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Ägypten und der Rest der Welt

Klassische Revolutionsikonografie. Foto: Richard Gutjahr

Ich weiß nicht, welche alten Reflexe mich am vergangenen Wochenende dazu bewegt haben, doch immer wieder durch die öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramme und deutsche Nachrichten-Sender zu schalten. Völlig ungerührt vom historischen Geschehen im Maghreb wurde hier das traditionell nachrichtenfreie Wochenendprogrammschema samt Florian Silbereisen und Wintersport abgehakt (ähnlich stoisch übrigens wie Präsident Mubarak seine Regierungssimulation weiterführt). Das Fernsehen hätte bei mir wirklich eine Chance gehabt, als nationales Lagerfeuer in historischen Situationen. Aber während Ereignisse wie Schnee oder Hochwasser echte Sondersendungen wert sind, schafften es 100.000ende Ägypter, die ihr Leben für etwas riskieren, das möglicherweise Freiheit ist, nicht.

Eugène Delacroix: La Liberté guidant le peuple

Stattdessen wurde fast nur während der schmalbegrenzten Norm-Nachrichten berichtet, und auch hier merkte man den Redaktionen geradezu an, wie verzweifelt sie nach “Relevanz” für die quotenrelevante Zielgruppe suchte (hier gilt offenbar der vermutete Zuschauerwunsch als Maßstab für Nachrichtentauglichkeit): Was an der Lage in Ägypten könnte den deutschen Zuschauer bloß interessieren? Und so wurde schamlos von der Lage an den ägyptischen Badestränden berichtet und von den möglichen Auswirkungen auf die deutsche Börse. Ich finde das noch heute beschämend. Das ist eine Beleidigung aller Zuschauer.

Anzeige im "Express", 30. Januar 2011

Ich sparte mir das dann und hielt es so, wie CNN mir ohnehin vorschlug: “stay with CNN”. Und mit dem englischen Al-Jazeera-Livestream. Und mit Twitteraccounts, die aus Ägypten berichteten. Und mit Richard Gutjahr. Der Nachrichtenmann des Bayrischen Rundfunks und Journalist reiste kurzentschlossen von Israel nach Kairo und berichtet per Twitter und auf seinem Blog. Alleine für die Fotos lohnt es sich, dort hinzusehen. Wer seinem Twitterstream folgt, weiß, dass er sich öfter in Israel aufhält und so eine höchst interessante Perpektive auf die Entwicklungen hat: die hiesige und die dortige. Wer weiß, dass Ägypten und Israel Nachbarstaaten sind und ein wenig im Geschichtsunterricht aufgepasst hat, muss zugeben, dass das ein Grund ist, da zuzuhören – trotz möglicher gleichzeitiger Selbstdarstellung. Der eine hält es eben so, der andere so. Thomas Knüwer meint, dass eine Unterstützung für die Roaminggebühren Richard Gutjahrs besser angelegtes Geld ist als GEZ-Gebühren. Ich bin nach den letzten Tagen geneigt, ihm zuzustimmen.

Sie sind bewaffnet: mit Fotohandys. Foto: Richard Gutjahr

So schwerfällig sich die öffentlich-rechtlichen und privaten (ja, jetzt muss man es leider sagen: alten) Medien zeigen, so schnell und unbürokratisch handeln die neuen Medien: die Unternehmen Twitter, Google und SayNow legten kurzerhand eine Wochenendschicht ein und das Ergebnis war “speak2tweet“: ein Service, der es jedem erlaubt, per Telefon Nachrichten auf Twitter zu veröffentlichen. Man wählt eine Telefonnummer, spricht seine Nachricht auf Band und diese wird unter dem Twitter-Account http://twitter.com/speak2tweet veröffentlich. Das verleiht den vom Internet abgeschnittenen Ägyptern im wahrsten Sinne des Wortes eine Stimme. Und so oft wir auf diesem Blog kritisch über Google berichtet haben (z.B. hier und hier): genau das ist es, was Medien können und auch tun sollten. Das ist wohltuend angesichts des Versagens klassischer Medien.

Foto: Richard Gutjahr

Man mag einwenden, dass diese Stimmen subjektiv sind. Ja, das sind sie. Sie sind subjektiv. Und ja, Fakten sind wichtig, aber subjektive Eindrücke eben auch (ein schönes Beispiel aus dem österreichischen Fernsehen hier). Diese Eindrücke sind wichtig und informativ – nicht nur obwohl, sondern gerade weil sie subjektiv sind. Was zählen Fakten in diesen Zeiten? Die Fakten und verifizierten Informationen können wir in Ägypten derzeit in der offiziellen Presse und den Staatssendern nachlesen und ansehen: scheinbar aufrechte Ägypter demonstrieren für Mubarak, der Präsident hat die Sicherheitslage im Griff, der Vizepräsident ist bereits dabei, die geforderten Reformen anzuweisen  und auch sonst gibt es keinerlei Grund zur Unruhe. Das ist die offizielle Version derjenigen, die gewohnt sind, Fakten zu schaffen. Alles andere sei nur Hörensagen*, die Meinung Einzelner, Subjektivität.

Aber das ist genau da, wo grade Geschichte passiert.

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* Nachtrag: “Hütet euch vor Gerüchten und hört auf die Stimme der Vernunft” heißt es in einer Propaganda-SMS, die zu verschicken die ägyptische Regierung Vodafone genötigt hat.

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Eine Auswertung dieser Situation und welche Rolle die Reaktionsfähigkeit für die Medienevolution hat, finden Sie nebenan auf dem Slow-Media-Institutsblog

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Watch it happen

Ich habe ja eine bekannte Schwäche für die geheimnisvollen Entstehungsmechanismen offener Werke. Nun können wir dem aktuellen Beispiel gelebter Kollaboration Wikipedia beim Wachsen, Schrumpfen, Verfälscht-, Verbessert- und Verändertwerden live in die Karten und ihren zahllosen Autoren in Echtzeit über ihre Schultern schauen.

Das hübsche Modul entstand im Rahmen dieses Themenspecials der ZEIT. Anlass ist das 10jährige Jubiläum der Onlinenzyklopädie Wikipedia. Bei dieser Gelegenheit führt die ZEIT nicht nur vor, wie man mit einer ausgewogenen Komposition von digitalen, statischen und bewegten Medien überzeugt, sondern auch, wie schön und effektiv das Teilen ist: Jeder, der möchte, kann im Handumdrehen dieses Widget auf seiner eigenen Website einbinden.

Also seht her, meine Lieben, so etwas sieht man nicht alle Tage. Und, liebe ZEIT: Könntet ihr dasselbe auch für Open-Software-Code und Volksmärchen einrichten, bitte? Danke!

(Für den Hinweis danke ich Prof. Peter Haber, der sich wie ich auf der Wikipediaforschungskonferenz CPoV in Leipzig mit dem Thema befasst hat)

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Le Conseil de l’Europe à Strasbourg. Ein Fotoessay.

Im November war ich in den Europarat in Strasbourg eingeladen. Dort fand eine Konferenz statt, die “Assises internationales du journalisme et de l’information”. Die Konferenz in Kooperation mit dem Europarat und dem französischen Kultusministerium hatte den Titel “Du bruit ou de l’info?”. Besonders am Herzen liegt Jérôme Bouvier, dem Organisator der Konferenz, das Thema “slow journalisme” und wie die journalistische Qualität in der heutigen Zeit rentabel sein kann. Ich war eingeladen, auf dem Podium zum Thema “Contre l’Info low cost, vive la Slow Info!” zu sprechen – als Vertreterin des “Mouvement Slow Media allemand”. Mit mir im Saal der Librairie Kléber waren Patrick de Saint-Exupéry, David Dufresne und Thomas Baumgartner, die alle – auf ihre eigene Weise und in jeweils anderen Medien – Slow Media Praxis par excellence betreiben, auf Papier, im Web, im Radio. Sehr gewinnend, dieser Eindruck über den nationalen Tellerrand. Von ihren Projekten und Geschäftsmodellen wird noch im Laufe des kommenden Jahres zu sprechen sein.

Hier nun zunächst, weil sie mich so beeindruckt hat, ein Fotoessay über die völlig abgefahrene retro-futuristische Architektur des Europarates. Sie wurde von dem französischen Architekten Henry Bernard entworfen und stammt aus dem Jahr 1977. So sah damals die Zukunft aus.

Der Plenarsaal von außen, ein organisch geschwungenes Pilzdach. Im umliegenden Gebäudetrakt befinden sich die durchnummerierten Sitzungssäle.

Kabelsalat im Europarat: Der Plenarsaal von innen.

Freie Zirkulation der Ideen: Das Interieur des Conseil de l’Europe im Eingangsbereich. Großartig. Ich widerstehe der Versuchung, den Handlauf als Kugelbahn auszuprobieren.

Die Sitzungssäle: N° 3…

… N° 6

… N° 8

… und die N° 11. Großartig.

Ich kann gar nicht genug davon bekommen.

So sehen die Sitzungssäle von innen aus: Schräge Architektur mit farblich abgestimmten Wänden, Sesseln und Simultanübersetzerkabinen.

Hier kommen schließlich die unterschiedlichsten Nationen zusammen, da wirkt Farbharmonie Wunder.

Ein Sitz im Rat.

Der abgedunkelte Saal 6, während einer Filmeinspielung. Thema der viereinhalb Stunden langen und tiefgründigen Debatte war das Bild der Banlieues in den französischen Medien. Ein sehr französischen Thema. “Dans les banlieues, les journalistes sont hors sol” – in den Vororten sind Journalisten außerhalb ihres Terrains.

Eine kleine Pause: Apéro-Presse. Auch eine sehr lobenswerte französische Erfindung.

Rauchen ist natürlich verboten. Klar, bei den Teppichböden an den Wänden…

Konferenzausrüstung mit Paul Steiger im Hintergrund. Von Pro Publica, New York (er vertritt das philantropische Geschäftsmodell).

Jetzt wieder raus, die geschwungene Treppe hinab. Beim Ausgang den Ausweis zum Auschecken aus der Sicherheitsschleuse nicht vergessen.

Das Gebäude des Conseil de l’Europe von außen: eine Festung. Erkennbar sind die schrägen Außenwände der Sitzungssäle.

Gleich nebenan: Das Europaparlament. Der Taxifahrer sagt, dass die Abgeordneten an drei Tagen im Monat statt in Brüssel in Strasbourg tagen. Als ich vorbeikam, war Licht.

Auf zum Straßburger Bahnhof, auch eine schöne Architektur. Gute 100 Jahre früher als das Gebäude des Europarates, Stahlbögen vom Ende des 19. Jahrhunderts. Von wann war noch der Eiffelturm?

Frankreich. Ein Kranz für die Helden der Résistance unter den Bahnangestellten. Zwölf Minuten Bahnfahrt später bin ich wieder in Deutschland.

[zu der Konferenz in Strasbourg siehe auch diesen Beitrag]
[Essay auch hier veröffentlicht]

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Let it slow: Weihnachtsempfehlungen Teil III

Und nun auch von mir zwei Empfehlungen für Weihnachten. Sie sind beide sowohl zum Schenken geeignet wie auch dazu, sich ausgiebig mit ihnen zwischen den Jahren zu beschäftigen. Das ist ein Faktor, den man beim Schenken – und erst recht beim slowen also nachhaltigen Weihnachts-Beschenken – nicht unterschätzen sollte. Denn zwischen den Jahren haben wir Z e i t. Und vielleicht haben wir auch Kinder, die bekanntermaßen nach Heiligabend zur Erfüllungsdepression neigen und gehegt werden wollen.

Kommen wir zur ersten Empfehlung:

1. Filme von Jacques Tati.

Jacques Tati ist – wie auch sein berühmterer Kollege Charly Chaplin – ein Perfektionist gewesen, der seine Filmszenen akribisch choreographiert und minutiös durchkomponiert hat. Am Ende des Boulevard Saint Michel, dort wo er auf die Seine stößt, gab es früher in Paris ein Kino, in dem nur Tatifilme liefen.

Einer meiner Lieblingsfilme (die es auch auf DVD gibt, sonst könnte man sie ja nicht verschenken) ist „Die Ferien des Monsieur Hulot“ (“Les Vacances de Monsieur Hulot”). Es passiert: eigentlich nichts. Außer Ferien am Meer, um genau zu sein in der Bretagne. Das bedeutet: Es gibt dort Ebbe und Flut. Und das ist es,was auch in dem Film passiert: das Meer kommt und geht. Es kommt wieder und geht wieder und dazwischen passieren Dinge. Man geht an den Strand, zum Mittagessen und wieder zurück. Es wird Tag und Nacht. Die Feriengäste kommen an und am Ende des Filmes gehen sie wieder.

Auch als Zuschauer kommt man immer wieder zu den Filmen zurück. Es macht also Sinn, die Filme auch zu besitzen. Jedesmal wird der aufmerksame Zuschauer neue Neben- und Hintergrundszenen entdecken und sich an ihnen erfreuen. Ich empfehle ausdrücklich, einzelne Szenen zurückzuspulen und nochmals (gegebenenfalls in slow motion) mit der Familie genauer anzusehen und sich an der Präzision der Abläufe zu erfreuen: Die Eingangsszene am Bahnhof oder das Kartenspiel im Hotel de la Plage. Das wird mit jedem Hinschauen schöner.

Auch und immer wieder sehenswert ist „Jour de Fête“: Das Erstlingswerk des Regisseurs und Schauspielers Jacques Tati. Er ist – wie ich soeben beeindruckt bei Wikipedia nachgelesen habe – „französisch-russisch-holländisch-italienischer Herkunft“, eine wilde Mischung. Ein Postbote (gespielt von Tati selbst) versucht, inmitten von Tradition und Moderne, mit der Technik Schritt zu halten. „Rapidité! Rapidité!“ Schon 1953 gab dieser Ruf unerbittlich den Takt an. Ein schöner Film, um über Langsamkeit, Schnelligkeit und über die Zeit nachzudenken. Wer übrigens meint, Kinder hätten nur Sinn für schnelle Schnitte, kann sich mit Tati-Filmen eines Besseren belehren lassen.

2. Die zweite Empfehlung: das Buch „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel“ von Franz Fühmann.

Ein sperriger Titel, ein großartiges Buch. Und das für jede Phase im Leben, also für Kinder und Erwachsene gleichermaßen geeignet. Das Sprachspielbuch mit Illustrationen von Egbert Herfurth erschien zuerst 1978 im Kinderbuchverlag in Ostberlin und ist inzwischen in einem schönen gebundenen Nachdruck im Hinstorff-Verlag neu aufgelegt worden.

Es beginnt alles mit Langeweile, diesem Zustand, den zu verhindern man heute den Kindern allerlei an die Hand gibt. Dabei kann Langeweile durchaus fruchtbar sein. Wer weiß schon, was einem einfallen würde, wenn man sich ihr eine Weile lang aussetzen würde? Wie in diesem Buch: Große Ferien, endloser Regen und fünf Kinder, die aus Langeweile mit Sprachspielen beginnen. Heraus kommt ein Buch über die deutsche Sprache, antike Philosophen und türkische Umlaute.

Erstes ist dieses Buch wahnsinnig gelehrt, und zwar auf ganz leichtfüßige Weise. Zweitens befasst es sich mit dem, woraus unsere Kommunikation besteht, mit der Sprache, ihren Philosophen, ihren Regeln, ihren Sonderheiten und mit dem Material, aus welchem die Sprache gewebt wird, mit Vokalen, Konsonanten, Umlauten. Es ist drittens wunderbar typografisch gesetzt und illustriert und fühlt sich – viertens – gut an. Außerdem und fünftens: Es ist ein unschätzbares Zeitzeugnis. Wie Franz Fühmann (der fünf Jahre vor dem Fall der Mauer 1984 verbittert über seinen Staat starb) inmitten des sozialistischen Realismus darlegt, welche Wahrheit in biblischen Texten steckt – das ist ein großer Moment. Eine Gratwanderung, die heute kaum mehr nachvollziehbar ist. Es ist wieder die Sprache, die einen Alltag abbildet, in dem eine Einstufungskommision darüber befand, ob man Kultur machte, und der in Begriffen wie “Staatsapparat” (Wort mit fünf A) und “Kulturbundschulung” (Wort mit fünf u) wieder aufscheint. Ein historisches Glossar gibt im Anhang Aufschluss über diese inzwischen fremden Alltagsvokabeln. Es gehört also einfach – sechstens – in jeden Haushalt.

Weiterlesen:
Langsame Weihnachten (Weihnachtsempfehlungen, Teil I)
Slow-Media Weihnachtsgeschenke von jbenno (Teil II)

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Schrott-Nachtrag

DEN Schrott, Herr Ringier, / gibt’s nur auf Papier.

Wenn Print sich in Echtzeit versucht: Bericht über eine Show, die nicht stattgefunden hat.

(Dank an Dietmar Näher/Politblogger für das Foto)


Originalbeitrag
zum Thema

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Slow communication und falsche Tramper

Ich habe soeben einen Beitrag auf TEXT-RAUM geschrieben, in dem es um eine Daimler/Benz Kampagne geht (Details zur Kampagne und möglicher Vorläufer finden Sie dort).  Weil es auch ein Thema für slow ist, greife ich hier den Gedanken der slow communication noch einmal auf.

Ein junger Tramper macht sich auf den Weg, mit dem erklärten Ziel, sich nur von einem sicheren und warmen Benz mitnehmen zu lassen – und allenfalls lieber seinen modellgeeigneten Körper der Kälte auszusetzen. Da standhaft zu bleiben ist sicherlich bei einer Temperatur von minus 10 Grad eine große Herausforderung. Olaf Kolbrück (Off the Record)  vermutet anderes: Die vermeintlich experimentelle Reportage scheint von der Werbeagentur Jung von Matt für Mercedes Benz inszeniert  zu sein, der Schnee und die Kälte sind mithin nur die malerische Kulisse für eine Authentizitäts-Aufführung erster Klasse.

“Slow Media nehmen ihre Nutzer ernst. Sie treten ihren Nutzern selbstgewusst freundschaftlich gegenüber und haben ein gutes Gespür dafür, für wieviel Komplexität […] die Nutzer bereit sind”, lautet die achte These unseres Manifestes.

Auf die Kommunikation von Unternehmen bezogen bedeutet das: Der Verbraucher möchte ernstgenommen werden. Ihm gegenüber Authentizität zu simulieren, ihm wichtige Kontext-Informationen vorzuenthalten – das bedeutet: Ihn nicht ernstnehmen. Und auf das Markenprodukt bezogen, für das eine solche Inszenierung werben soll, bedeutet das im Umkehrschluss: Wenn der Verbraucher die Wahrheit über dein Produkt und deine Interessen erfahren würde, würde er es nicht kaufen. Das ist im Falle von Daimler nicht angemessen. Verbraucher wissen, dass Unternehmen Interessen haben. Sie können das einordnen. Sie können damit umgehen. Und sie sind durchaus bereit, sich von Unternehmen und ihren Produkten überzeugen zu lassen. Sie hätten eine Reise des frierenden Helden bestimmt auch gerne verfolgt, wenn sie gewusst hätten, dass er für den neuen Mercedes-Claim “Das Beste oder nichts” antritt. Bei echtem Einsatz und wirklicher Reportage – warum nicht? Es wäre doch geradezu ein schöner Gedanke, wenn man die Werbeversprechen der Claims auf diese Weise einmal auf Leib und Nieren prüft. Und selbst wenn auf der Reise Unerwartetes passiert, ja selbst wenn der Held in den Bergen die Reise abbrechen müsste – was hätte man denn verloren? Man hätte ein wenig Kontrolle über die Geschichte abgegeben, aber man hätte an Glaubwürdigkeit gewonnen.

“Slow Media werben um Vertrauen”, These 14. Sie lässt sich nahtlos auf die mitgedachte “slow communication” übertragen. Um Vertrauen Werben. Hinter slow communication stehen echte Menschen. Und das merkt man auch. Mit einem falschen Tramper lässt sich keine slow communication machen. Es sei denn, man sagt, dass er falsch ist. Dann vielleicht schon.

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“Den Schrott gibt es im Internet”? Eine kurze Replik

Gerade noch war ich in Strasbourg bei einer Journalismus-Konferenz im Europarat, den Assises du Journalisme. Gerade noch habe ich den über 200 französischen Teilnehmern der Debatte zur Rentabilität von “Slow Info” davon berichtet, wie die deutschen Diskurse zum Journalismus verlaufen. Davon, dass der Grabenkampf zwischen den Positionen “Nur Papier garantiert den Qualitätsjournalismus” und “Nur das Internet garantiert die Zukunft” der Auslöser für unser Slow Media Manifest und die Entwicklung medienübergreifender Qualitätskriterien war. Ich schaute in erstaunte französische Gesichter (nun ja, der französische Journalismus ist mit seinen eigenen Fronten beschäftigt, der “droite” und der “gauche”). Während ich das sagte, kam es mir selber absurd und überzogen vor. Hatte ich nicht doch in der Rückschau ein wenig übertrieben? Gibt es wirklich Menschen, die Medienqualität strikt nach der Mediendarreichungsform und nach nichts anderem beurteilen, nicht nach Sorgfalt der Recherche, Sprachstil, Themenauswahl, Inspiration, Haltung? Gibt es sie wirklich? Es schien mir plötzlich selbst fast karrikaturhaft.

Und heute lese ich die Worte von Michael Ringier, der auf den Zeitschriftentagen des VDZ tatsächlich genau das sagt, jetzt heute, nicht vor 10 oder 20 Jahren: “Den Schrott gibt es im Internet”, mithin: Die Qualität gibt es (nur) nur auf Papier.

Ganz ehrlich, ich bin diese Ignoranz allmählich leid. Lieber Herr Ringier, lassen Sie es mich noch einmal sagen, nur einmal noch: SCHROTT gibt es im Internet UND auf Papier, genauso wie es QUALITÄT auf Papier UND im Internet gibt. Kein klar denkender Mensch wird das im Ernst leugnen können.

Pardon, meine Lieben. Ich habe ein wenig die Contenance verloren. Ich war wohl noch etwas aufgewühlt durch Herrn Döpfner im Handelsblatt. Dabei habe ich eigentlich alles andere zu tun als mich hier zu echauffieren. Zum Beispiel einen Bericht über meine schöne Konferenz in Strasbourg zu schreiben. Von dem Podium, auf dem ich saß, mit einem Journalisten, der ein Printmagazin produziert, einem Hörfunkredakteur und einem Betreiber eines Webportals. Und die alle ihren Hörern, Lesern, Zuschauern höchste und ausgesuchte Qualität bieten. Von den Journalisten und Journalistikstudenten, die zahlreich und mit sehnsüchtigen Augen im Publikum saßen und die alle danach lechzen, diese Qualität zu produzieren und aufwendige, hochwertige, hintergründige Arbeit machen wollen, keinen Schrott. Und die nach “modèles economiques” suchen, die es ihnen erlauben, davon zu leben. Während diese Studenten gierig danach sind, Qualität zu produzieren, reiben sich Verlagsleiter an Nebenkriegsschauplätzen ab, anstatt nach praktikablen neuen Modellen zu suchen. Darum sollten Sie sich kümmern, Herr Döpfner und Herr Ringier: Finden Sie Geschäftsmodelle, die es diesen zukünftigen Journalisten ermöglichen, Qualität zu machen! Oder finden Sie jemanden, der ihnen dabei hilft. Denn ja, es gibt Modelle und noch jede Menge unentdeckte und ungedachte Möglichkeiten. Aber diese Nischen findet nur, wer innehält und hinsieht. Das geht nicht mit business as usual und Pfeifen im Walde. Die Sache hier ist ernst, meine Herren. Es geht um die Zukunft des Journalismus. Das sollte ein bisschen Aufmerksamkeit und Neudenken wert sein.

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Einen kurzen Nachtrag gibt es hier.

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Über Glaubwürdigkeit, Schreiben und Handeln

Ich habe neulich über Twitter einen Hinweis auf einen Artikel der Financial Times Deutschland bekommen: Bernd Oswald schreibt dort über den “PR-Journalismus im digitalen Zeitalter”. In dem Beitrag wird der Eindruck vermittelt, dass das Medium Internet zu einer unseligen Verflechtung von PR und Journalismus geführt habe, von Unternehmensinteressen und öffentlicher Berichterstattung. Diese Aussage kann ich so nicht gelten lassen. Im Gegenteil handelt es sich bei der Vermischung von PR und Journalismus um eine ungebrochene Tradition, die mit dem Erscheinen der Online-Medien am Publikationshorizont nichts zu tun hat. Zu Beginn der 90er Jahre war es jedenfalls Gang und Gäbe und keinesfalls unüblich, dem Publikationswunsch eines Pressetextes bei der Redaktion mit dem Hinweis auf die Anzeigenabteilung Nachdruck zu verleihen. Vom Internet war damals noch weit und breit nichts zu sehen. Die Personalausstattung der Redaktionen war schon zu dieser Zeit so ausgelegt, dass ein gewisser Prozentsatz an externen, aus der PR stammenden Beiträgen durchaus einkalkuliert war. Man könnte meinen, dass sich dieses Problem nun erledigt habe (keine Anzeigenkunden, keine Interessenskonflikte), aber so ist es – noch – nicht.

Als Beispiel für die Interessensvermischung durch das Digitale führt der Beitrag Richard Gutjahrs Berichterstattung von der iPad-Premiere an: “PR-Journalismus reinsten Wassers” (diese Formulierung stammt nicht von Oswald selbst, sondern von Thomas Leif, dem Vorsitzenden des Netzwerks Recherche). Und hierin besteht meiner Meinung nach ein Missverständnis. Die Frage lautet: Ist es – und unter welchen Umständen – journalistisch legitim, positive Berichte über Unternehmen und ihre Produkte zu machen? Wann ist es glaubwürdig, wann ist es ein Interessenskonflikt? Wie subjektiv darf ein Journalist sein? Ist es “Selbstvermarktung, Aushöhlung journalistischer Standards und […] reine Werbung”, wenn ein Jounalist sich 24 Stunden lang in New York in die iPad-Warteschlage einreiht und von dort aus live per Twitter, Blog und Printbeiträgen berichtet? Die Fragen sind interessant und führen zu Haltungs-Unterschieden im Print- und Online-Journalismus.

Darf ich mich zum Beispiel als Autorin des Wirtschaftsmagazins brand eins noch positiv über sie äußern? Ist es ein Interessenskonflikt, wenn wir als Slow Media Autoren die brand eins als Prototyp erfolgreicher Slow Media darstellen? Darf ich das? Meine Antwort hierauf lautet: Ja. Weil ich selbst weiß, wie die Reihenfolge ist: Meine Haltung zu brand eins war schon vorher da, nur deshalb bin ich überhaupt dort Autorin geworden. Wenn ich sie nicht für ein beeindruckendes Qualitätsmedium gehalten hätte, hätte ich ihr nicht als erstem Publikatinsmedium meinen Twitter-Beitrag angeboten. Ergo wäre ich nicht brandeins-Autorin geworden. Ich handle und schreibe nach meiner (vielleicht fehlbaren aber) wirklichen Überzeugung.

Eine ähnliche Haltung unterstelle ich auch bei Richard Gutjahr, wenn er zur iPad-Premiere nach New York reist. War er schon vorher überzeugter, erklärter und offener Apple-Addict? Ja (zumindest nach dem Eindruck, den ich von ihm über längere Zeit über Twitter und seinen Blog gewonnen habe). Ist es unglaubwürdig, wenn er dann nach New York fährt und davon berichtet? Eher nein. Macht es ihn käuflich? Möglicherweise, vielleicht auch nicht. Die Handlung wäre jedenfalls nicht mit einem beliebigen anderen Event, dem Launch eines xy-Produktes austauschbar.

Wie also definieren wir Glaubwürdigkeit? Ich denke, Glaubwürdigkeit ist da, wenn Stimmigkeit zu dem sonstigen Handeln und Schreiben besteht. Das setzt zwei Dinge voraus: Der Mensch und seine Haltung müssen hinter der Reportage, den Zeilen, dem Podcast sichtbar werden (dies ist übrigens These 14 unseres Slow Media Manifestes). Und die Leser müssen mehrere Beiträge desselben Autors gelesen haben, um ihn überhaupt einschätzen zu können. Das verlangt eine Bindung zwischen Lesern und Schreibenden, die ich dem Journalismus in Zukunft wünsche, ob nun print oder online.

Neulich habe ich einen Anruf im Auftrag einer namhaften überregionalen Print-Tageszeitung aus großem Verlagshaus erhalten. Es ging um ein “Themenspecial”, in dem wir mit unserer Agentur eine Anzeige schalten sollten. Neben dem Anzeigenplatz wird unverhohlen der redaktionelle Teil der Qualitätszeitung mitverkauft:  “1/3 Seite neutraler Fachbeitrag in dieser Ausgabe, der aus Ihren Themenvorschlägen von unserem Autor für Sie erstellt wird”, so lautet es im Angebot. Ich bin nicht naiv. Ich weiß, dass das Realität ist. Trotzdem irriert es mich, dass mein Gesprächspartner nicht einmal merkte, wie absurd es ist, Geld zu zahlen, um sich dann im redaktionellen Teil als Expertin für authentische Kommunikation zu präsentieren.  Ich habe Mitleid mit den Autoren, die diese Texte schreiben und am Ausverkauf des Journalismus mitwirken müssen. Natürlich spürt man in solchen Texten nicht mehr den Menschen, der sie schreibt. “Entfremdung” ist das Wort, das mir dazu einfällt als jemand, der selber schreibt. Es geht nur noch um die Schaffung anzeigenfreundlicher redaktionellen Umfelder. Ob es um das Thema “Knochen und Gelenke”, “Versicherungen” oder “Kommunikation der Zukunft” geht, ist völlig egal. Der journalistische Text (für den ich noch immer mütterliche Gefühle hege) wird hier zur völlig austauschbaren Ware.

“Selbstvermarktung, Aushöhlung journalistischer Standards” – hier sehe ich sie tatsächlich. Die Zukunft des Journalismus kann so etwas nicht sein. Das rettet einen Verlag höchstens über die nächsten Jahre. Vielleicht wäre es jetzt die Aufgabe für den Journalismus, sich zwischen den Polen der Entfremdung und der Subjektivität einen neuen Ort zu suchen.

Nachtrag (10. November 2010):

Gerade sehe ich ein sehr interessantes Interview mit Chris Anderson, dem Chefredakteur der Wired (über die wir hier bereits berichtet haben).

Er stellt folgendes fest (und das schließt hervorragend an die obigen Ausführungen über Redaktions/Anzeigen-Interessensverquickung an):  Im 20. Jahrhundert haben die Zeitschriften/Zeitungsverlage die Frage “Who is my customer?” de facto mit: “the advertiser” beantwortet (bzw. beantworten müssen). Da stellt Anderson nun einen Wandel fest: Die Finanzierung läuft inzwischen zu gleichen Teilen über Anzeigenkunden und Leserschaft. Dadurch rückt der Leser plötzlich in den Fokus: “Going forward if my customer becomes my reader I am going to do the right thing for the reader – because it improves my profit.” Dass Publikatinsmedien ihre Leser zukünftig als ihre Kunden betrachten könnten, das finde ich eine ganz wunderbare Aussicht. “It’s the most exciting time in media ever.” Und auch hier muss ich ihm zustimmen.