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Ein Briefwechsel

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——– Original-Nachricht ——–

Betreff: instinktgetrieben

Datum: 22.02.2011 16:11

Von: Sabria David

An: Jörg Blumtritt

CC: Benedikt Köhler

Ich kann nicht anders, musste wieder einen blogpost schreiben. Ich möchte ihn aber nicht publizieren, bevor du ihn gelesen hast, Jörg:

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Augen zu und durch?

Auch wenn sich Zuschauer und Leser manchmal gestört fühlen – ohne Werbung geht es nicht”, lese ich gerade. Mit diesem Satz beginnt eine Art Grundsatzerklärung des Nachrichtensenders n-tv auf seinem Webportal n-tv.de. Sie seien zu 100% werbefinanziert, schreiben sie dort, und daher auf Werbeeinnahmen angewiesen. Das klingt zunächst wie ein fairer Deal. Bei genauerer Betrachtung allerdings ist es ein Deal ausschließlich zwischen dem Werbetreibenden und dem Werbesendenden. Welche Rolle spielt in diesem Deal aber der Nutzer, der Betrachter, die Zielperson – also: wir?

“Trotzdem soll die Werbung natürlich nicht nerven – obwohl eine Entwicklung in Richtung TV zu beobachten ist: Werbeformen, denen man sich nicht mehr entziehen soll und kann.”

Unser Unwillen gegen Belästigung wird zwar respektiert (“soll natürlich nicht nerven”), muss aber dem höhen Zweck weichen. Werbung ist die Kröte, die wir schlucken müssen, um uns die kostspieligen Fernseh/Web/Print/Inhalte zu verdienen. “Wenn Sie unsere Seite nutzen wollen, sollten Sie auch unser Geschäftsmodell akzeptieren: Die Finanzierung durch Werbeeinnahmen.”

Das bedeutet: Der Fairness halber sollen wir uns der Werbung nicht entziehen, obwohl sie uns nervt. Die Augen dürfen wir schließen, nur wegzappen bitte nicht. Wir sollen, so werden wir freundlich gebeten, bei dem Spiel mitspielen und einfach so tun, als würde sie uns interessieren.

Tun wir dies nicht, sind wir Spielverderber: “Den Einsatz von Software zum Ausblenden bzw. Unterdrücken von Werbung können und wollen wir nicht unterstützen.” Und weiter: “Natürlich können wir den Einsatz [von Werbeblockern] nicht verbieten. Das gilt aber auch für Schwarzfahren […] Es ist eine Frage des guten Benehmens, auf den Einsatz von Werbeblockern zu verzichten.”

Das Sich-Belästigt-Fühlen des Nutzers wird so zur moralischen Frage. Der Nutzer stört das System, er ist das Sandkorn im ansonsten rund laufenden Werbetreibendengetriebe.

Sollte es aber – so frage ich mich – nicht andersherum sein? Sollten wir aus dem Vorhandensein von Nachfrage nach Werbeblockern nicht schließen, dass etwas in dieser Kette falsch läuft? Und anfangen, nach den Ursachen dafür zu suchen? Als ein teuer produziertes notwendiges Übel hat die Werbung keine Zukunft, da bin ich mir sicher.

Alle Zitate aus: http://www.n-tv.de/faq/Werbung-muss-sein-article6112.html

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(hab ihn extra nicht so geschrieben wie er auch hätte sein können, ihr könnt das zwischen den Zeilen mitlesen…)

LG

Sabria

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>>> Am 22.02.2011 18:51, schrieb Joerg Blumtritt:

 

Ja, danke für die Möglichkeit zum “Review”!

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Tatsächlich bin ich nicht deiner Meinung, obwohl ich den Beitrag sehr gern gelesen habe und ihn auch unterhaltsam finde.

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Zunächst finde ich die n-tv-Brochure tatsächlich total bescheuert; da gibt es keinen Zweifel; tollpatschig und unangemessen.

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Die ethische Aussage, dass zum Besuch der Seite die Wahrnehmung und Akzeptanz der Werbung gehört, finde ich aber vollkommen richtig. Damit bei den TV-Sendern auf den (relativ) knappen Frequenzen Werbung und Programm ein ausgewogenes Verhältnis halten, gibt es ein ausgesprochen scharfes Werberecht (im Rundfunkstaatsvertrag und der EU-Richtlinie fixiert). Dadurch wird Werbung auf max. 15% der Tages-Sendezeit bzw. max. 20% der Sendezeit in einer einzelnen Stunde beschränkt. Acht Minuten Werbung pro Stunde finde ich nicht inakzeptabel. Und im Netz, wo es ja keinerlei Monopolstruktur im Contentbereich gibt: welches Erlösmodell sollten journalistische Seiten sonst wählen? Es gibt die Wahl:

>>>> – Steuern oder Gebühren (d. h. Staats-Journalismus)

>>>> – Kostenpflichtig (wäre wünschenswert, hat sich bisher nirgends als praktikabel gezeigt)

>>>> – kostenlos und ohne Geschäftsmodell (nur etwas für den dilettantischen Schwärmer bzw. für Leute mit klarer Agenda dahinter)

>>>> – kostenlos und werbefinanziert

Das letzte Modell, dass sich ja durchaus über ca. 100 Jahre hinweg bewährt hatte, ist tatsächlich (genau wie Nr. 2) stark unter Druck.

Warum sollte ich mir die Werbung ansehen, wenn ich die Wahl habe? Der ehemals ausreichend starke Kleinanzeigenmarkt, der als eigener Content die Nachrichtenprodukte wie Zeitungen attraktiv gemacht hatte, ist weg – das greifen reine Portalseiten ohne jeden eigenen Content ab; da bleibt also nur noch die sog. Displaywerbung oder Werbeformate wie Corporate Publishing oder Sponsoring.

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Ich bin hier vollkommen derselben Meinung wie Jaron Lanier in “You are not a gadget”: Welche Wahl haben (und hatten) die Publisher?

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Ich bin auch der festen Überzeugung, dass der Wandel, der zu den Schwierigkeiten im Geschäftsmodell der Publisher führt, nichts mit deren Produkten zu tun hat, sondern viel tiefer in den meisten Kulturen unserer Welt stattfindet. Wenn das stimmt, ist es zwar richtig, dass die alte Form des Publishing zunehmend weniger wichtig wird, aber für die Zeit, in der es noch Content-Häuser wie die RTL-Group gibt, die schließlich mehr als 3000 Menschen alleine in Deutschland beschäftigen, ist es deren gutes Recht, ihr Geschäft nach besten Kräften zu stabilisieren. Ich finde, wir können den Weg, auf dem sie das versuchen kritisieren, indem wir zeigen, wie es anders vielleicht erfolgreicher funktionieren würde; wir sollten aber nicht einfach sagen: “euer Geschäftsmodell ist sowieso durch, deshalb lasst es am besten gleich sein”. Das wäre unangemessen sarkastisch.

>>>>

Und im konkreten Fall: ich finde auch Schwarzfahren unangemessen und ich zahle auch GEZ-Gebühren, obwohl die ÖR-Anstalten das erste sind, dass ich abschaffen würde, wenn ich die Macht dazu hätte. Aber ich akzeptiere den gesellschaftlichen Konsens, dass wir diese Form von TV noch brauchen und setze mich nicht darüber.

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Die Haltung der Piratenpartei in vielen Fragen ist dagegen: selbstverständlich Schwarzfahren; es ist Sache der Allgemeinheit, eine Allmende-Infrastruktur zu finanzieren und nicht die des Individuums, dazu einen Einzelbeitrag über die direkten Steuern hinaus zu leisten.

Ähnlich läuft auch das Argument gegen Urheberrecht und pro Grundeinkommen sowie gegen die MwSt. Dieses “Bezahlt mich gefälligst aus Steuermitteln” ist, was mich so besonders nervt. Dafür bin ich wohl zu liberal eingestellt.

Ich finde daher, wir könnten die Sache differenzierter darstellen – zunehmender Druck auf der einen Seite, immer mehr Möglichkeiten zur Vermeidung auf der anderen Seite, komplette Offenheit und Ehrlichkeit beim Geschäftsmodell (wird ja alles explizit gesagt), und eine nicht-triviale ethische Frage nach Gemeingut vs. Produkt, die ich auch in dem Post “Non-Commodity-Production” angerissen habe (insb. in der Tetrade “Decay of Copyright”. Vielleicht könnten wir das in Art eines elektischen Dialogs machen, der aus den beiden Thesen zu einer übergeordneten Synthese führt?

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Schöne Grüße

jb

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>> Am 22.02.2011 23:32, schrieb Sabria David:

>>>

Lieber Jörg,

>>>

ich muss erst noch mal genauer darüber nachdenken, wo genau die Unterschiede ein unseren Ansichten sind. So weit liegen sie glaube ich gar nicht auseinander.

Du siehst es aus der Perspektive der Vermarkter und aus der der Publisher, die natürlich ein Recht auf ein funktionierendes Geschäftsmodell haben und vom Idealismus allein nicht leben können.

Meine Perspektive ist eher die des Werbenden und die des Kunden. Ich gehe nicht soweit, der Werbung ihre Existenzberechtigung abzusprechen.

Nur frage ich mich, welchen Sinn Werbung haben soll, von der man vorher schon weiß, das der Nutzer sie als Belästigung empfindet. Nur dass sie platzier- und verkaufbar ist und damit den Publisher (und die Werbeagenturen) finanziert, kann meines Erachtens nicht reichen. Das Werbetreiben ist ja kein Selbstzweck. Ich bezweifle, dass ein Nutzer durch eine ihn belästigende Werbeplatzierung dazu motiviert wird, dem werbenden Unternehmen gegenüber wohlgesonnen zu sein oder sein Produkt zu erwerben. Und das sollte ja das Ziel sein. Ich verstehe nicht, wie man als Werbetreibender damit zufrieden sein kann, dass meine Werbung den Kunden belästigt. Das Geld kann ich mir dann doch sparen oder einfach nur mein Logo einblenden – das nervt wenigstens nicht. (jetzt kann man natürlich sagen: alle beglücken kann man nie – mache drei zu glücklichen Kunden und nehme dafür in Kauf, 7 andere zu nerven…). Ein weites Feld.

Vielleicht finden wir ja eine Form, die die Positionen abbildet. Wie gesagt, muss noch nachdenken.

Herzlich

Sabria

(wie diskursiv wir wieder sind : -)

>>>

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>

> Am 23.02.2011 09:57, schrieb Joerg Blumtritt:

>>

Sehr schön. Weiter im Dialog:

>>

Für den Werbekunden spielt lediglich eines eine Rolle: die Wirkung der Werbung in Abhängigkeit vom gesetzten Ziel. Es ist seit den 1960er Jahren über unzählige Studien bekannt, dass Werbung in Radio und TV umso besser wirkt, je stärker sie auffällt oder sogar stört. Damit handeln auch die Marken, die entsprechend werben, nicht unvernünftig.

Auch in der Konkurrenz um die Aufmerksamkeit am Regalplatz hat sich der “Störer”, wie die Werbeform sogar explizit heißt, seit Jahrzehnten bewährt. Aufkleber auf den Verpackungen, die eine bestimmte Eigenschaft (z. B. einen vergünstigten Preis, eine besondere Bewertung der Stiftung Wahrentest etc.) aus dem stimmigen Package-Design schrill herausheben, führen immer zu deutlich höheren Verkäufen.

>>

Allerdings – auch das ist lange bekannt, wirkt Schock-Werbung oder Werbung mit Negativ-Aussagen nicht (die Leute können sich zwar gut daran erinnern, “erschrocken” zu sein, aber die konkrete Botschaft, Markenerinnerung etc. ist dann in der Regel sehr schlecht, was sich wahrnehmungspsychologisch gut erklären lässt). Die Kunst der Display-, Anzeigen-, TV-Werbung liegt darin, stark genug aufzufallen, ohne einen Schock zu erzeugen.

>>

Der Wirkmechanismus, der für TV, Print, Radio und für klassische Online-Seiten definitiv stimmt, ist allerdings für Social Media nicht übertragbar. Hier ist die Situation vielleicht eher vergleichbar mit einem Restaurant-Besuch, wo man zwar gerne etwas vom Kellner oder von anderen, die das Restaurant schon kennen, empfohlen bekommt, aber auf keinen Fall überredet werden möchte.

>>

Insofern ist es, denke ich, sinnvoll, “Advertising by Interuption” und “Advertising by Engagement” immer stark Umweltbezogen abzuwägen. In bestimmten Situationen ist es eben besser laut zu schreien, anstatt darauf zu warten, gefragt zu werden.

>>

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Am 23.02.2011 10:45, schrieb sabria david:

>

Hübsch. Wir nähern uns, in weitem Schneckenkreise (bin gespannt wo wir landen).

>

Ich stelle in Abrede, dass die Studien heute (bzw. in Zukunft) dasselbe Ergebnis brächten. Das Störprinzip ist nicht unendlich nach oben skalierbar: Es funktioniert am Besten in einem Medienumfeld von drei Fernsehprogammen, einer Tages- und zwei Wochenzeitungen (wo man 1. nicht wegzappen/ausweichen kann und 2. noch Aufmerksamkeit genug hat, sie zu bemerken). Je mehr Medienrauschen hinzukommt, um so schwerer wird es, dieses Prinzip durchzuhalten (auch wenn es natürlich noch eine ganze Weile funktioniert).

Man sieht gut die derzeitigen logischen Konsequenzen: auf mehr Rauschen wird mit noch mehr Geräusch reagiert, um die anderen Geräusche zu übertönen. Die Störer werden lauter, fangen an zu blinken, herauszuspringen und Krach zu machen. Man muss mehr Energie aufwenden, um zu stören, um noch aufzufallen, sich im Wettbewerb der Reize durchzusetzen. Die Frage ist nur, ob man das tatsächlich mit noch MEHR am besten schafft oder eher mit weniger, dem RICHTIGEN und PASSENDEN, das nicht durch Lautstärke, sondern durch Treffsicherheit auffällt.

Das ist m.E. ein sehr slowes Thema, weil es auch einen qualitativen Wechsel einfordert statt einer rein quantitativen Steigerung. “Mehr desselben” wird ab demnächst nicht mehr funktionieren. Da wird man sich fragen müssen, wie man sich in Zukunft bei Nutzern durchsetzen können wird, die ja nicht zufällig immer mehr unter Reizüberflutung leiden.

>

Vielleicht mit so etwas wie slow advertising (slow communication ja sowieso). Ich lerne aber durch deine Ausführung, dass man tatsächlich klarer zwischen “advertising” (=Stören) und communication (=Kontaktaufnehmen) trennen sollte.

> Your turn.

> S

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——– Original-Nachricht ——–

Betreff: Re: instinktgetrieben

Datum: Wed, 23 Feb 2011 17:49:26 +0100

Von: Joerg Blumtritt

An: sabria david

Aufschlussreich ist ja die Definition von Information in der Nachrichtentechnik: Information ist immer nur die Störung, eines ansonsten gleichmäßigen Zustands. “Ein Gedicht ist ein Alphabet in Unordnung” (Cocteau). In dem Moment, wo Störungen zu Rauschen werden, sind sie keine mehr.

Das Zeigen des Passenden für die, die es auch wirklich sehen wollen funktioniert gut bei Dingen, die nur wenige Menschen ansprechen. Bei Dingen des täglichen Bedarfs aber: wie den Passenden finden? – es sind nämlich so gut wie alle! Das ist die Stärke und Schwäche der Massenmedien, insbesondere von TV: sehr viele Menschen gleichmäßig gut erreichen.

Einfache Massenprodukte auf ein bestimmtes Profil zu targeten, lohnt sich einfach nicht, mal davon abgesehen, dass die Kriterien fehlen würden. Außerdem verlieren Marken, die unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Botschaften gegenübertreten schnell an Glaubwürdigkeit – zu oft ist man selbst in mehreren Rollen unterwegs, und wenn man dann einmal die Nachricht a) und dann wieder b) empfängt, denkt man unwillkürlich: die wollen mich doch nur um den Finger wickeln.

Einfache, konsistente Markenführung dagegen, spricht alle Menschen mit den selben Worten an und ist so vielleicht nicht jedermann sympathisch, zumindest aber ehrlich.

Damit kommt aber das Phänomen Störung im nachrichtentechnischen Sinn wieder zum tragen, weil die Botschaft sonst nicht gehört wird. Dabei ist das Störende, im Sinne der n-tv-Brochure gar nicht auf eine bestimmte Werbung bezogen, sondern bedeutet allgemein, dass neben dem redaktionellen Angebot noch ein zweiter Strang an Information läuft, eben die Werbung.

Es kann in den meisten Medien aber gar nicht zu einem “Immer lauter” kommen, weil sowohl die Fläche werberechtlich oder redaktionell klar begrenzt ist, die Bildsprache ihre Grenzen in der “guten Sittlichkeit” und dem UWG findet, und die Lautstärke technisch beschränkt bleibt. Es muss also, um eine wirksame Störung zu erreichen, mit subtileren Mitteln gearbeitet werden.

Gute Kreation heißt also: Stören ohne zu schreien, ohne zu schockieren – ohne zu ver-stören. Aber gut ist die Kreation nur, wenn die Botschaft wahrgenommen, verstanden und erinnert wird; sonst be-wirkt sie nämlich nichts.

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——– Original-Nachricht ——–

Betreff: Briefwechsel?

Datum: 2011/4/21

Von: Sabria David

An: Joerg Blumtritt

CC: Benedikt Köhler

 

Lieber Jörg,

sollen wir wie neulich angedacht unseren Werbe-Briefwechsel publizieren?

Was hältst du davon, @benedikt, das als neue Gattung auf slowmedia einzuführen? Vielleicht überfordert das die Leser, keine Ahnung. Es wäre aber schön diskursiv – und es würde die Diskussion am Ende ins Publikum öffnen.

Das Original habe ich nochmal angehängt.

Herzlich und vorösterlich

Sabria

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Am 21.04.2011 22:21, schrieb Benedikt Koehler:

>

Da kann man nur sagen: Hach! Was für wunderbare Dialoge entstehen, wenn man euch einmal für ein paar Augenblicke den diskursiven Rücke zuwendet.

So viele Anschlüsse! Dinge, die wir auch gerade erst vor kurzem diskutiert haben: Das Thema Rauschen / Signal hat die Werbung gewissenmaßen umkodiert in Umfeld / Werbebotschaft. Aber das faszinierende ist: Die Vorstellung von der Werbung als das Unterbrechende, Störende, Signalhafte ist immer schon zu kurz gegriffen gewesen. Gossage hat Werbeformen kreiert, die nur dann funktioniert haben, wenn man tatsächlich aktiv geworden ist. Oder denkt an Zeitschriften wie Vogue, Marie Claire etc. Das ist kein Umfeld, in dem Werbung platziert wird. Die Werbung ist selbst das Umfeld! Das ist eine Sache, die man auch bei Monocle immer wieder spürt. Da ist Werbung dabei, die man a) gar nicht als Unterbrechung empfindet und b) bei der man gar nicht enttäuscht oder wütend wird, wenn man am Ende herausfindet, dass das eine Marke “präsentiert” hat.

Deutlich wird das auch, wenn man nicht so sehr in klassischen Werbeträgern denkt, die eigentlich eine andere Botschaft aussprechen und die Marke sich nur Huckepack darauf setzt: Bandplakate, Konzertplakate, Filmplakate – alles Werbeformen, die Leute sich extra kaufen. In wie vielen Küchen hängen alte Persil- oder Coca-Cola-Werbungen? Was ist mit Schaufenstern, die für ein Ladengeschäft werben, aber auch am Sonntag von den Flaneuren betrachtet werden? Was ist mit den Passagen als Tempel des Konsums?

Werbung hatte immer schon das Potential mehr zu sein als Störung und Unterbrechung, als etwas was man notgedrungen akzeptieren muss. In Anlehnung an Gossage könnte man sagen: Werbung ist nach wie vor eine extrem kindische Kommunikationsform (= hier kannst du dich einklinken Jörg mit den Lebensalterstufen). Manchmal gibt es altkluge oder tatsächlich frühreife Ausnahmen. Aber der größte Teil funktioniert nach einem sehr kindlichen Schema. Nicht ohne Grund titeln Bücher über die Werbepsychologie z.B. “Haben-Wollen”. Unseren Job als Werber, die wir drei ja irgendwo sind, ist es eigentlich, erwachsene Werbung zu machen, die ihr Publikum ernst nimmt, die nachhaltig wirkt, die empfohlen wird … erinnert euch das an etwas? 😉

>

> Viele Grüße

> Benedikt

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Am 21.04.2011 23:21, schrieb Sabria David:

> Hervorragend! Damit haben wir den vorläufigen Schlussakkord zu unserem Dialog – das einzige, was noch gefehlt hat (wenn wir das verwenden dürfen?). Auflösung im Trialog und Öffnung des Gesprächs nach draußen. Unschlagbar.

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Am 22.04.2011 12:48, schrieb Joerg Blumtritt:

> ja, wir sollten es veröffentlichen!

 

 

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Pro Publica: Zweiter Pulitzer Preis für das philanthropische Modell

“We are allowed to spend 10 million dollars a year – just to make journalism in public interest.” Paul Steiger, ein zierlicher, schütter- grauhaariger freundlicher Mann und Chef vom Dienst des amerikanischen Rechercheportals ProPublica, sagte das im vergangenen November im Europarat in Strasbourg. Dort fanden die “Assises du Journalisme” statt, eine französische Konferenz über die Zukunft des Journalismus. Was für ein cooler Job, 10 Millionen Dollar jährlich im Jahr für guten Journalismus im öffentlichen Interesse ausgeben zu dürfen.

Als Vertreterin des “Mouvement Slow Media” war ich dort eingeladen, um über die Theorie medialer Qualität zu sprechen. Das Thema der Podiumsdiskussion lautete programmatisch: “Contre l’info low cost, vive la slow info!” Paul Steiger ist für mich ein Beispiel gelungener Praxis von “slow info contre l’info low cost”, von journalistischer und medialer Hochwertigkeit.

Die Frage ist natürlich, wer das zahlt. Oder auch: Wem das etwas wert ist. Es gibt verschiedene Modelle für die Rentabilität von Qualität. Pro Publica verkörpert eine davon, die Nonprofit-Variante: das philanthropische Modell. Das Geld für die aufwendigen Recherchen kommt von einer Stiftung. Denn Qualität von dieser Art kostet natürlich Geld. 10 Millionen jährlich, das ist viel Geld – vielleicht ist es eine Art Anschubfinanzierung. “Diversify the sources of funding” nannte Steiger als seine nächsten Ziele, und das scheint aufzugehen. Über 5 Millionen Dollar aus anderen Quellen kommen inzwischen hinzu und machen Pro Publica Schritt für Schritt unabhängiger vom Stiftungsehepaar. Paul Steiger sagt, das ist für ihn ein Zeichen, dass das Modell funktioniert.

Die Recherche-Ergebnisse teilt das Nachrichtenportal unter einer Creative Commons-Lizenz. Es fordert ausdrücklich dazu auf, das zu tun, was dem Journalismus sonst ein rotes Tuch ist: “Steal Our Stories, Please!”  Sie teilen gerne. Es ist ganz im public interest: “We want our stories to have impact, and when you share them, you’re helping us make sure they reach the people who need to see them.”

Nun hat Pro Publica, gegründet vor erst vier Jahren, zum zweiten Mal in Folge den Pulitzer Preis erhalten. Diesmal für eine Serie von Beiträgen, die ausschließlich online publiziert wurden. Das ist bedeutsam, weil es der erste Pulitzer Preis ist, der nicht an das Erscheinen in einem Print Medium geknüpft ist. Und es belegt die Grundannahme, auf der unser Slow Media Ansatz fußt: Dass mediale Qualität und das Gelingen von Kommunikation nicht an einen bestimmten Medienträger, sondern an medienübergreifende Qualitätskritrien gebunden sind.

Pro Publica ist mit seinen vielen fest angestellten und gut bezahlten Journalisten eine Art Gegenmodell zum unentgeltlich schreibenden Blogger. Aber es ist ebenso ein Gegenmodell zum festangestellten Print-Journalisten, der heute längst nicht mehr die Bedingungen und Ressourcen vorfindet, um fundierte, nachhaltige Recherchen zu betreiben und seinen eigenen Qualitätsansprüchen gerecht zu werden ohne sich selbst auszubeuten. Das alleine macht es interessant. Journalism made not for profitabilty, but for public interest.

Wir sind gespannt, wie sich Pro Publica weiter entwickelt und gratulieren herzlich zum Pulitzer Preis.

 

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Das Bild oben zeigt Paul Steiger im Europarat (vorne rechts auf dem Podium)

 

 

 

 

 

 

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Zu Gast in der Märchenstunde

Neulich war ich in Berlin, und dort hatte ich die Ehre, von Björn Grau und Max Winde zu einer ihrer rituellen Märchenstunde eingeladen zu sein. Es ist die 13. Folge eines höchst interessanten Formats, das ich gerne als Beispiel für ein slowes Medium zitiere. Es entzieht sich den üblichen Gattungen: Es ist ein Podcast. Es geht um Märchen. Es ist verdammt lang – eine Stunde muss man sich dafür Zeit nehmen, und man kann nebenher nichts anderes erledigen außer Tee zu trinken und in die Sonne oder wahlweise in den Regen zu schauen.

Was ich an dem Format der Märchenstunde spannend finde, ist, dass es auf souveräne und zeitgemäße Weise die mündliche Tradition des Volksmärchens wiederbelebt. Es ist ein so schön diskursives Medium. Es übersetzt völlig selbstverständlich und ohne mit der Wimper zu zucken die Salonkultur in das digitale Zeilalter. Es verlangt Aufmerksamkeit von denen, die Sprechen und es verlangt Aufmerksamkeit, von denen, die es hören.

Und jetzt, wo ist dort war, kann ich sagen: Es ist sogar noch konsequenter als ich vorher vermutet habe. Es wird nichts geschnitten, sondern es wird gesendet, wie es gesprochen wird. Es wird nichts abgesprochen, außer um welches Märchen es geht (Max kannte nicht einmal das Märchen).Wir wussten nicht, wo unser Gespräch uns hinführen würde. Es war ein gemeinsames und improvisiertes close reading. Heinrich von Kleist hätte wahrlich seine Freude an uns gehabt.

Hier also zum Nachhören für alle Freunde der Slowness, die wir unter unseren Lesern vermuten dürfen:

Die Märchenstunde 13: Rapunzel

 

 

 

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Moving towards Slow Communication

“Zeit ist wertvoll” lautet der Claim des neuen Peugeot 508. Das Auto wurde erst kürzlich – Mitte März – präsentiert. Aufbau, Inhalt und Optik stimmen frappierend und geradezu gespenstisch mit dem Werbespot zu einem anderen neuen Auto überein: dem VW Eos (“Das Auszeitauto”), über den mein Kollege Benedikt Köhler Anfang Februar in seinen Beitrag “Slow Advertising” bereits berichtet hat. Diese offenbar zufällige Gleichzeitigkeit lässt den Schluss zu, dass das Thema Slowness den Sprung in die Mittte der Gesellschaft bereits geschafft hat und als marktgängiges Thema betrachtet wird. Mediale Überforderung, Be- und Entschleunigung und bei näherem Hinsehen auch eine qualitativ andere Art der Kommunikation treffen sich in diesen Slow-Interpretationen.

Der Spot: Ein beruflich und privat erfolgereicher Mann hastet rastlos vom Stakkato der Termine und Medien angetrieben durch seinen Tag. Ruhe, Versekung, Genuss findet er erst in seinem Auto wieder. Ton aus, slow motion. Soweit so üblich.

Klickt man aber auf die Website zur Präsentation des Peugeot 508, so wird aus dem Claim für das Auto (“Zeit ist wertvoll”) die leicht verzögert (also als wohltuend langsam empfundene) einlaufende Titelzeile: “Ihre Zeit ist wertvoll” [Hervorhebung von mir]. Darunter erscheint das gängige aber in dieser Plazierung völlig anders und glaubwürdiger wahrgenommene Angebot “Intro überspringen”. Dieses Intro drängt sich nicht auf, es nötigt den Nutzer nicht. Auch der Ausknopf für den Ton ist typografisch deutlich sichtbar und nicht versteckt. In der nächsten Einstellung heißt es: “Sagen Sie uns, wie viel Zeit Sie haben und erleben Sie den neuen 508”. Hier kann der Nutzer zwischen 20, 40, 60, 80, 100 und einer 180 Sekunden dauernden Produktpräsentation wählen (in der längsten Version gibt es zur Belohnung den Designer, der in Originalsprache über sein Werk spricht).
Es geht um den Nutzer. Das ist neu. Das ist im Grunde das Gegenteil üblicher Werbung, bei der es in der Regel darum geht, den Kunden eben nicht ausschalten zu lassen, den “Schließen”-Button zu verstecken und den Ton immer etwas lauter als nötig zu fahren. Es wirbt nicht nur, es kommuniziert.

Damit gehen Peugeot und die Leadagentur EuroRSCG in ihrer Kommunikation einen wichtigen Schritt über die rein inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Slow-Ansatz hinaus: Sie lässt das rein inhaltliche Sprechen über das Thema “Slow” hinter sich und wendet das Konzept “Slow” auch auf die ART des Kommunizierens an. Während die Beipiele, von denen Benedikt sprach, sich dem Thema Entschleunigung und Slowness thematisch nähern (mit leicht ironischem Approach bei Mercedes, mit ungebrochenem Duktus im Falle von VW), so bemühen sie sich hier, aus dem, wovon sie thematisch sprechen (“Zeit ist wertvoll”) auch Konsequenzen für den Nutzer und die Kommunikation zu ziehen. Dieser Ansatz nähert sich in der Tat unserer Definition von Slow Media: Er versucht den Nutzer und seine kostbare Zeit zu respektieren, ihn nicht wider Willen mit Werbung zu überschütten.

Bei der vergleichsweisen Betrachtung der Online-Präsentation des VW Eos musste ich feststellen, dass auch Volkswagen und ihre Agentur DDB einen Schritt in diese Richtung versuchen: Sie bieten nach dem Spot eine Auszeit-App an, die dem medial überforderten Nutzer eine vorübergehende Auszeit seiner digitalen Verpflichtungen ermöglichen soll.

Eine Spielerei, die kaum mehr als ein Gimmick ist – allerdings einer mit möglichwerweise hohem Kommunikations-Kollateralschaden: Bei der Online-Recherche stößt man schon als erste Nennung auf die ratlose Frage eines mutmaßlichen Nutzers, wie der Kontakt zu den gesperrten Portalen nach dem Absturz des Programmes wohl wieder herzustellen sei. Diese Werbeidee scheint so hartnäckig zu sein, dass sie auch nach De- und Reinstallierung aller Programme dennoch auf einer dauerhaften Auszeit seines Nutzers beharrt.

(Übrigens auch ein gutes Beispiel dafür, dass Unternehmen in einer solchen Situation das Kommentarfeld von Foren als Kommunikationskanal für sich entdecken sollten. Dass sie also kommunizieren statt nur werben sollten.)

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Mehr zum Thema Slow Communication und Autos: https://www.slow-media.net/slow-communication-und-falsche-tramper

 

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Was empört uns?

Als ich vor fünf Wochen das Büchlein “Indignez vous!” aufschlug, um den Essay des 93Jährigen Stéphane Hessel zu lesen, passierte etwas Besonderes. Ich legte nach wenigen Zeilen das Buch beiseite, stand auf, holte mir einen Bleistift und setzte mich wieder zum Lesen. Mit dem Stift in der Hand, um Stellen anzustreichen und mir Notizen zu machen.  Das habe ich seit Jahren nicht mehr getan. Die letzten Anstreichungen in meinen Büchern stammen noch aus meiner Studienzeit.

Ich weiß nicht genau, wie diese Wirkung zustande kam. Vielleicht war es die Unumwundenheit, mit der ein Mensch geradeheraus und unumstößlich feststellt, dass wir Prinzipien und Werte brauchen. Das ist ungewöhnlich, obwohl doch die Menschrechte für uns alle eigentlich selbstverständlich sind.

Stéphane Hessel hat noch etwas zu sagen, bevor er geht. Er spricht von Verantwortung. “La responsabilité de l’homme qui ne peut s’en remettre ni à un pouvoir ni à un dieu” (p. 13). Er meint damit die Verantwortung als Mensch, die man an niemanden abgeben kann, die nicht delegierbar ist.  Hessel wünscht uns Nachgeborenen (und das sind wir in Anbetracht seines Alters wohl alle) Gründe zur Empörung, die uns an diese Veranwortung erinnern, an die Notwendigkeit für etwas einzustehen und zu handeln.

“Je vous souhaite à tous, à chacun d’entre vous, d’avoir votre motif d’indignation. C’est précieux.” (p.12)

Mehr noch fordert er, diese Gründe zur Empörung, die Dinge, die unerträglich und nicht akzeptabel sind, “les choses insurportables”, gezielt zu suchen: “Pour le voir, il faut bien regarder, chercher.” (p.14). Hessel rät, hinzusehen und sich der Differenz zwischen dem “wie es sein sollte” und dem “wie es ist”, auszusetzen, sie auszuhalten und Empörung zuzulassen. Erst aus der empfundenen Differenz zwischen Ideal und Realität entspringt Handeln. “L’indifférence: la pire des attitudes”, lautet der konsequente Umkehrschluss. Denn Indifferenz verhindert das Handeln.

Empörung, unsere Preziose. Das finde ich interessant. Was empört uns eigentlich? Was wäre in der Lage uns zu entrüsten?  Was würde uns auf die Barrikaden gehen lassen?

Zu meinem Beitrag, den ich über Hessels Buch schreiben wollte, bin im Januar nicht gekommen. Es passierte soviel anderes. Inzwischen gibt es eine deutsche Übersetzung von Michael Kogon. Ich nehme sie zum Anlass, dieses Büchlein mit seinen lesenwerten 20 Seiten hier doch noch zu empfehlen, und zwar nachdrücklich. Es ist ein Buch, das sich wunderbar teilen und verschenken läßt.

Zwischen meiner ersten Begegnung mit dem französischen Essay und seiner deutschen Übersetzung liegen nur wenige Wochen. Aber was für Wochen! Tunesien, Ägypten, Libyen liegen dazwischen. Wieviel gerechte Empörung liegt darin. Wieviel Erstaunen unsererseits, dass Menschenrechte tatsächlich etwas sind, wofür Menschen bereit sind, ihr Leben zu riskieren, vor unseren Augen.

Ja, Stéphane Hessel lächelt dieser Tage, wenn er im Fernsehen auf die Lage in der arabischen Welt angesprochen wird.

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Stéphane Hessel hier ab min 4:30 (ard, Beckmann)

Stéphane Hessel: Indignez-vous! Indigène éditions, Montpellier, décembre 2010. 6 €

Stéphane Hessel: Empört Euch! Aus dem Französischen von Michael Kogon. Ullstein, Berlin 2011. 3,99 €

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Nachtrag in eigener Sache:

Ganz am Ende, nachdem ich dem alten Herrn schon längst erlegen war, entdeckte ich diese Textstelle, die Stéphane Hessel als Slowmediavisten decouvriert:

“La pensée productiviste, portée par l’Occident, a entraîné le monde dans une crise dont il faut se sortir par une rupture radicale avec la fuite en avant du “toujours plus”, dans le domaine financier, mais aussi dans le domaine des sciences et des techniques. Il est grand temps que le souci d’éthique, de justice, d’équlibre durable devienne prévalent.” (p. 20)

Hier in deutscher Übersetzung:

“Das im Westen herrschende materialistische Maximierungsdenken hat die Welt in eine Krise gestürzt, aus der wir uns befreien müssen”, schreibt Hessel. “Wir müssen radikal mit dem Rausch des ‘Immer noch mehr’ brechen, in dem die Finanzwelt, aber auch Wissenschaft und Technik die Flucht nach vorn angetreten haben. Es ist höchste Zeit, dass Ethik, Gerechtigkeit, nachhaltiges Gleichgewicht unsere Anliegen werden.” (S. 19f.)

 

 

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Die Echtzeitlüge

Die Zukunft hat schon begonnen.
Robert Jungk, 1952

Auf welcher Seite stehst Du, Kulturschaffender?
Jörg Immendorf, 1973

Wenn es einen Begriff gibt, der die Conditio Humana am Anfang des 21. Jahrhunderts beschreibt, dann könnte dies der Begriff der “Echtzeit” sein. Aber nicht er allein, sondern all die vielen Ermahnungen, im Jetzt, Hier und Heute oder dem Augenblick zu leben würde ich noch mit dazu zählen. Echtzeit ist nur eine von vielen Beschreibungen dieses Gegenwartsfetischismus, allerdings eine, die wissenschaftlich-technischen Assoziationen weckt. Von Ratgeberliteratur bis Medientheorie wird die Gegenwart, die absolute auf das Jetzt zugespitzte Gegenwart, als einzig wahrer Lebensraum der technischen Zivilisation betrachtet. Der natürliche Lebensraum der digitalen Eingeborenen ist das Jetzt von Facebook, Twitter und SMS.

Gelebt wird in der Echtzeit. Alles andere ist Flucht und demnach auch das Territorium der Ewiggestrigen (= diejenigen, die in vergangenen Ideen leben) oder der Träumer und Spinner (= diejenigen, die in der Zukunft leben). Echtzeit, das klingt so, als wäre die Zeit, in der wir früher gelebt haben, irgendwie falsch oder gefälscht gewesen ist. Die Kleriker und Adeligen, die im 15. Jahrhundert damit begonnen haben, überall Uhren anzubringen, um die Menschen pünktlich zur Arbeit zu bringen, waren also in Wirklichkeit so etwas wie die Grauen Herren? Sie haben die alte Zeit – die Zeit der Feste und Jahreszeiten – gestohlen und durch eine Fälschung ersetzt? Durch einen Taschenspielertrick, der zum Beispiel Dante sofort aufgefallen ist: “Wie wohlgefügt der Uhren Räder tun, in voller Eile zu fliehen scheint das letzte, das erste scheint, wenn man´s beschaut, zu ruhen.”

In Wirklichkeit verkaufte die Zeitelite der Bevölkerung natürlich gar keine minderwertige Zeitware, sondern nur eine neue Art von Zeitmessung. Eine Zeitmessung, die keine individuelle Angelegenheit mehr ist, sondern standardisiert war. Eine Ware, mit der man rechnen und buchhalten konnte und die vor allen Dingen im ganzen Ort – später der ganzen Region und noch später im ganzen Land – dieselbe war. Auf mechanischem Wege gelang, was die Kirche schon lange Zeit mit ihrer hoch-komplexen Rhythmisierung aus Jahreskreis und Stundenbuch versucht hatte. Unsere Echtzeit ist also gar nicht so neu, sondern nicht viel mehr als das Aufblasen der Renaissance-Synchronzeit auf einen noch größeren Maßstab.

Doch zurück zu den Eskapisten. Je mehr man die Echtzeit als “echte” und damit einzig wahre Zeit lebt, desto problematischer wirken die Fluchtbewegungen in Vergangenheit oder Zukunft. Vor kurzen diskutierten ein paar Politiker und Politikwissenschaftler über das Phänomen der Echtzeitpolitik. Dass Zeit eine politische Machtressource darstellt, ist freilich nicht neu, aber in dieser Diskussion schien durch, dass im iPad- und Blackberrybundestag diese Ressource noch einmal einen unglaublichen Bedeutungszuwachs erfahren hat. Die Abgeordneten sind nicht nur ihrem Gewissen, sondern auch der Echtzeit verpflichtet.

Aber auch das kann Flucht sein. In der Echtzeit zu leben, kann nämlich auch bedeuten, die Schichten der Vergangenheit zu ignorieren, auf denen jede politische Entscheidung ruht, und ebenso die Zukunft, die durch diese Entscheidung beeinflusst werden kann, aus dem Blick zu verlieren. Robinson Crusoe lebte in der Echtzeit. Aber das heißt dann auch im Sinne William Gibsons: “They sat around accessing media all day and talking about it, and nothing ever seemed to get done.”

Slow Media ist vor diesem Hintergrund der Versuch, sich nicht einseitig auf die bärtige Gegenwart, die runzlige Vergangenheit oder die glattwangige Zukunft zu konzentrieren oder gegeneinander auszuspielen. Vielmehr geht es darum, auf diesen vielfältigen Registern der Zeit spielen zu lernen, ein Gespür für Wiederholungen und Unvollständigkeiten auszubilden. Insofern also: Langsamkeitspfleger werden für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesucht. Wie die Stellenbeschreibung solcher Langsamkeitspfleger aussehen könnte, hat Robert Musil schon mit seinem “Möglichkeitssinn” skizziert, nämlich “die Fähigkeit […], alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.”

Danke an @markus_siepmann für den Wink mit dem Zaunpfahl.

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“Wir sind durch die Hölle gegangen”


Die Schule von Athen, nach Raffael, Paris um 1735, heute in der Aula der Akademie der Bildenden Künste, München.
Die Akademie in Athen, die Urform der Hochschule – ein Männerbund.

Initiation in eine geschlossene Gruppe von Menschen findet häufig ritualisiert statt. Solche Rites-de-Passage zur Aufnahme neuer Mitglieder in die Clique, Gang oder Truppe sind häufig mit hohen psychischen und körperlichen Strapazen verbunden. Oft müssen Novizen rituell sterben, um vollwertige Männer des Ordens zu werden.

Nach durchleben dieser “harten Schule” stellt sich Glücksgefühl ein, man hat es geschafft, gehört jetzt endlich auch dazu. Durch diesen Effekt stabilisiert sich ein so geschlossenes System selbst. “Es muss doch zu etwas gut gewesen sein” – so die Rechtfertigung der gequälten vor sich selbst und anderen. “Ich musste auch durch die Hölle gehen, und es hat mir nicht geschadet” – damit verbietet sich Solidarität mit den Schwachen oder gar Sympathie für Kritiker. Der blutige Brei klebt die verschworenen Männerbünde zusammen, um mit Theweleit zu sprechen.
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Die deutschsprachigen Tweets in meiner Twitter-Timeline kennen seit gestern – bis auf ganz wenige Ausnahmen – nur noch ein Thema: Verteidigungsminister zu Guttenberg hat bei seiner Promotion abgeschrieben.

Völlig unabhängig, ob ich den CSU-Politiker mag oder nicht, finde ich die überwältigende Bestürzung mehr noch als die – für Twitter ja nicht ungewöhnliche Häme – äußerst befremdlich. Die Betroffenheit über eine angenommene Verletzung akademischer Regeln dominiert die Kommunikation – und nicht etwa die Ereignisse in Lybien oder Bahrain!

Um Himmelswillen, kommt mir in den Sinn – der Kaiser ist nackt! Wie konnte nur das System drakonischer Qualitätssicherung und Selbstgeißelung der deutschen Alma Mater so versagen! – Jeder neutrale Beobachter wird sofort denken: das machen am Ende alle so! Da wird jemand mit einer nicht-so-originellen Promotion nicht nur Doktor, sondern gar noch erfolgreicher Politiker! Wäre er an der Hochschule geblieben – kein Hahn hätte je danach gekräht, das glaube ich zumindest.

Ich kenne keinen anderen Berufstand, der so schamlos parasitär von der intellektuellen Leistung anderer lebt, wie die Professoren, die völlig selbstverständlich jede Zeile ihrer Veröffentlichungen von ihren Studenten, Assistenten und Mitarbeitern schreiben lassen und – obwohl für ihre Arbeit bereits durch Steuergelder entlohnt – auch noch die Tantiemen erhalten.
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Genug Universitäts-Bashing – ich will gar nicht erst auf die, von mir wahrgenommene Qualität der Forschung und Lehre an deutschen Hochschulen eingehen. Viel Interessanter finde ich die Frage, wie sich das System mit seinen eklatanten Mängeln so beharrlich stabil hält. Und da spricht die Entrüstung der Akademiker in der Causa Guttenberg eine deutliche Sprache. Um in Deutschland überhaupt promoviert zu werden, muss man in den meisten Fächern eine jahrelange Tortur überstanden haben, sich durch tausende von Seiten Literatur gearbeitet haben und gleichzeitig oft schlecht oder kaum bezahlte Frondienste für den betreffenden Lehrstuhl ableisten. Das Ergebnis ist in der Regel für den Nicht-Fachmann kaum als Fortschritt wahrnehmbar. Selbst in meinen Fächern fällt es mir meist schwer, die Leistung einer Promotion zu erkennen, wenn sie nicht genau in mein eigenes Interessesgebiet fällt.

Es muss doch zu etwas gut gewesen sein, die ganze Mühe! Es kann doch nicht sein, dass man am Ende es hätte auch einfacher haben können! Und statt die Regeln des akademischen Betriebs zu hinterfragen, die Sinnhaftigkeit, erwachsene, gut ausgebildete Menschen jahrelang im Zustand wirtschaftlicher Abhängigkeit und Ausbeutung zu halten, in Frage zu stellen – muss es sich hier natürlich um einen Einzelfall handeln. Der Rest vom System wird davon selbstverständlich nicht berührt.

Diese Reaktion erinnert an Menschen, die aus der Bundeswehr kommen, an Korps-Studenten, die über ihre Jahre als Fuchs schwärmen, oder an meinen Großonkel, wenn er von der Kriegsgefangenschaft erzählte.
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Es ist aber tatsächlich an der Zeit, eine neue Ausrichtung der Promotion zu fordern! Entweder man entschließt sich, wie in vielen anderen Ländern, das Niveau auf ein erträgliches Arbeitsmaß zu senken – und zwar in allen Fächern auf dasselbe! – Mehr als zwei bis drei Jahre darf eine Promotion einfach nicht dauern.

Oder die Dissertation wird systematisch zu dem aufgewertet, was sie ja angeblich sein soll: zu einer eigenständigen – originellen – wissenschaftlichen Arbeit. Dann können aber reine Literatursammlungen, Meta-Analysen oder Erbsenzählen nicht mehr ausreichen.

Es ist Zeit für die Slow Theses! Doktorarbeiten nicht als “Führerscheinprüfung” der Akademiker (Zitat von Benedikt), die man eben machen muss, um dazu zugehören, sondern als eine wertvolle wissenschaftliche und vor allem gesellschaftliche Leistung.

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Claus Kleber denkt Hajo Friedrichs neu

Das heute journal des 13. Februar wurde moderiert von Claus Kleber.  Es war eine denkwürdige Ausgabe des täglichen Nachrichtenjournals des ZDF. Hier ist die Aufzeichnung der Sendung, die nur noch wenige Tage im Internet nachzuschauen sein wird.

Es passiert dort ab min. 15.44 Folgendes: Nach den Nachrichten und dem Wetter kündigte der Moderator Claus Kleber einen Rückblick auf die historische Woche in Ägypten an. Es folgt ein gut einminütiger chronologischer Rückblick auf die bekannten Ereignisse, untermalt mit Musik. Wie um die Emotionalität der Bild- und Tonsprache zu rechtfertigen, sagt Claus Kleber in der Abmoderation: “Es war eine emotionale Woche”. Und schließt einen bemerkenswerten Satz an:

“Nehmen Sie es bitte als eine Verbeugung der Journalisten des Journals vor den Menschen, über die sie berichten durften.”

Der Satz klingt wie eine Gebrauchsanweisung für das ungewöhnliche Format. Vielleicht ist er auch eine Gebrauchanweisung für eine neue Art von Journalismus. Er markiert eine Wende im Selbstverständnis der konventionellen Medien. Zwar ist es formal recht moderat gelöst – der Rückblick lief nach dem offiziellen Nachrichtenformat und ist eher der Form des Kommentars zuzurechnen als der eines Berichts. Aber dennoch tut Claus Kleber hier nicht Geringeres als offen das Diktum des Hanns Joachim Friedrichs zu hinterfragen. Dieser hatte den bisher als unumstößliche Orientierungsmarke für Journalisten geltenden Satz gesagt:

“Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.”

Nun verneigt sich eine Redaktion in Respekt vor dem Sujet ihrer Berichterstattung – und hebt (wenn auch nur im Nachhinein) die Distanz zu der zu berichtenden Sache auf. Ich finde diesen Schritt des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preisträgers aus dem Jahr 2010 mutig und konsequent. Claus Kleber stößt damit eine Tür zu einem neuen Journalismus auf, der sich in Zukunft mit eben diesen Fragen befassen muss: Wie subjektiv darf Journalismus sein? Wieviel Mensch darf bzw. muss durch den Berichterstatter durchscheinen? Wie definieren wir Glaubwürdigkeit? Wie Objektivität? Gerade die Beteiligungsmedien des digitalen Raumes zwingen mit ihrer praktizierten (und zum Teil übers Ziel hinausschießenden) Teilhabe den Journalismus, sich diese Fragen neu zu stellen. Der Journalismus wird sich in Zukunft zwischen den Polen der Subjektivität und der Entfremdung neu verorten müssen. Ohne seine Ideale aufzugeben, aber diese vielleicht in neuem Licht betrachtend. “Rolle und Selbstverständnis des Journalismus” steht auf der Liste für unsere Forschungsvorhaben im Institut. Ich bin sehr gespannt darauf. Und es würde mich wirklich interessieren, welche Diskussionen der Entscheidung der heute journal-Redaktion vorausgegangen sind. Das waren bestimmt insgeheim Gespräche über die Zukunft des Journalismus.

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Mehr zum Thema Subjektivität und Entfremdung im Journalismus in dem Beitrag “Über Glaubwürdigkeit, Schreiben und Handeln“.