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Slow Advertising

Santa e pia rusticità!

He has no time to be anything but a machine.
Henry David Thoreau

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Die Frage, ob es so etwas wie Slow Advertising geben kann, verfolgt uns seitdem wir letztes Jahr unser Manifest geschrieben haben. Kann Werbung nach den von uns formulierten Regeln der Langsamkeit funktionieren?

Einige der Regeln sind ganz klar werberisches Wunschdenken: progressive Werbung, die sich von selbst verbreitet, sich nachhaltig in den Köpfen festsetzt und auch noch dank Monotasking die alleinige Aufmerksamkeit des Konsumenten erzielt – gibt es aus Agentursicht schöneres?

Andere der Prinzipien scheinen nicht so recht zur Werbung zu passen: Qualität, Perfektionierung, Dialog, Zeitlosigkeit, Aura, Glaubwürdigkeit – und natürlich generell die Lust an der langsamen, genussvollen Entfaltung. Das sind Dinge, die viel zu selten in Print-, TV- oder Onlinewerbung spürbar werden.

Wenn man die beiden Begriffe vertauscht, wird aus der langsamen Werbung auf einmal Werbung über Langsamkeit. Dafür gibt es in letzter Zeit zwei sehr eindrucksvolle Beispiele aus der Automobilindustrie. Auf den ersten Blick wirkt das seltsam – warum sollte sich die Automobilindustrie mit der Slow-Bewegung auseinandersetzen? Aber je länger man sich damit auseinandersetzt, desto schlüssiger wird das alles. Gerade wer Autos baut, ist gezwungen über das Verhältnis von Geschwindigkeit und Langsamkeit nachzudenken. Automobilbauer sind Experten für Be- und Entschleunigung.

Mit Entschleunigung ist dabei nicht der ruhende Verkehr vulgo Stau gemeint – genausowenig wie Slow Media bedeutet, beim Lesen jeden Buchstaben einzeln vorzutragen oder mit einem 9.600-Baud-Modem im Internet zu surfen. Entschleunigung kann für einen Automobilbauer vielmehr bedeuten, den Innenraum des Autos als eine Art Zeitkapsel zu bauen, der den Fahrer zu einer Art unbewegten Beweger macht. Mit diesem Gedanken spielt jedenfalls Volkswagen, wenn der neue EOS als “Auszeit-Auto” positioniert wird, als eine Art Slow-Oase auf Rädern. Der Beginn des Clips wirkt wie eine Filmhochschulabschlussarbeit zu Schirrmachers Payback, aber der Claim sitzt:

Filmisch viel stärker tritt die Antithese auf: der fantastische Clip für den Mercedes CLS, der hier als echter Landlust-Killer präsentiert wird. In dem Film trifft man auf einen Aussteiger – Aussteiger eher im Thoreauschen Sinne und weniger als Dschungelcampbewohner – der ein Leben lebt, das wie eine Verfilmung von Petrarcas Lob der vita rustica wirkt. Erst die Begegnung mit dem Auto überzeugt den Protagonisten, das Landleben aufzugeben – ob er tatsächlich wieder für immer in die lasterhafte Stadt zurückkehrt, bleibt (glücklicherweise) offen.

Dazu passt der scheinbar nicht mehr zu bremsende Höhenflug von neopetrarkischen Zeitschriften, allen voran die LandLust aus dem Landwirtschaftsverlag. Man kann das falsch interpretieren als Flucht aus der schnellen Welt der Großstadt. Aber wenn man auf die Zahlen blickt, sieht man, dass diese Zeitschriften ihre Leser nicht so sehr in der Großstadt finden, wie auf den Mittel- und Kleinstädten auf dem Land. Also bei Leuten, die schon längst in ein anderes Leben geflüchtet werden.

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Naturwissenschaft Philosophie Slow theory Sprache Wirtschaft

Proudly presenting: Das Slow Media Institut

Vor gut einem Jahr waren wir frischgebackene Manifest-Autoren. Wir hatten keine höheren Plan, keine Viralstrategie oder sonstige Absichten und Hintergedanken. Wir wollten es eigentlich nur einmal gesagt haben, fürs Protokoll gewissermaßen. Und dann ist Slow Media einfach ein gutes Beispiel für sich selbst geworden, für angeregte Debatten, für Kontroversen, Empfehlungen, Nachhall. Zwischen Anfang 2010 und jetzt liegt ein Jahr voller Diskussionen, Vorträge und Gespräche, darunter so schräge wie Interviews mit dem norwegischen Rundfunk und so ehrwürdige wie Vorträge beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels oder dem Europarat.

Was machen wir nun damit? Ganz einfach: Wir machen weiter. Wir gründen ein Forschungsinstitut. Das Slow Media Institut entwickelt einerseits die im Manifest formulierten theoretischen Reflexionen weiter. Andererseits ist der Ansatz unbedingt praktisch. Die Studien des Instituts fragen nach der Praktikabilität, suchen nach existierenden und möglichen neuen Geschäftsmodellen für die Rentabilität von Qualität in Kommunikation und Medien.

Wir freuen uns darauf, die begonnenen Debatten und Gespräche weiterzuführen und den Fragen, die sich täglich neu ergeben, nachzuforschen. Wie werden die Medien in Zukunft aussehen, wie wandelt sich die Kommunikation? Welche Medienformen werden sich bewähren? Gerade in diesen Tagen sehen wir auch an der Situation in Ägypten, dass dies höchst aktuelle Fragen sind. Wir sind gespannt.

Und weil das Institut etwas Eigenes ist, hat es natürlich auch eine eigene Website: www.slow-media-institut.net

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Ägypten und der Rest der Welt

Klassische Revolutionsikonografie. Foto: Richard Gutjahr

Ich weiß nicht, welche alten Reflexe mich am vergangenen Wochenende dazu bewegt haben, doch immer wieder durch die öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramme und deutsche Nachrichten-Sender zu schalten. Völlig ungerührt vom historischen Geschehen im Maghreb wurde hier das traditionell nachrichtenfreie Wochenendprogrammschema samt Florian Silbereisen und Wintersport abgehakt (ähnlich stoisch übrigens wie Präsident Mubarak seine Regierungssimulation weiterführt). Das Fernsehen hätte bei mir wirklich eine Chance gehabt, als nationales Lagerfeuer in historischen Situationen. Aber während Ereignisse wie Schnee oder Hochwasser echte Sondersendungen wert sind, schafften es 100.000ende Ägypter, die ihr Leben für etwas riskieren, das möglicherweise Freiheit ist, nicht.

Eugène Delacroix: La Liberté guidant le peuple

Stattdessen wurde fast nur während der schmalbegrenzten Norm-Nachrichten berichtet, und auch hier merkte man den Redaktionen geradezu an, wie verzweifelt sie nach “Relevanz” für die quotenrelevante Zielgruppe suchte (hier gilt offenbar der vermutete Zuschauerwunsch als Maßstab für Nachrichtentauglichkeit): Was an der Lage in Ägypten könnte den deutschen Zuschauer bloß interessieren? Und so wurde schamlos von der Lage an den ägyptischen Badestränden berichtet und von den möglichen Auswirkungen auf die deutsche Börse. Ich finde das noch heute beschämend. Das ist eine Beleidigung aller Zuschauer.

Anzeige im "Express", 30. Januar 2011

Ich sparte mir das dann und hielt es so, wie CNN mir ohnehin vorschlug: “stay with CNN”. Und mit dem englischen Al-Jazeera-Livestream. Und mit Twitteraccounts, die aus Ägypten berichteten. Und mit Richard Gutjahr. Der Nachrichtenmann des Bayrischen Rundfunks und Journalist reiste kurzentschlossen von Israel nach Kairo und berichtet per Twitter und auf seinem Blog. Alleine für die Fotos lohnt es sich, dort hinzusehen. Wer seinem Twitterstream folgt, weiß, dass er sich öfter in Israel aufhält und so eine höchst interessante Perpektive auf die Entwicklungen hat: die hiesige und die dortige. Wer weiß, dass Ägypten und Israel Nachbarstaaten sind und ein wenig im Geschichtsunterricht aufgepasst hat, muss zugeben, dass das ein Grund ist, da zuzuhören – trotz möglicher gleichzeitiger Selbstdarstellung. Der eine hält es eben so, der andere so. Thomas Knüwer meint, dass eine Unterstützung für die Roaminggebühren Richard Gutjahrs besser angelegtes Geld ist als GEZ-Gebühren. Ich bin nach den letzten Tagen geneigt, ihm zuzustimmen.

Sie sind bewaffnet: mit Fotohandys. Foto: Richard Gutjahr

So schwerfällig sich die öffentlich-rechtlichen und privaten (ja, jetzt muss man es leider sagen: alten) Medien zeigen, so schnell und unbürokratisch handeln die neuen Medien: die Unternehmen Twitter, Google und SayNow legten kurzerhand eine Wochenendschicht ein und das Ergebnis war “speak2tweet“: ein Service, der es jedem erlaubt, per Telefon Nachrichten auf Twitter zu veröffentlichen. Man wählt eine Telefonnummer, spricht seine Nachricht auf Band und diese wird unter dem Twitter-Account http://twitter.com/speak2tweet veröffentlich. Das verleiht den vom Internet abgeschnittenen Ägyptern im wahrsten Sinne des Wortes eine Stimme. Und so oft wir auf diesem Blog kritisch über Google berichtet haben (z.B. hier und hier): genau das ist es, was Medien können und auch tun sollten. Das ist wohltuend angesichts des Versagens klassischer Medien.

Foto: Richard Gutjahr

Man mag einwenden, dass diese Stimmen subjektiv sind. Ja, das sind sie. Sie sind subjektiv. Und ja, Fakten sind wichtig, aber subjektive Eindrücke eben auch (ein schönes Beispiel aus dem österreichischen Fernsehen hier). Diese Eindrücke sind wichtig und informativ – nicht nur obwohl, sondern gerade weil sie subjektiv sind. Was zählen Fakten in diesen Zeiten? Die Fakten und verifizierten Informationen können wir in Ägypten derzeit in der offiziellen Presse und den Staatssendern nachlesen und ansehen: scheinbar aufrechte Ägypter demonstrieren für Mubarak, der Präsident hat die Sicherheitslage im Griff, der Vizepräsident ist bereits dabei, die geforderten Reformen anzuweisen  und auch sonst gibt es keinerlei Grund zur Unruhe. Das ist die offizielle Version derjenigen, die gewohnt sind, Fakten zu schaffen. Alles andere sei nur Hörensagen*, die Meinung Einzelner, Subjektivität.

Aber das ist genau da, wo grade Geschichte passiert.

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* Nachtrag: “Hütet euch vor Gerüchten und hört auf die Stimme der Vernunft” heißt es in einer Propaganda-SMS, die zu verschicken die ägyptische Regierung Vodafone genötigt hat.

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Eine Auswertung dieser Situation und welche Rolle die Reaktionsfähigkeit für die Medienevolution hat, finden Sie nebenan auf dem Slow-Media-Institutsblog

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Philosophie Slow theory Wirtschaft

Der Idiot – wieder eine zeitgemäße Figur?

Tozkij dachte im stillen: ›Er ist ein Idiot, weiß aber instinktiv, daß man durch Schmeichelei am ehesten zum Ziel kommt!
Dostojewski, Der Idiot

Open systems don’t always win.
Steve Jobs.

Dear Igor Barinov,

The status for the following app has changed to Removed From Sale.
App Name: WikiLeaks App

Techcrunch, 21.12.2010

The iPad as a particular device is not necessarily the future of computing. But as an ideology, I think it just might be.
Steven Frank, http://stevenf.com

Der idiōtēs war in der griechischen Polis ein Mensch, der Privates nicht von Öffentlichem trennte – meist aus wirtschaftlichem Zwang, wie die Händler oder aus gesellschaftlichem Zwang, weil ihm, wie den Frauen und den Sklaven die öffentliche, politische Betätigung verwehrt blieb.

Platon beschreibt in seiner Politik, was er daran für bedauernswert hält: Ein Idiotes kümmert sich nur um seinen eigenen Oikos – seinen Herd und nicht um die Gesellschaft, die Polis. Dabei kann selbst ein reicher Idiotes nur durch die Gnade der Gesellschaft überleben. Nur, weil der davon ausgehen kann, dass ihm die Polis stets zur Seite springt, kann er darauf vertrauen, nicht einfach von seinem Hauspersonal ermordet zu werden. Er wäre ohne die Öffentlichkeit, die er durch sein Idotentum verachtet, vollkommen hilflos.
***

Netzpolitik ist zur Zeit in aller Munde. Dieses Wort, so könnte man weiterdenken, mag unterstellen, dass es im Internet eine Polis, eine Öffentlichkeit gibt.

An dieser Stelle haben wir bereits mehrmals darüber geschrieben, dass eine politische Öffentlichkeit sich nur entfaltet, wenn ihre Regeln zweckfrei verhandelt werden können. Solange das Netz praktisch vollständig privatwirtschaftlich kontrolliert wird, ist eine freie, wertegetriebene, politische Diskussion nicht möglich. Unternehmen kontrollieren über CDN, Backbone und DNS, ISP und neuerdings sogar über die Betriebssysteme der Endgeräte die Inhalte; das Argument der Zensur ist so gut wie nie ein politisches oder ethisches; wie bei der von Apple gelöschten Wikileaks-App werden die AGB, die Terms and Conditions angeführt.

Ähnlich ist die Lage bei den Social Networks und Plattformen. Auch Twitter kann mein Profil jederzeit mit Hinweis auf die AGB sperren, Youtube Videos mit dem Verweis auf angebliche Regelverstöße einfach löschen. Und Netzneutralität – d. h. eine Gleichbehandlung aller Datenpakete – ist nur so gut, wie die gerechte Chance aller Seiten, auch über Suche gefunden zu werden.

Umso interessanter empfinde ich die Beobachtung, mit welcher Hingabe sich ganze Hundertschaften von Netzaktivisten zum Büttel der TK-Industrie, von Google, Facebook und besonders von Apple machen und deren teilweise Offenheit mit Öffentlichkeit verwechseln.

Die Verschiebung der Informationsmacht von den Content-Produzenten, den Autoren, Filmemachern, Musikern und ihren Verlagen und Verwertungsgesellschaften hin zu den Content-Plattformen, den Social Networks und Suchmaschinen ist wahrscheinlich unumkehrbare Folge eines viel grundsätzlicheren kulturellen Wandels. Deshalb ist für die zukünftige Form von Kultur und Kreativität die Antwort auf dieFrage entscheidend, wie (und ob überhaupt) eine politische Öffentlichkeit, eine Gesellschaft, trotzdem für das wirtschaftliche Auskommen von Menschen in Kreativberufen sorgen kann. Ich halte die Forderung der Piratenpartei, nichtkommerzielle Vervielfältigung und Nutzung von Werken als “natürlich zu betrachten” und “explizit zu fördern” und gleichzeitig die Autoren “unabhängiger von bestehenden Machtstrukturen” zu machen, für utopisch. Im Moment nützen frei kopierbare Inhalte nur den Telcos, die ihre Bandbreite auslasten und natürlich den Plattformbetreibern, die dadurch Traffic erzeugen und dadurch bessere Werbeträger zu werden. Und obwohl ich selbst mein Geld mit Werbung verdiene, finde ich es doch ein wenig dürftig, wenn das alles gewesen sein soll, was bleibt.

Xenophon verwendete denn auch den Idioten schon im vierten Jhd. v. Chr. in einer übertragenen Bedeutung: ein Idiot ist ein unmusischer Mensch, der Dichtkunst unkundig.

Weiter lesen:
Die Illusion vom freien Internet
Alles wird Highway
Digitale Zwangsneurosen
Zensur?!

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Die Moderne ist unsere Antike

[Read this post in English]

(1) “A Vernacular is like a crumbled streetversion of a classic language. Like Italian is a vernacular language and Latin is a classic language. What does acutal vernacular online video sound like, that’s native to the Internet and speaks vernacular Internet ease? I’ll just read you the categories of an unnamed [Online Video Network] here: ‘LOL, OMG, WTF, Cute, Games, Geeky and Trashy’. Those are actual terms, coined on the Internet. Now, you could think, to be classy, you would like to expunge that vernacular, and instead of them saying ‘LOL’ they should say something like ‘commedy’, instead of ‘OMG’ something like ‘experimental’. – Allright. That’s not how it works. It is a little hard to understand this, but the actual path to classiness is to upgrade the vernacular. You have to get through LOL, OMG, WTF, Cute, Games, Geeky and Trashy and somehow come out the other side. You have to make network culture classy on its own terms. You have to ennoble the vernacular – not by teaching people Latin, but by writing Dante’s Inferno!”
Bruce Sterling, Closing Keynote: Vernacular Video from Vimeo Festival. (Mein Transkript)

(2) klassisch zu lat. classis “militärisches Aufgebot; Abteilung; Klasse” stellt sich das Adjektiv classicus “die ersten Bürger-Klasse betreffend …
Duden, “Das Herkunftswörterbuch”

(3) “Die Moderne ist unsere Antike” – unsere Klassik
Mantra von Roger M. Buergel als Kurator der Documenta 12

“Der Gedanke, heute eine internationale Ausstellung der Kunst des 20. Jahrhunderts in Deutschland zu veranstalten, liegt so nahe, daß er keine nähere Begründung zu erfordern scheint.”, leitet Werner Haftmann den Katalog zur ersten Dokumenta 1955 in Kassel ein. Offenbar war den Machern dieser ersten Kunst-Großschau ganz genau klar, was die Kunst ihres Jahrhunderts ausmacht. Nach dem Rundgang über die Documenta 12 war ich mir dagegen darüber klar, dass dies die letzte Dokumenta gewesen sein würde, die ich besuchte. Hatten die Kuratoren der drei Vorgänger-Ausstellungen wohl noch versucht, mit der Documena ein Bild der Kunst von heute zu zeichnen – und waren jeder auf ihre Art gescheitert, so hatte die Ausstellung 2007 aufgegeben, etwas wie “klassische Kunst unserer Zeit” zu definieren. Was zunächst wie Nachlässigkeit oder Denkfaulheit des Kurators wirken mag, erscheint mir heute als Symptom für einen Umbruch in der Kunst, die in ähnlicher Weise erschüttert wird, wie die Medien, die Musikindustrie und all die anderen sogenannten Kreativ-Bereiche.

Die Moderne – die Kunst der Neuzeit, wie sie sich in den letzten dreihundert Jahren entwickelt hatte – ist unsere Antike, genau, wie Roger Buergel es sagt. Ähnlich, wie das scholastische Festhalten an der Antike noch weit in die Neuzeit hinein das Denken und Schaffen des Abendlandes beherrscht hatte, gelten uns die neuzeitlich-modernen Begriffe und Kategorien immernoch als Maß für “klassiche” Qualität. Bestandsaufnahmen und Zustandsbestimmungen zeitgenössischer Kunst münden entweder in blutleeren Formalismus, wie etwa das jüngste Kunstforum, oder enden in totaler Beliebigkeit, wie eben die letzte Dokumenta.

Ratlos blickt man sich um: muss es nicht etwas geben, das an die Stelle des Alt-Ehrwürdigen tritt? Eine neue Generation? Eine neue Richtung? Bruce Sterling gibt uns die Antwort, in seiner fast einstündigen Rede zum Abschluss der Vimeo-Konferenz. Das Neue ist schon da, und zwar als Mundart, Volkssprache, Räubersprache, kurz: es steht außerhalb der klassischen Kultur. Das Neue findet sich in der Vernakular-Kultur des Netzes.

Man mag einwenden, dass diese Erkenntnis weder neu noch originell ist; dass das Internet die Kultur durch und durch umkrempelt, davon sprechen ganze Jahrgänge von Wired und tausende von Stunden TED-Konferenz. Aber Sterling sagt etwas anderes: Um das Neue zu erkennen, müssen wir darüber sprechen können. Die (Fach-)Sprache der Kulturwissenschaften und der Kritiker ist aber immernoch die Lingua Franca der Moderne. Gleichzeitig ist das Vernakular der Netzkultur noch nicht viel mehr, als ein Jargon.

Die Formen der zukünftigen Kunst (falls man diesen durch Genie-Kult und bürgerlichen Produktionsprozess ohnehin korrumpierten Begriff überhaupt perpetuieren möchte) können unter anderem so etwas wie Urban Art oder Generative Art sein – Favela Chic, um mit Sterling zu sprechen – oder der der Netzkultur eigentümliche Eklektizismus, die Bricolage, das Collagieren, der Punk – Sterlings Gothic High Castle.

Diese Vernakularkultur unterscheidet sich insbesondere durch ihre Produktionsbedingungen von der klassischen zeitgenössischen Kultur. Der klassische Schriftsteller, Künstler oder Komponist erhält seine Entlohnung durch juristisch saktionierte Transfersysteme wie GEMA, VG Wort, VG Bild/Kunst – oder er ist direkt beim Staate angestellt, als Professor, als Mitglied eines Staatsorchesters oder als Rundfunkredakteur. Dagegen steht die viel bejammerte scheinbare “Kultur des Kostenlosen” der Blogs, der Online Videos, der Remixes und Covers, des sogenannten “Bürgerjournalismus” und so weiter und so weiter. Und obwohl es manchem als naheliegend erscheinen mag, der vernakularen Kreativität des Netzes die Produktionsweise der klassischen Kultur zu übertragen, ist dies doch zum Scheitern verurteilt: die Kategorien der alten Welt greifen nicht mehr; die Menschen wollen kein Latein mehr sprechen, weil ihnen Italienisch in viel flüssigerer Weise Ausdruck verleiht.

Enhances
“Stand on the shoulders of Giants”
Accessibility of knowledge
Retrieves
everybody a publisher
oral tradition
dilettante / amateur

Non-Commodity-
writing

(Decay of Copyright)

Reverses
Bricolage (Ecclecticism)
Generative Art
New definition of Public Space
Obsolesces
Assembly-line book
mass-marketing for books
book-fairs

In der Tabelle links habe ich versucht, diese Entwicklung mit der Tetrade von Herbert Marshall McLuhan zu interpretieren:

Als Folge dieses Wandels wird es allerdings nur noch wenig große Romane geben, nur selten wird jemand das Risiko auf sich nehmen, einen teuren, abendfüllenden Spielfilm zu produzieren oder mit einem Orchester ein sinfonisches Werk der Musica Viva einstudieren. Was wir erleben, ist die Rückkehr des Dilettanten, durchaus im besten Sinne, des Enthusiasten; “Everybody a Publisher” bedeutet: Non-Commodity-Production of Culture.

Mehr dazu:
“So literature collapses before our eyes” – Non-Commodity Production
Das Ende der Geschichte – für Kreativ-Berufe.

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Watch it happen

Ich habe ja eine bekannte Schwäche für die geheimnisvollen Entstehungsmechanismen offener Werke. Nun können wir dem aktuellen Beispiel gelebter Kollaboration Wikipedia beim Wachsen, Schrumpfen, Verfälscht-, Verbessert- und Verändertwerden live in die Karten und ihren zahllosen Autoren in Echtzeit über ihre Schultern schauen.

Das hübsche Modul entstand im Rahmen dieses Themenspecials der ZEIT. Anlass ist das 10jährige Jubiläum der Onlinenzyklopädie Wikipedia. Bei dieser Gelegenheit führt die ZEIT nicht nur vor, wie man mit einer ausgewogenen Komposition von digitalen, statischen und bewegten Medien überzeugt, sondern auch, wie schön und effektiv das Teilen ist: Jeder, der möchte, kann im Handumdrehen dieses Widget auf seiner eigenen Website einbinden.

Also seht her, meine Lieben, so etwas sieht man nicht alle Tage. Und, liebe ZEIT: Könntet ihr dasselbe auch für Open-Software-Code und Volksmärchen einrichten, bitte? Danke!

(Für den Hinweis danke ich Prof. Peter Haber, der sich wie ich auf der Wikipediaforschungskonferenz CPoV in Leipzig mit dem Thema befasst hat)

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Jenseits der digitalen Autobahn – OpenStreetMap und das Wissen der Vielen

The Google Map is not the territory
Frei nach Alfred Korzybski

Die digitale Zwangsneurose der Google StreetView-Aktivisten und ihr Schimpfen auf die verpixelten Häuser deutscher Großstädte wirkt fast schon niedlich, wenn man sich einmal die richtig großen Datenlöcher in der Googlewelt ansieht. Schon einmal versucht, den kabuler Park Bagh e Babur auf Google Maps zu finden? Fehlanzeige. Die Stadt Kabul gibt es, abgesehen von dem Autobahndreieck der A01 und A76 in dieser Welt nicht. Da die Lizenz von Google Maps es mir nicht erlaubt, diese Leerstelle per Screenshot zu dokumentieren, hier der Link.

Aber zum Glück müssen sich die Einwohner Kabuls keine Sorgen darüber machen, dass sie als einzige keine Einwohner der Googlewelt sind. Ihren knapp 20 Millionen Nachbarn in Pjöngjang, Bagdad, Tiflis geht es nicht anders. Diese Städte gibt es entweder nur als kleinen Schriftzug, als Autobahnkreuzung oder gar nicht (Pjöngjang) bei Google Maps. Ob diese Datenlöcher einen geopolitischen Grund haben, wie zum Beispiel nach dem russischen Einmarsch 2008, als entweder die georgischen Städte von Google Maps verschwunden sind bzw. als das den Internetnutzern aufgefallen ist, oder ob es wirklich daran liegt, dass für diese Gegenden zu wenige Daten vorliegen, wie Google selbst behauptet, sei dahingestellt.

Was jedoch unzweifelhaft ist: die Welt von Google hat mehr Lücken als man sich vorstellt. Wer sich auf diese Repräsentation der Welt unkritisch verlässt – und das würde ich ohne Zögern als einen der großen digitalen Trends der 2000er Jahre sehen -, dessen Weltbild bleibt lückenhaft.

Die positive Botschaft lautet aber: Es gibt eine Alternative. Es gibt zumindest eine kartographische Darstellung der Welt, die zumindest so weit reicht wie das Internet. Natürlich spreche ich hier von OpenStreetMap. Dieses Projekt funktioniert in wie Wikipedia, nur dass man hier keine enzyklopädischen Textbeiträge erstellen kann, sondern Städte, Straßen und Supermärkte. Jeder kann die Daten ergänzen und korrigieren. Genau wie bei der Wikipedia bleibt eine Nonsense-Änderung nur wenige Sekunden bestehen und wird sofort wieder von der Community aus mittlerweile 330.000 Usern zurückgesetzt.

Wie anders sehen die oben genannten Städte auf OpenStreetMap aus! Das hier zum Beispiel ist die Gegend um den Zoo von Bagdad, der lange Zeit der früher einmal der größte Tierpark des Nahen Ostens gewesen ist und im Kampf um Baghdad 2003 traurige Berühmtheit erworben hat (alle folgenden Abbildungen © OpenStreetMap und Mitwirkende, CC-BY-SA):

Oder das hier. Das ist die Gegend zwischen Samhung-Universität und dem zweitgrößten Stadium Pjöngjangs, dem Kim Il Sung-Stadium:

Dritter Screenshot-Beweis, dass die weißen Flecken nicht allein auf Datenmangel beruhen können, hier ist der oben erwähnte Park in Kabul, die letzte Ruhestätte des ersten Mogulkaisers Babur:

Eine letzte Karte eines Ortes, der für Google Maps nicht existiert, der Hauptbahnhof der Georgischen Hauptstadt Tiflis:

Anders als bei den Häuserfassaden auf Google StreetView geht es hier nicht darum, die Privatsphäre (oder sagen wir besser: das, was viele Menschen als Privatsphäre empfinden) unter einer ökonomischen Zielsetzung zu veröffentlichen, sondern darum, ein politisch-nationalstaatliches Wissen der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Die Erstellung von Karten war von Anfang an eine politische Herrschaftstechnik und wird jetzt Schritt für Schritt der staatlichen Kontrolle entzogen und ver-öffentlicht. Dafür sollten sich die digitalen Aktivisten einsetzen.

Also beteiligt euch: Man kann Mitglied der OpenStreetMap-Foundation werden, OpenStreetMap etwas spenden, die eigene Stadtverwaltung immer wieder dazu auffordern, ihre Geodaten dem Projekt zur Verfügung zu stellen oder selbst etwas zu dem Projekt beitragen. Wer dem Slow-Media-Blog etwas zu Weihnachten schenken möchte, eine Spende für OpenStreetMap wäre genau das richtige. Danke!

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Let it slow: Weihnachtsempfehlungen Teil III

Und nun auch von mir zwei Empfehlungen für Weihnachten. Sie sind beide sowohl zum Schenken geeignet wie auch dazu, sich ausgiebig mit ihnen zwischen den Jahren zu beschäftigen. Das ist ein Faktor, den man beim Schenken – und erst recht beim slowen also nachhaltigen Weihnachts-Beschenken – nicht unterschätzen sollte. Denn zwischen den Jahren haben wir Z e i t. Und vielleicht haben wir auch Kinder, die bekanntermaßen nach Heiligabend zur Erfüllungsdepression neigen und gehegt werden wollen.

Kommen wir zur ersten Empfehlung:

1. Filme von Jacques Tati.

Jacques Tati ist – wie auch sein berühmterer Kollege Charly Chaplin – ein Perfektionist gewesen, der seine Filmszenen akribisch choreographiert und minutiös durchkomponiert hat. Am Ende des Boulevard Saint Michel, dort wo er auf die Seine stößt, gab es früher in Paris ein Kino, in dem nur Tatifilme liefen.

Einer meiner Lieblingsfilme (die es auch auf DVD gibt, sonst könnte man sie ja nicht verschenken) ist „Die Ferien des Monsieur Hulot“ (“Les Vacances de Monsieur Hulot”). Es passiert: eigentlich nichts. Außer Ferien am Meer, um genau zu sein in der Bretagne. Das bedeutet: Es gibt dort Ebbe und Flut. Und das ist es,was auch in dem Film passiert: das Meer kommt und geht. Es kommt wieder und geht wieder und dazwischen passieren Dinge. Man geht an den Strand, zum Mittagessen und wieder zurück. Es wird Tag und Nacht. Die Feriengäste kommen an und am Ende des Filmes gehen sie wieder.

Auch als Zuschauer kommt man immer wieder zu den Filmen zurück. Es macht also Sinn, die Filme auch zu besitzen. Jedesmal wird der aufmerksame Zuschauer neue Neben- und Hintergrundszenen entdecken und sich an ihnen erfreuen. Ich empfehle ausdrücklich, einzelne Szenen zurückzuspulen und nochmals (gegebenenfalls in slow motion) mit der Familie genauer anzusehen und sich an der Präzision der Abläufe zu erfreuen: Die Eingangsszene am Bahnhof oder das Kartenspiel im Hotel de la Plage. Das wird mit jedem Hinschauen schöner.

Auch und immer wieder sehenswert ist „Jour de Fête“: Das Erstlingswerk des Regisseurs und Schauspielers Jacques Tati. Er ist – wie ich soeben beeindruckt bei Wikipedia nachgelesen habe – „französisch-russisch-holländisch-italienischer Herkunft“, eine wilde Mischung. Ein Postbote (gespielt von Tati selbst) versucht, inmitten von Tradition und Moderne, mit der Technik Schritt zu halten. „Rapidité! Rapidité!“ Schon 1953 gab dieser Ruf unerbittlich den Takt an. Ein schöner Film, um über Langsamkeit, Schnelligkeit und über die Zeit nachzudenken. Wer übrigens meint, Kinder hätten nur Sinn für schnelle Schnitte, kann sich mit Tati-Filmen eines Besseren belehren lassen.

2. Die zweite Empfehlung: das Buch „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel“ von Franz Fühmann.

Ein sperriger Titel, ein großartiges Buch. Und das für jede Phase im Leben, also für Kinder und Erwachsene gleichermaßen geeignet. Das Sprachspielbuch mit Illustrationen von Egbert Herfurth erschien zuerst 1978 im Kinderbuchverlag in Ostberlin und ist inzwischen in einem schönen gebundenen Nachdruck im Hinstorff-Verlag neu aufgelegt worden.

Es beginnt alles mit Langeweile, diesem Zustand, den zu verhindern man heute den Kindern allerlei an die Hand gibt. Dabei kann Langeweile durchaus fruchtbar sein. Wer weiß schon, was einem einfallen würde, wenn man sich ihr eine Weile lang aussetzen würde? Wie in diesem Buch: Große Ferien, endloser Regen und fünf Kinder, die aus Langeweile mit Sprachspielen beginnen. Heraus kommt ein Buch über die deutsche Sprache, antike Philosophen und türkische Umlaute.

Erstes ist dieses Buch wahnsinnig gelehrt, und zwar auf ganz leichtfüßige Weise. Zweitens befasst es sich mit dem, woraus unsere Kommunikation besteht, mit der Sprache, ihren Philosophen, ihren Regeln, ihren Sonderheiten und mit dem Material, aus welchem die Sprache gewebt wird, mit Vokalen, Konsonanten, Umlauten. Es ist drittens wunderbar typografisch gesetzt und illustriert und fühlt sich – viertens – gut an. Außerdem und fünftens: Es ist ein unschätzbares Zeitzeugnis. Wie Franz Fühmann (der fünf Jahre vor dem Fall der Mauer 1984 verbittert über seinen Staat starb) inmitten des sozialistischen Realismus darlegt, welche Wahrheit in biblischen Texten steckt – das ist ein großer Moment. Eine Gratwanderung, die heute kaum mehr nachvollziehbar ist. Es ist wieder die Sprache, die einen Alltag abbildet, in dem eine Einstufungskommision darüber befand, ob man Kultur machte, und der in Begriffen wie “Staatsapparat” (Wort mit fünf A) und “Kulturbundschulung” (Wort mit fünf u) wieder aufscheint. Ein historisches Glossar gibt im Anhang Aufschluss über diese inzwischen fremden Alltagsvokabeln. Es gehört also einfach – sechstens – in jeden Haushalt.

Weiterlesen:
Langsame Weihnachten (Weihnachtsempfehlungen, Teil I)
Slow-Media Weihnachtsgeschenke von jbenno (Teil II)