deux paroles” (Zwischen zwei Freunden braucht es nur zwei Worte)

Was für ein schönes Plädoyer für das alltägliche Zusammenleben mit seinen Freunden auf Twitter.

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Wer keine 2.000 Euro für diese Reihe ausgeben möchte oder kann, dem ist zu empfehlen, einen Bibliothekslesesaal in der Nähe aufzusuchen und dort in Welt der mittelalterlichen Sprichwörter einzutauchen. Eine besonders passende Atmosphäre bietet hier der Handschriftenlesesaal der Bayerischen Staatsbibliothek in München.

In Auszügen lassen sich diese Bücher auch über die Google-Buchsuche lesen – zu Zufallsfunden kommt es dabei allerdings viel seltener.

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Kents Materia Medica

Aconitum napellusCalcarea leads to little ideas … it compels the mind to littleness, to little ideas, or to dwell on little things, but his mind … is forced to dwell upon things that he cannot put aside.

Der amerikanische Homöopath James Tyler Kent bezeichnete seine über 1000 Seiten umfassende Materia Medica als Untersuchung nur einiger der wichtigsten Punkte, denn „a complete digest would be endless“. Das Ergebnis sind sehr dichte Beschreibungen von knapp 200 homöopathischen Arzneien. Damit stellt er sich in die Tradition der großen Homöopathen wie Constantin Hering oder Carroll Dunham, übertrifft diese aber in Tiefe und Schärfe. Allein der Eintrag über Sulphur umfasst 138 Seiten.

Das Buch lässt sich auf ganz unterschiedliche Weise lesen: als empirische Skizzen von Vergiftungserscheinungen (“a record of actual occurrences, of events that really took place”) hervorgerufen durch Giftplanzen. Aber gleichzeitig kann man die Kapitel über das Kraut der Hekate, den Eisenhut (Aconitum napellus), die Tollkirsche (Belladonna) – “dolo in terra et loco” – oder den Giftefeu (Rhus toxicodendron) auch als düstere Ausflüge an die Grenzen der menschlichen Vernunft sehen:

The patient feels the violence of his sickness, for he is under great nervous irritation and excitement … Many times he actually predicts the moment or the hour of his death. If a clock is in the room, he may say that when the hour hand reaches a certain point he will be a corpse.

Dieser Ausschnitt aus der Beschreibung des Eisenhutes zeigt für mich deutlich die faszinierende lovecraftsche Intensität der Sprache dieser Materia Medica. Was für ein kindlich-packendes Bild der Todesangst, der Blick auf die Uhr verbunden mit der Wahnvorstellung, an einem bestimmten Punkt ist es dann vorbei.

Besonders faszinierend sind Stellen, an denen man hinter der sehr präzisen und konkreten Beschreibung einen Rest Unübersetzbares spürt. Diesen Lost-in-Translation-Momenten begegnet man in der Traditionellen Chinesischen Medizin immer wieder, zum Beispiel in Beschreibungen wie den auf- und absteigenden Winden, die sich nicht in unsere (Wissenschafts-)sprache übersetzen lassen. Aber auch in den Aufzeichnungen des Amerikaners Kent gibt es solche Spuren, zum Beispiel in seiner Beschreibung des bittersüßen Nachtschattens, Dulcamara, einem homöopathischen Durchfallmittel:

One needs to be in the mountains at the close of the summer season to know what the condition is. If you go into the mountains at such a time, either in the North or the West, you will notice that the sun’s rays beat down during the day with great force, but along towards sunset if you walk out a draft of cold air comes down that will chill you to the bone. This will make the baby sick; it is too warm to take the child out in the middle of the day, and so he is taken out in his carriage in the evening; he has been overheated in the house during the day, and then catches this draft in the evening.

Schon aus diesem Absatz spricht deutlich der Unterschied zwischen der modernen westlichen Medizin und komplementären Systemen wie der Homöopathie – er steckt in der Sprache und der Rolle von Metaphern. So geht es in der Homöopathie immer wieder um Phänomene, die sich nicht aus ihrem jeweiligen Kontext loslösen und in eine objektive, neutrale Sprache übertragen lassen. Der partikulare Dulcamara-Zustand lässt sich nicht ohne große Verluste in universalistische Kategorien wie Frösteln, Fieber und Durchfall übertragen.

Die Materia Medica von James Tyler Kent wurde zuletzt von B. Jain Publishers in New Delhi aufgelegt und lässt sich am bequemsten direkt aus Indien, zum Beispiel bei Aggarwal Overseas bestellen. Preis ca. 13 EUR inkl. Porto (Luftpost).

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Abbildung aus der Flora von Deutschland Österreich und der Schweiz (1885) aus der Virtuellen Biologischen Bibliothek

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Moby-Dick von Herman Melville

Moby-Dick or, the Whale“Call me Ishmael.”
Die Spielhandlung von “Moby-Dick or, The Whale” ist knapp, spröde wie der erste Satz des Romans. Wenn man sie jemanden erzählt, der das Buch nicht kennt, muss dieser den Eindruck bekommen, es handle sich um eine Novelle oder Kurzgeschichte. Nicht zuletzt deshalb eignet sich die Geschichte vom Kapitän Ahab, der in seiner Raserei gegen den weißen Wal Schiff und Leben verliert, gut, verfilmt zu werden. Kein Wunder, dass auch ich meine erste Begegnung mit “Moby-Dick” dem hervorragende Europa-Hörspiel zu verdanken habe.

Um diese novellenartige Handlung baut Herman Melville seine Texte, Essays, Reportagen, die oft nur noch sehr lose mit dem Handlungsgerüst verbunden sind. Und diese Textsammlung – denn das trifft den Corpus “Moby-Dick” erheblich besser, als der Begriff Roman – ist es, was mich das Buch immer wieder, jedes Jahr zur Hand nehmen lässt. Neben Zettels Traum und Fluß ohne Ufer” ist es das sloweste Buch, das ich kenne. Empfehlenswert ist die Penguin-Ausgabe mit Einführung, Glossar mit schönen wie aufschlussreichen Abbildungen aus zeitgenössischen Stichen, die insbesondere die nautischen Fachbegriffe schnell verständlich machen.- Man kann es Aufschlagen, und findet Erbauung an jeder Stelle.

Großartig, wie Melville anhand der multiethnischen Seefahrer-Gemeinschaft von Nantucket eine bewunderswerte kosmopolite Toleranz skizziert. Jeder ist beim Walfang akzeptiert, mag der kultureller Hintergrund noch so fremdartig sein. “We canibals must help these Christians.” raisoniert Queequeg, der ozeanische Harpunier und kehrt die koloniale Perspektive damit einfach um. Aus Randnotitzen, wie der Frage nach der Zubereitung der Chowder, “Clam or Cod?”, entwickelt sich ein ganzes Kapitel über fischiges Essen.
Und schließlich entfaltet uns Melville in zahlreichen Passagen geradezu eine Kulturgeschichte des Walfangs, beginnend mit einer Cetologie, der wissenschaftlichen Walkunde, bei der er sich überaus kritisch und kenntnisreich mit der zeitgenössischen zoologischen Forschung auseinandersetzt; um dann aber wieder in eine überaus merkwürdige Methapher abzugleiten, in welcher die Wale mit Büchern einer Bibliothek verglichen werden, von den Folianten – Blauwal und Pottwal – bis zu den Klein-Oktav-Bänden, den Delphinen und Tümmlern.

Bei all der erzählerischen Ablenkung vergisst man jedoch nie, worum es im Buch tatsächlich geht; denn es schwingt stets düster die Vorahnung der Katastrophe mit. Die Namen tragen gleichsam das Geschick ihrer Träger. Der Erzähler Ishmael (“Gott hat erhört die Stimme des Knaben”, Gen 21,17, wird also gerettet, aber:), das Schiff, die Pequot, benannt nach einem im 18 Jahrhundert ausgerotteten Indianerstamm, ihre Eigner, Captain Peleg (hebräisch “Zerteilung”, Gen 10,25) und Bildad (“Auch der Mond scheint nicht helle, und die Sterne sind nicht rein vor seinen Augen: wie viel weniger ein Mensch, die Made, und ein Menschenkind, der Wurm.” Hiob 25,5).

Und nicht zuletzt die tragische Hauptperson, Kapitän Ahab (“Dass Ahab mehr tat, den HERRN, den Gott Israels, zu erzürnen, denn alle Könige Israels, die vor ihm gewesen waren.” 1 Könige 16,33).

Ahab führt uns zum Grundmotiv von Moby-Dick: Erhabenheit; die Erkenntnis der Machtlosigkeit des Menschen vor der Natur.

Zunächst scheint es noch, als sei es vor allem die Natur da draußen, verkörpert durch die wilde See und den Wal, die uns fremd bleibt und feindseelig gesinnt ist. Doch mehr und mehr wird im Laufe der Geschichte klar: es ist unsere eigene Natur, die wir in unserem Inneren tragen, der wir nichts entgegensetzen können. Sie ist es, vor dem wir am Ende des Buches Angst empfinden können.
Anders, als das Holzbein, das Ahab trägt, mit dem er umzugehen gelernt hat, so dass seine Einbeinigkeit für die Mitreisenden nicht mehr als Behinderung wahrgenimmen wird, sind die Verletzungen der Seele nicht offensichtlich. Wir können nur erahnen, welche Schmerzen Ahab auf den Wal projeziert, durch dessen Tod er für sich Erlösung erhofft.

He piled upon the whale’s white hump the sum of all the general rage and hate felt by his whole race from Adam down; and then, as if his chest had been a mortar, he burst his hot heart’s shell upon it.

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Bachs Kantatenwerk

Bach Cantatas Website“Aber gerade in diesem Augenblicke erwacht das antike Ideal des Zusammenwirkens von Dichtkunst und Musik zur dramatischen Darstellung der religiösen Ideen noch einmal zu neuem Leben und bezaubert die protestantische Kirchenmusik. Es zieht ihr voran mit dem Reize des großen Ideals, zugleich aber auch in dem Unvermögen der deutschen Poesie jener Zeit.” (Albert Schweitzer)

Das Kantatenwerk von Johann Sebastian Bach gehört für mich zu seinen spannendsten Werken, da er mit den gut 200 Kantaten eine ganze musikalische und liturgische Welt aufspannt. Jeder Sonntag erhält in einer eigenen Kantate musikalisch seine Form. Damit entsteht ein immergleicher Zyklus von Kantaten, der sich jedes Jahr wiederholt, zugleich aber dem Zuhörer mit jedem Umlauf neues zeigt. Ein äußerst langsamer Kreislauf, der überraschenderweise neben dem wunderbaren Einführungsbuch von Alfred Dürr auch im Internet seinen Niederschlag gefunden hat.

Die “Bach Cantatas Website“, auf den ersten Blick eine schroffe, Web 1.0-Homepage, offenbart erst bei zufälligem Klick auf eine Kantate, zum Beispiel BWV 144 “Nimm, was dein ist, und gehe hin” die hier angebotene Informationstiefe. Auf den Einzelseiten erfährt man nicht nur alle erdenklichen Informationen über Entstehung, Notierung, liturgischen Bezug und alle Tonaufnahmen (gleich mehrere Dirigenten wie Pieter Jan Leusink, Ton Koopman, John Eliot Gardiner, Philippe Herreweghe, Gustav Leonhardt, Nikolaus Harnoncourt, Masaaki Suzuki haben sich der Herausforderung gestellt, den kompletten Zyklus einzuspielen), sondern kann sich den Text der Kantate auch auf Katalanisch oder Chinesisch ausgeben lassen oder sich die Noten ansehen (und ausdrucken).

Aber es handelt sich hierbei nicht um ein reines Kantaten-Lexikon, sondern auch eine Diskussionsgemeinschaft, die auf hohem Niveau ebenfalls in einem langen Zyklus über die Kantaten und ihre Aufnahmen debattiert. Letzte Woche z.B. drehte sich das Gespräch um Kantate BWV 156 “Alles nur nach Gottes Willen” – und zwar bereits das dritte Mal (2003, 2007, 2010).

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Anathem

Neal Stephenson - AnathemKaum ein Roman scheint auf den ersten Blick so gut zum Thema Slow Media zu passen wie “Anathem” von Neal Stephenson.

Die Vorstellung einer gespaltenen Welt aus zwei Sphären: eine schnelle postmoderne tribale Kultur aus Sekten, Erweckungsbewegungen und Einkaufszentren sowie einer naturwissenschaftlich-monastischen (eigentlich: naturphilosophischen) Welt, die zurückgezogen in Klöstern lebt, sich mit esoterischen Themen wie der Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik befasst und deren Türen sich nur alle zehn bis zehntausend Jahre für einen Austausch mit der anderen Sphäre öffnen.

Die Inspiration durch die extreme Verlangsamung von Kunstwerken wie dem John-Cage-Orgelprojekt in Halberstadt oder der Long-Now-Foundation mit ihrer 10.000-Jahre-Uhr und den fünfstelligen Jahreszahlen – Willkommen im Jahr 02010! – liegt auf der Hand. Das Konzept ist also slow par excellence. Leider schießt Stephenson mit anderen Elementen über das Ziel hinaus: er hat seiner Welt – der Roman spielt auf dem ziemlich erdähnlichen Planeten Arbre – eine neue Sprache, Orth, gegeben, die zwar der englischen ähnlich ist, aber eben nicht ganz. Dementsprechend fällt das Glossar leider zu kurz aus, um wirklich slow zu sein, aber auch zu lang, um ignoriert zu werden. Die philosophischen und naturwissenschaftlichen Hintergründe sind, wie man es von Stephenson erwarten kann, sehr souverän eingeflochten, aber ich wühle mich dann doch lieber selbst durch Ockhams Sentenzenkommentar als durch die Orth-Variante mit dem neuen Namen “Gardan’s Steelyard“.