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Netzstecker

Woran es liegt, weiß ich nicht. Aber auf diesem Blog ist Pierre Bourdieu bisher leider viel zu selten zu Sprache gekommen. Dabei sind seine Gedanken zum sozialen Feld, Kapitalsorten und Distinktion wie geschaffen für die Analyse von Slow. Ist die Lebenszeit nicht auch eine Art Kapital, die man gegen andere eintauschen kann? Bedeutet Slow dann nicht auch, sein Zeitkapital für wertvoller zu halten als sein ökonomisches Kapital und der Versuchung zu widerstehen, kostbare Zeitbudgets für epikuräischen Genuss umzutauschen in Geld oder Einfluss?

Was mich gerade eben wieder zu Bourdieu gebracht hat, ist aber eine andere Idee. Er schreibt über Kunstwerke und Kulturproduktion, dass ihr primärer Zweck nicht der ästhetische Genuss ist, sondern dass die drei folgenden Distinktionsmechanismen für die soziale Hierarchie des guten Geschmacks viel entscheidender sind: erstens sind Ergebnisse der Kulturproduktion immer an bestimmte soziale Klassen gerichtet und leisten also auch Beihilfe zur Definition der Klasse. Zweitens grenzen sie diese von anderen Klassen ab und drittens dienen sie als Ausweis der Mitgliedschaft zu dieser. Der Künstler und der Connoisseur bedienen sich dieser Mittel um eine exklusive, hierarchische und stabil reproduzierbare Hierarchie der Kultur zu etablieren. Ein wichtiger Punkt dabei: die Unterschiede müssen rein gehalten werden, die Klassen müssen anhand ihrer kulturellen Codes jederzeit sauber voneinander getrennt werden können: Donaldisten ins Töpfchen, Leser von Lustigen Taschenbüchern ins Kröpfchen.

Tulpen

Vor fünf Jahren hatte ich mit einer Archäologie der Blogosphäre begonnen und habe versucht, die frühesten Schichten dieser Sphäre auszugraben – also die Trojas I bis X der digitalen Literatur und ihre Genealogien zu entdecken. Eines der Ergebnisse ist dieser Zeitstrahl der deutschen Blogosphäre. Was an den frühen Blogs fasziniert, ist die intensive Verwendung von Links. Kein Post ohne Links, waren doch die ersten Ur-Blogs der mittleren digitalen Bronzezeit doch nichts anderes als kommentierte Linklisten. Der Gestus des Bloggers erinnert dabei an die Ethnologen des 19./20. Jahrhunderts. Sehet, welche merkwürdigen Dinge ich in den endlosen Weiten des Internets gefunden habe.

Links sind dabei auf den ersten Blick nichts anderes als kulturelle Querverweise oder Zitate. Die Blogosphäre kann man auch als eine globale Zitationsgemeinde sehen. Insofern, könnt man meinen, gefundenes Fressen für die oben beschriebene kulturelle distinction Bourdieuscher Art. So wie man in der Partitur von Schoenberg Zitate von Strauss findet, entdeckt man auch immer mehr Verweise zwischen den digitalen Kulturprodukten. Mit einem entscheidenden Unterschied: die digitalen Verweise sind maschinenlesbar. Mit der geeigneten Software – mein Code dafür hieß Metaroll – lässt sich der auf den ersten Blick esoterische Zusammenhang zwischen Blogs und Bloggerinnen restlos entschlüsseln. Der Algorithmus erkennt in Sekunden, wer eng befreundet ist, wer inhaltlich auf einer Linie ist und welche Blogger in ihren eigenen isolierten Parallelwelten leben und schreiben. Das war mit der alten Kultur nicht möglich (wird aber womöglich auch nicht mehr lange dauern).

Zum Entschlüsseln des farbenfrohen Referenzentangos der Blogosphären-Eingeboren muss man kein Feldforscher sein, ja nicht einmal ein armchair anthropologist. Diese Aufgabe kann sogar ein Roboter erledigen. Alles Wissen darüber liegt dem Onliner mit den geeigneten Werkzeugen zu Füßen. Das bedeutet aber nicht weniger, als dass die Blogosphäre sich nicht zur kulturellen Distinktion eignet. Sie ist nicht das Habitat des Connaisseurs, sondern des kulturellen Allesfressers. Dass gegen Jahresende 2012 Bloggerinnen und Blogger wie Johnny Häusler, Jens Best oder Claudia Klinger wiederentdecken, was für ein subversives Instrument sie mit der Blogosphäre bedienen können (oder könnten), ist gut. Noch besser, wenn die Blogosphäre sich im Zuge dieser Renaissance auch wieder an die wichtige Funktion des maschinenlesbaren Links erinnern würden: als Gegenmittel gegen kulturellen Standesdünkel und Distinktionsgewinnler. Überlasst die Blogosphäre nicht den Connaisseuren.

[Dieser Blogpost wurde auf einem Eee PC 900 verfasst, einem Netbook aus der Blütezeit der Blogosphäre]

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Serendipity nach dem Ende der Antiquariate

Wieviele Städte haben sich mir nicht in den Märschen erschlossen, mit denen ich auf Eroberung von Büchern ausging.
Walter Benjamin, “Ich packe meine Bibliothek aus”

I once read a silly fairy tale, called the three Princes of Serendip: as their Highnesses traveled, they were always making discoveries, by accidents and sagacity, of things which they were not in quest of.
Horace Walpole, Brief an Horace Mann vom 28. Januar 1754

2005 hatte ich zur Vorbereitung unserer Ausstellung “Splendor Solis” nach Literatur auf ZVAB gesucht. Einer der gesuchten Titel war bei einem münchner Antiquariat verfügbar. Statt also ein paar Tage auf die Lieferung zu warten, bin ich einfach auf meinem Weg durch die Stadt bei dem Ladengeschäft vorbeigegangen und habe mir das Buch direkt vor Ort gekauft. Da es mich interessierte, fragte ich den Buchhändler, wie wichtig der Vertriebskanal ZVAB für ihn sei. Ohne zu zögern sagte der: Online stünde für zwei Drittel der Verkäufe und für einen Zuwachs an Geschäft von mindestens 25 Prozent. Das war 2005.

Ich erzähle diese Begebenheit, weil es mein letzter expliziter Besuch in einem Antiquariat gewesen ist.

Nicht, dass ich nicht vorher schon das Meiste an Büchern nach Katalogen bestellt hätte – aber es war stets eine 1:1-Beziehung, stets der Katalog eines Antiquariats. Inzwischen gibt es für mich Used&Rare Books nur noch auf ZVAB und Amazon.

Amazon ist ein perfektes modernes Antiquariat; aktuelle Lehrbücher, vergriffene Texte der letzten 20-30 Jahre sind hier gut erreichbar. Das liegt meiner eigenen Erfahrung nach darin, dass Buchverkäufe über Amazon wesentlich einträglicher sind, als sie je über den stationären Antiquariatshandel gewesen wären. Es greift das Long-Tail-Prinzip: für spezielle Titel ist die Wahrscheinlichkeit einen Käufer zu finden hier einfach größer. Und die Marge, die Amazon sich behält ist entsprechend klein.

ZVAB bietet wiederum ein ganz anderes Sortiment – die gesamten Kataloge fast aller Antiquariate in Deutschland und vielen anderen Ländern sind verfügbar. Im Gegensatz zu Amazon bietet ZVAB die besten Treffer bei alten und auch bei wertvollen Büchern.

Ich kaufe mir heute Bücher vor allem gezielt. Ich stoße auf ein Thema, recherchiere danach und kaufe mir die fehlenden Texte. Stöbern tu ich aber so gut wie nicht mehr, ganz zu schweigen davon, extra in einer Stadt herumzufahren, um Antiquariate zu besuchen.

Der Tod der Serendipity durch Google, Amazon, Ebay etc. ist oft beklagt. Der Information Highway bedeutet – wie bei einer Autobahn “im Real Life” – zum einen, gezielt dorthin zu gelangen, wo man hinmöchte, aber auch zu übersehen, was links und rechts des Weges gelegen hätte.

Aber in Wirklichkeit ist das Rad schon viel weiter gedreht. Während ich diesen Post schreibe, habe ich die Literatur dazu online aufgerufen. Das Benjamin-Zitat oben habe ich noch konventionell aus der Suhrkamp-Ausgabe abgetippt – ich wusste genau wo es steht; Walpoles bemerkenswerte Erfindung des Wortes Serendipity aber habe ich von Google Books geholt – bei aller Liebe zum 18. Jahrhundert – den Briefwechsel mit Horace Mann in vier Bänden habe ich dann doch nicht griffbereit zu hause.

Oft höre ich, ‘ja, aber das Meiste, besonders aber entlegene Sachen findet man eben doch nicht online”. Das stimmt zum Teil noch (wobei ich den besagten Briefwechsel, der bei Google komplett digitalisiert vorliegt, schon recht weit abseits gelegen finde). Aber es ist doch nur noch eine Frage der Arbeit weniger Jahre und praktisch alle Buchveröffentlichungen werden online verfügbar stehen. Amazon verkauft auch in Europa bereits mehr Ebooks als gedruckte Bücher [1]. Schon bald also wird auch die Suche nach gedruckten Büchern auf ZVAB oder Amazon auf Bibliophilie reduziert – nur noch das wird gekauft, was wir materiell in den Händen halten wollen.

Um meine Rede eingangs wieder aufzugreifen: ich halte diese Entwciklung für positiv und begrüßenswert, von der persönlichen Bequemlichkeit abgesehen, bietet die Verfügbarkeit der Literatur online unglaubliche Chancen für Menschen, die fern der Zentren keinen Zugang zu Bibliotheken haben. Es geht mir nicht darum zu beklagen, dass Literatur und Flanieren nicht mehr gekoppelt sind, auch wenn sich beim Gedanken an diesen “Verlust” Nostalgie einstellt.

Wie wir zukünftig auf Dinge stoßen, die wir nicht gesucht haben, inspiriert werden, außerhalb unseres direkten Freundeskreises, ohne von den wenigen Algorithmen der Empfehlungssysteme bei Amazon und Google abhängig zu sein, halte ich dennoch für eine sehr wichtige Frage.

“To do something interesting, it’s got to make follies. I became OK with this idea that I was OK being wrong.” sagt Brian Eoff, Data Scientist bei bit.ly in seinem bemerkenswerten Vortrag auf den Data Days. Gezielte Störungen in die Algorithmen einbauen, um uns vom graden Weg abzubringen – vielleicht ist diese gezielte Störung der Weg, uns die Serendipity zu erhalten. Und zwar nicht nur beim Suchen nach Information.

Am Ende der unverändert lesenswerten Kurzgeschichte Cutting Edge von Michael Meloan – eine Schlüsselerzählung über Stanford – ist es genau, was der Informatik-Professor Peter Jakob in die Forschung der Universität injiziert: Zufall.

I have introduced a virus into all the computer systems on our network. It is very subtle, virtually undetectable, and will produce minuscule cyclic errors in floating-point calculations on all of the workstations. […] I am convinced that in tracking down these errors, the faculty and students will be shaken out of their routines, which I’m hoping will have a positive effect. Each one will be forced to look at his or her data from a slightly new perspective. Forced to stop and ruminate. These are the spores that I have shed.

Vielleicht ist aber auch Twitter die Lösung, wie Jürgen Hermes vorschlägt [2]. Wenn man nur genug unterschiedlichen Leuten folgt, ist die Timeline wie Vogelgezwitscher – und voller Überraschungen.

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Das Internetphantom – oder: Für eine digitale Denkmalpflege

Seit einigen Tagen kursiert in den amerikanischen Politikblogs die sogenannte “Typographischen Verschwörungstheorie“. Auslöser war die Veränderung der Schriftart der aktuellen Kampagne von Barack Obama. Auf der jüngsten Tour durch den mittleren Westen wurde für den Slogan “Betting for America” eine eher nostalgische, verschnörkelte Schrift gewählt:

Ohio Bus Tour: Parma OH, 060512

Schnell haben Blogger recherchiert und herausgefunden, dass sehr ähnliche Schriften auf sozialistischen Propagandaplakaten in Kuba verwendet wurden. Bezeichnenderweise trägt die Schriftart, die dem neuen Obama-Font am nächsten kommt, den Namen “Revolution Gothic” – was gar nicht schlecht zu der neu entflammten Aggresivität des amtierenden Präsidenten passt.

Dass hierüber so intensiv diskutiert wird, verwundert in der hochgradig mediatisierten politischen Landschaft des US-Wahlkampfes nicht besonders. Die Gestaltung von Schrift ist ein wesentlicher Teil der Corporate Identiy von Parteien und Politikern geworden. Ob allerdings diese typographische Entscheidung tatsächlich auf eine sozialistische Wende des Präsidenten hinweist, ist kaum zu beurteilen.

Was an dieser Episode aber sehr deutlich wird, ist die Bedeutung von Archiven der Gegenwartskultur. Das Propagandamaterial der kubanischen Revolution ist sehr gut dokumentiert – zu diesem Thema gibt es Bücher, Ausstellungskataloge und Webseiten. Was aber wird passieren, wenn ein politischer Wahlkampf sich in 40 Jahren auf kulturelle Stile und Images der 2000er Jahre bezieht? Wo ist die visuelle Sprache der frühen Internetkultur dokumentiert?

Die traurige Antwort: Das Web der 1990er bis 2000er Jahre ist vermutlich zum größten Teil für immer verloren. Das sympathische Chaos der frühen Geocities-Webseiten, die hoch-individuellen CSS-Designs von MySpace-Künstlerseiten, das Webdesign der ersten Webpublikationen von Hotwired bis Konr@d oder der ASCII-Art-Schmuck von FTP-Servern existieren nur noch in der mündlichen Überlieferung der Digital Immigrants.

Für einen Vortrag zum Thema Measurement habe ich einmal versucht, den Webcounter-Wahn der 1990er Jahre zu recherchieren, den ich damals noch hautnah miterlebt hatte. Es gab Webangebote, die sich darauf spezialisiert haben, Zugriffszähler für Webseiten in den unterschiedlichsten Formen anzubieten. Keine dieser Seiten existiert mehr und Bilder oder Screenshots von diesen Countern findet man nur wenige und nur mit großem Aufwand.

In den Geschichtswissenschaften gab es in den 1990er Jahren die Theorie der “Phantomzeit“. Aus der Quellenknappheit zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert haben einige Historiker darauf geschlossen, dass diese Zeit gar nicht existiert hat, sondern dass es von 614 gleich mit 911 weiterging und Personen wie Karl der Große nie gegeben hätte. Wenn wir nicht eine neue Kultur der Webarchive begründen, wirdman wahrscheinlich sehr viel plausibler argumentieren können, das Internet sei eine Erfindung der 2020er Jahre als damals Illig für das “Erfunde Mittelalter”.

Was wir brauchen, damit das Internet nicht noch einmal von unseren Historikern als “Phantom” diskutiert wird, ist eine “digitale Denkmalpflege”. Zeitungen und Zeitschriften werden sorgfältig in denStaats- und Landesbibliotheken gesammelt und archiviert. Aber schon,wenn es um die Alltagskultur im Fernsehen – geschweige denn im Internet geht – wird die Quellensuche sehr schwierig. Erst seit den letzten Jahren und Monaten tauchen immerhin nach und nach viele Werbeclips aus der Fernsehgeschichte auf Youtube auf. Ob Geocities-Webseiten, FTP-Server-Poesie oder die typischen Blinkebanner der 1990er Jahre jemals wieder auftauchen werden? Wahrscheinlich nicht.

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Es gibt kein digitales Altpapier, oder: Die große Chance der Verlage im Web

McLuhans Tetrade der Medienwirkungen war in diesem Blog schon öfters Thema, da sie besonders gut geeignet ist, die Veränderungen der Medienfunktionen zu erklären. Die Tetrade macht vor allem deutlich, dass Medienwandel nicht nur heißt, dass neue Medien hinzukommen und alte Medien absterben, sondern dass es häufiger vorkommt als man denkt, dass alte Medienfunktionen wiederentdeckt werden. Eine solche Wiederentdeckung kann man in diesen Tagen live mitverfolgen. Als Labor dieses Realexperiments dienen wie so oft die neuen Tablets von Kindle bis iPad.

Altpapier als mediales Stoffwechselprodukt

Einer der großen Nachteile von gedruckten Zeitungen und Zeitschriften – das hat die Forschung zur Mediennutzung immer wieder gezeigt – ist das Altpapier, dass als mediales Stoffwechselprodukt beim Gebrauch der Drucksachen entsteht. Die Berge ungelesener Zeitungen und Zeitschriften sind einer der wichtigsten Gründe, warum Menschen ihre Printmedien abbestellen. Dahinter steckt vor allem der Zwang zur Neuheit, der das Printgeschäft immer noch dominiert. Der Fokus von Zeitungen und Zeitschriften liegt auf den neuesten Nachrichten, den neuesten Trends, den neuesten Modeschnittmustern oder den neuesten (bzw. nach dem neuesten Geschmack abgewandelten) Kochrezepten. Nichts ist älter als die Zeitung von gestern.

Wir haben den Philosophen Odo Marquard schon öfters als slowmedialen Hofphilosophen zitiert, der in seinem “Zukunft braucht Herkunft” allen Trendhinterherläufern folgendes ins Gewissen ruft:

So sollte man sich beim modernen Dauerlauf Geschichte – je schneller sein Tempo wird – unaufgeregt überholen lassen und warten, bis der Weltlauf – von hinten überrundend – wieder bei einem vorbeikommt; immer häufiger gilt man dann bei denen, die überhaupt mit Avantgarden rechnen, vorübergehend wieder als Spitzengruppe: so wächst gerade durch Langsamkeit die Chance, up to date zu sein.

Zusammengefasst: Wenn man nur eine gewisse Zeit ruhig abwartet und bei sich bleibt, ist der Geschmack der Zeit wieder dort angelangt, wo man sich von ihm wartend getrennt hat. Ähnliche Gedanken findet man auch bei Georg Simmel – eigentlich jeder, der sich mit Trends und Moden befasst, kommt zu solchen Ergebnissen. Ich denke, dass dies aber nicht nur für die Trends und Moden im engeren Sinne gilt, sondern auch für das Geschäft mit Nachricht und Aktualität immer wichtiger wird: Wenn man sich eine von Marquard inspirierte slowe Sichtweise auf Medienevolution zueigen macht, wird nämlich auf einmal der bislang stark unterschätzte Wert der Archive deutlich.

Medien sind Eisberge

Medien sind Eisberge. Die jeweils aktuellen Hefte und Ausgaben sind nur die sichtbare Spitze des ganzen. Der weit größere und gewichtigere Teil liegt in den Archiven vergraben. Bisher ist man davon ausgegangen, dass die Zeitung von gestern oder die Zeitschrift von vor zwei Monaten Ladenhüter sind, die nicht einmal mehr für das moderne Antiquariat taugen. Das Internet ändert dies grundlegend. Im Prinzip ist nämlich alles, was jemals in einem Medium veröffentlicht wurde, nur einen einzigen Mausklick entfernt. Ein Beispiel: Der Hearst-Verlag, in dem neben anderem Cosmopolitan und Esquire erscheinen, verkauft mit seinen iPad-Apps mittlerweile 30% Altware. Ausgaben, die nicht mehr am Kiosk erhältlich sind und normalerweise schon längst im Altpapier gelandet wären. Aber: Es gibt kein digitales Altpapier.

Die große Kunst, oder besser: das handwerkliche Geschick, liegt darin, mit dieser Tiefenstruktur des Mediums souverän umzugehen. Ein bisschen erinnert die Arbeit der modernen Nachrichtenarchivare und -kuratoren der Arbeit eines Kellermeisters in einem Weinbaubetrieb. Denn die größten Herausforderungen lauten:

  • zu wissen, was alt und gereift ist oder was einfach nur veraltet und dünn ist,
  • zu wissen, welche Bereiche des Archivs (welche “journalistischen Anbaugebiete”) für wen relevant sind,
  • zu wissen, wie man das Archiv technisch öffnen und den interessierten Lesern zur Verfügung stellt (von hier ist es nicht weit zu den typischen Big-Data-Aufgaben der Erschließung großer Datenbanken mit intelligenten Empfehlungssystemen)
  • zu wissen, in welche Richtung sich der Markt entwickelt und wie sich der Wert der archivierten Daten verändert bzw. wie man sich das Archiv bezahlen lässt (intelligente Bezahlsysteme)
  • zu wissen, wie die richtige Mischung von alt und neu aussieht

Über ganz ähnliche Themen hatte ich vorletztes Jahr auf dem Frankfurter Tag des Onlinejournalismus mit Mercedes Bunz und Jakob Augstein diskutiert: Guter Journalismus veraltet nicht, sondern verändert sich nur in dem Maße, in dem sich die Zeitläufte im “modernen Dauerlauf der Geschichte” verändern. Mittlerweile ist es technisch möglich und wahrscheinlich sogar wirtschaftlich intelligent, die Archive endlich zu heben und den Lesern in einem intelligenten System zur Verfügung zu stellen.

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Datenhöflichkeit

Hinrichtung Ludwigs XVI
Der Hof Ludwigs XVI. gilt als Extase der Höflichkeit. Esprit, der Witz und das höfische Auftreten waren in nie wieder erreichtem Maße übertrieben worden. Das Ende: der Terror – die unhöflichste aller möglichen Formen menschlichen Zusammenlebens

“Privacy invasion is now one of our biggest knowledge industries.”
“The more the data banks record about us, the less we exist.”

Marshall McLuhan

“Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.”
Immanuel Kant

“Being socially exposed is OK when you hold a lot of privilege, when people cannot hold meaningful power over you, or when you can route around such efforts. Such is the life of most of the tech geeks living in Silicon Valley. But I spend all of my time with teenagers, one of the most vulnerable populations because of their lack of agency (let alone rights). […] The odd thing about forced exposure is that it creates a scenario where everyone is a potential celebrity, forced into approaching every public interaction with the imagined costs of all future interpretations of that ephemeral situation. “

Diese Sorge teile ich voll und ganz mit danah boyd. Üblicher Weise wird den Kindern und Jugendlichen geraten, sich “vor den Gefahren des Internet” in Acht zu nehmen. Aber was heißt das? Sollen sie sich vom Austausch mit anderen auf Facebook fernhalten? Und wie sollte ein Jugendlicher seinen Altersgenossen oder Freunden verbieten, Fotos zu posten, auf denen er vielleicht zu sehen wäre? (Die Option, ungewollte Fotos über die Eltern “klären zu lassen” besteht im wahren Leben nicht wirklich – von krassen Verunglimpfungen oder Mobbing vielleicht abgesehen).

Wir haben keine Wahl. Entweder wir gelten als Sonderlinge, gar als Ludditen, oder wir werden einen breite Spur von Daten in der Welt zurücklassen. Mit der Zeit entsteht durch unser Verhalten im Netz ein Abbild unserer selbst, eine Projektion in die Datenwelt. Dieses Bild von uns liegt mehr oder weniger offen zu Tage. Und viele heimliche bis unheimliche Gesellen blicken uns im geheimen durch den Spiegel der Daten in unser Leben – Google, Facebook, Targetingsysteme und Shop-Empfehlungsmaschinen und schließlich auch die staatlichen Sicherheitsdienste, die hinter den Datengardinen auf unsere Verfehlungen lauern.

Aber die Indiskretion ist nicht auf professionelle Datenkraken beschränkt. Die Profile mit unseren persönlichen Informationen, unsere Posts, unsere Check-Ins – alles kann sich jeder, der möchte, ansehen. Und zum Teil wollen wir das ja auch: selbstverständlich freue ich mich über Leute, die mir auf Twitter folgen und ich habe einige meiner besten Freunde in Social Networks kennengelernt. Social Media funktionieren über Authentizität – diese Phrase ist schon so oft gesagt und geschrieben worden, dass sie vollkommen schal daherkommt! Aber es stimmt: wenn wir nicht offen sind, tatsächlich über uns selbst sprechen, werden wir kaum Kontakt zu anderen schließen. Es ist Teil der Kultur in Social Media (wie auch sonst im sozialen Leben), Dinge über uns preiszugeben, obwohl diese von anderen auch gegen uns verwendet werden könnten. Ich habe zum Beispiel zwischen Weihnachten und Neujahr an mindestens fünf Tagen über Wein (seltener Bier oder andere alkoholische Getränke) geschrieben. Natürlich möchte ich, dass Leute, die sich für mich interessieren, dies auch lesen können, wenn sie wollen. Wie wäre es aber, wenn jemand einen “Jörg trinkt”-Bot einrichten würde, der eine Statistik über meine Wein-Tweets führt uns publik macht? Aus dem Kontext gerissen würden meine Wein-Tweets ein ganz und gar ungünstiges Bild von mir zeichnen. (Das Beispiel verdanke ich Benedikt).

Nach meiner persönlichen Erfahrung ist der Schaden, sind die Kränkungen, die durch “manuellen” Datenzugriff an uns entstehen wesentlich schwerwiegender, als das professionelle Analysieren der Daten-Kraken zu kommerziellen Zwecken. Und während bei diesen sich Datenschutz und Persönlichkeitsrechte juristisch fassen und häufig, z.B. via ‘Unlauterer Wettbewerb’ sogar durchsetzen lassen, sind Übergriffe auf Daten durch Einzelne kaum sinnvoll durch Gesetze zu regeln. Wo fängt der Stalker an, wo die Beleidigung oder üble Nachrede? Und schon gar nicht gut ist es, wenn das Opfer sich wehren muss – der ‘Streisand-Effekt’, Hohn und Spott über jemand der eben ‘die Regeln nicht versteht’ und so dumm ist, sich auch noch zu widersetzen.

“Es haben ja eh schon xyz viele Leute gesehen, also mache ich es mal ganz öffentlich ist nunja, ein blödes Argument.”

twittert Sylvia Poßenau und das klingt fast wie die Übersetzung des Kernsatzes aus danah boyds Essay:

“Just because people can profile, stereotype, and label people doesn’t mean that they should.”

Aber was soll/darf “man” mit den Daten? Wo ist die Grenze?
Die Antwort liefert Sylvia Poßenau gleich mit: Datenhöflichkeit.

Höflichkeit ist eine kulturelle Technik, um Distanz zu wahren. Wir sind höflich, um unseren Abstand zu anderen zu organisieren und ihnen nicht zu nahe zu kommen.Höflich ist man durch Einhalten von Grenzen, die nicht durch Gesetze oder anders verschriftlichte Regeln definiert sind, sondern durch ein Verständnis, durch Achtung und Respekt dem anderen gegenüber. Höflichkeit ist der Esprit de Conduite, der gute Geist des Verhaltens. Was in Antike und Mittelalter als religiöse oder untertänige Pflicht erklärt wurde, erlebt in der Aufklärung seine philosophische Entfaltung. War dieser Esprit am Hofe Ludwigs XIV. noch Teil der Machtausübung des erstarkenden Königs gegen die schwächer werdenden Fürsten, wird er nach der französischen Revolution zu einem bürgerlichen Gut. Und die Maximen zum guten Handeln, die Kant für die Menschenwürde formuliert, werden schließlich von Adolph von Knigge in seinem Ratgeber “Über den Umgang mit Menschen” zu Handlungsempfehlungen für den Alltag.

Noch vor der Erfindung des Web hatte die Community der ersten User im Internet die Netiquette formuliert. “When someone makes a mistake – whether it’s a spelling error or a spelling flame, a stupid question or an unnecessarily long answer – be kind about it.” – Höflichkeit ist schon damals, neben den Ratschlägen zur technischen Klarheit – das Thema gewesen.

“Gar zu leicht missbrauchen oder vernachlässigen uns die Menschen, sobald wir mit ihnen in einem vollkommen vertraulichen Tone verkehren. Um angenehm zu leben, muss man fast immer als ein Fremder unter den Leuten erscheinen.” warnt Knigge. Und auch sonst scheinen mir die Kultur der Höflichkeit des 19. Jahrhunderts für unsere Epoche der Post-Privacy durchaus angemessen. Höflichkeit ist Kultur. Kultiviert bedeutet gepflegt. Es ist wirklich Zeit für einen pfleglichen Umgang mit unseren Daten, die doch so eng mit uns persönlich zusammenhängen. Zeit für Datenhöflichkeit.

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Die memetische Geste: “Ich höre dir zu”

Der “memetic turn”: Ein  schönes Grundkonstrukt, ein neuer Gedanke, der sich in den Beiträgen der letzten Tagen auf diesem Blog aufgefächert hat. Wir nähern uns dem Begriff, wir kreisen ihn ein. Mischen Flüssigkeiten und Ingredienzen, lösen und fügen Festkörper und Schwebeteilchen. Wer weiß, was in einem solchen Kessel entsteht.

Was bedeutet es eigentlich, Meme auszutauschen? Das habe ich mich gestern morgen gefragt und die Antwort hat mich selbst überrascht, obwohl sie eigentlich ganz einfach klingt.

Meme auszutauschen bedeutet, sich gegenseitig zu signalisieren:  “Ich höre dir zu.” Eingedenk der Etymologie, die zwischen dem grch. “Mneme” (Erinnerung) und dem französischen “même” (gleich) changiert – auch: “Ich erinnere mich an dich”, “Es gibt etwas Gleiches zwischen uns” und “Ich verbinde mit dir etwas”.

Das ist der neue Kitt der Gemeinschaften, von dem auch bei Jörg die Rede war. Es ist die Kommunikation selbst, die Gemeinschaft und Identität stiftet. Natürlich wurden Gesellschaften immer schon über Kommunikation zusammengehalten. Aber jetzt schafft die Kommunikation Gemeinschaften. Ist es das, was an memetischen Gemeinschaften neu ist?

Meme zersetzen die Gesellschaft – so lautet die vielleicht zunächst irritierende Aussage von Benedikt. Jörg spricht von einer “Korrosion“. Das Zersetzende an Memen ist, dass sie über bestehende gesellschaftliche Strukturen hinweggehen und neue Zusammengehörigkeiten, Zusammenhänge und neue Strukturen schaffen. Dynamische, sich verändernde, wabernde Strukturen. Vielleicht sogar gar keine Strukturen, sondern nur noch Gewebe, wie Benedikt in seiner Antwort auf den Thixotropie-Beitrag gemutmaßt hat.

Das Ich-höre-dir-zu des memetischen Handelns hat eine zutiefst politische Dimension. Das Nichtgehörtwerden und Keinestimmehaben gehörte lange zum Los der gesellschaftlichen Mehrheit – in allen unterschiedlichen Ausprägungen, die zwischen Demokratien und autokratischen Systemen möglich sind. Es scheint, dass sich in diesem Punkt gerade etwas ändert.

Womit wir bei den maghrebinisch-maurisch-spanischen Revolutionen wären. Man kann diese nicht alle in einen Topf werfen – auch nicht in unseren Theorienkessel – aber seit einiger Zeit fällt mir ein Muster auf: Kurz vor Ausbruch der Unruhen gibt es einen Moment, an dem die jeweiligen Machthaber hätten das weitere Geschehen beeinflussen können – durch schlichtes Zuhören und Reagieren auf das Gehörte.

Die “Revolutionen” entstanden nicht aus dem Nichts, es braute sich der Unmut über Monate, manchmal Jahre hinweg zusammen, bis schließlich aus Unbehagen die vielzitierte Empörung wurde. Und es hätte durchaus Gelegenheiten gegeben, darauf zu reagieren.

Wael Ghonim, die Orientierungsfigur der ägyptischen Revolution, berichtet auf der TED-Konferenz 2011 von diesen Anfängen. Über die Facebookseite “We all are Khaled Said” fanden innerhalb weniger Tage Tausende von Ägyptern zusammen, die ihr Regime aufforderten, rechtstaatlich zu handeln und die Mörder des Bloggers Said zur Verantwortung zu ziehen. “Angry egyptians who were asking the ministry of interior affairs: It’s enough!” Zu diesem Zeitpunkt hätten das Regime noch reagieren und handeln können. “But of course they don’t listen”, fährt Ghonim nahtlos fort (min 4:20). Alte Strukturen sind nicht reaktionsfähig. Die Ägypter haben daraus ihre Konsequenzen gezogen.

Am 6. Februar, elf Tage vor Beginn des libyschen Aufstands, wurde eine Delegation von vier Intellektuellen in Gadhafis Zelt vorgeladen. Ben Ali war schon im Ausland, Mubarak sollte fünf Tage später aufgeben. “Ihr seid jetzt also auch mit den Facebook-Kids zusammen”, begrüßte Gaddafi sie, offenbar bemerkend, dass da etwas im Busche sein könnte. Doch obwohl er selbst der Meinung ist, Mubarak und Ben Ali hätten ihr Schicksal verdient, weil sie nicht auf ihr Volk gehört hätten, kann auch er nicht entsprechend handeln. Als die vier Juristen “Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und eine Verfassung” und mehr Beteilung der jungen Generation fordern, reagiert er “verwundert” und weist die Forderungen weit von sich. “Niemand in Libyen sei scharf auf derartigen Freiheiten, solche intellektuellen Diskussionen seien nicht gefragt.” Er hatte zwar zugehört, traute aber offenbar seinen Ohren nicht und ließ die Gelegenheit ungenutzt. Die Delegation fuhr schweigend nach Hause und beschloss für den 17. Februar den “Tag des Zorns” auszurufen (Quelle: ZEIT).

Bernardo Gutiérrez berichtet kürzlich im Tagesspiegel über die gesellschaftlichen Vorbeben in Spanien, die in direktem Zusammenhang mit der Banken- und Schuldenkrise des Landes steht. Auch hier gab es vorher Kontaktaufnahmen, Ermahnungen, Aufrufe. “Es braute sich etwas zusammen.” Doch offenbar wurden diese Anzeichen ignoriert, das alte Spiel in den alten Strukturen unverändert weiterbetrieben. “Die Arbeitslosigkeit stieg weiter, die Konzerne zahlten weiter astronomische Managergehälter. Dann präsentierten die Sozialisten und die Volkspartei ihre Kandidaten für die Regionalwahlen. Darunter: zahlreiche Politiker, die unter dem Verdacht standen, sich während des Immobilienbooms illegal bereichert zu haben.” Der Widerstand formierte sich. “Die Spanische Revolution klopfte laut an die Tür. Aber niemand schien sie hören zu wollen.” Noch hätte die spanische Regierung wohl reagieren können. Sie tat es nicht. Bis die Plattform „Democracia Real Ya“ zu Demonstrationen aufrief, mit bekanntem Ergebnis.

Einanderzuzuhören und Sich-Aufmerksamkeit-Schenken ist das, was memetische Gemeinschaften verbindet. Mich, die ich mich seit vielen Jahren mit den verschiedensten Ausprägungen der Kommunikation befasse, hat dieser Gedanke sehr berührt.

 

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Pro Publica: Zweiter Pulitzer Preis für das philanthropische Modell

“We are allowed to spend 10 million dollars a year – just to make journalism in public interest.” Paul Steiger, ein zierlicher, schütter- grauhaariger freundlicher Mann und Chef vom Dienst des amerikanischen Rechercheportals ProPublica, sagte das im vergangenen November im Europarat in Strasbourg. Dort fanden die “Assises du Journalisme” statt, eine französische Konferenz über die Zukunft des Journalismus. Was für ein cooler Job, 10 Millionen Dollar jährlich im Jahr für guten Journalismus im öffentlichen Interesse ausgeben zu dürfen.

Als Vertreterin des “Mouvement Slow Media” war ich dort eingeladen, um über die Theorie medialer Qualität zu sprechen. Das Thema der Podiumsdiskussion lautete programmatisch: “Contre l’info low cost, vive la slow info!” Paul Steiger ist für mich ein Beispiel gelungener Praxis von “slow info contre l’info low cost”, von journalistischer und medialer Hochwertigkeit.

Die Frage ist natürlich, wer das zahlt. Oder auch: Wem das etwas wert ist. Es gibt verschiedene Modelle für die Rentabilität von Qualität. Pro Publica verkörpert eine davon, die Nonprofit-Variante: das philanthropische Modell. Das Geld für die aufwendigen Recherchen kommt von einer Stiftung. Denn Qualität von dieser Art kostet natürlich Geld. 10 Millionen jährlich, das ist viel Geld – vielleicht ist es eine Art Anschubfinanzierung. “Diversify the sources of funding” nannte Steiger als seine nächsten Ziele, und das scheint aufzugehen. Über 5 Millionen Dollar aus anderen Quellen kommen inzwischen hinzu und machen Pro Publica Schritt für Schritt unabhängiger vom Stiftungsehepaar. Paul Steiger sagt, das ist für ihn ein Zeichen, dass das Modell funktioniert.

Die Recherche-Ergebnisse teilt das Nachrichtenportal unter einer Creative Commons-Lizenz. Es fordert ausdrücklich dazu auf, das zu tun, was dem Journalismus sonst ein rotes Tuch ist: “Steal Our Stories, Please!”  Sie teilen gerne. Es ist ganz im public interest: “We want our stories to have impact, and when you share them, you’re helping us make sure they reach the people who need to see them.”

Nun hat Pro Publica, gegründet vor erst vier Jahren, zum zweiten Mal in Folge den Pulitzer Preis erhalten. Diesmal für eine Serie von Beiträgen, die ausschließlich online publiziert wurden. Das ist bedeutsam, weil es der erste Pulitzer Preis ist, der nicht an das Erscheinen in einem Print Medium geknüpft ist. Und es belegt die Grundannahme, auf der unser Slow Media Ansatz fußt: Dass mediale Qualität und das Gelingen von Kommunikation nicht an einen bestimmten Medienträger, sondern an medienübergreifende Qualitätskritrien gebunden sind.

Pro Publica ist mit seinen vielen fest angestellten und gut bezahlten Journalisten eine Art Gegenmodell zum unentgeltlich schreibenden Blogger. Aber es ist ebenso ein Gegenmodell zum festangestellten Print-Journalisten, der heute längst nicht mehr die Bedingungen und Ressourcen vorfindet, um fundierte, nachhaltige Recherchen zu betreiben und seinen eigenen Qualitätsansprüchen gerecht zu werden ohne sich selbst auszubeuten. Das alleine macht es interessant. Journalism made not for profitabilty, but for public interest.

Wir sind gespannt, wie sich Pro Publica weiter entwickelt und gratulieren herzlich zum Pulitzer Preis.

 

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Das Bild oben zeigt Paul Steiger im Europarat (vorne rechts auf dem Podium)

 

 

 

 

 

 

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Moving towards Slow Communication

“Zeit ist wertvoll” lautet der Claim des neuen Peugeot 508. Das Auto wurde erst kürzlich – Mitte März – präsentiert. Aufbau, Inhalt und Optik stimmen frappierend und geradezu gespenstisch mit dem Werbespot zu einem anderen neuen Auto überein: dem VW Eos (“Das Auszeitauto”), über den mein Kollege Benedikt Köhler Anfang Februar in seinen Beitrag “Slow Advertising” bereits berichtet hat. Diese offenbar zufällige Gleichzeitigkeit lässt den Schluss zu, dass das Thema Slowness den Sprung in die Mittte der Gesellschaft bereits geschafft hat und als marktgängiges Thema betrachtet wird. Mediale Überforderung, Be- und Entschleunigung und bei näherem Hinsehen auch eine qualitativ andere Art der Kommunikation treffen sich in diesen Slow-Interpretationen.

Der Spot: Ein beruflich und privat erfolgereicher Mann hastet rastlos vom Stakkato der Termine und Medien angetrieben durch seinen Tag. Ruhe, Versekung, Genuss findet er erst in seinem Auto wieder. Ton aus, slow motion. Soweit so üblich.

Klickt man aber auf die Website zur Präsentation des Peugeot 508, so wird aus dem Claim für das Auto (“Zeit ist wertvoll”) die leicht verzögert (also als wohltuend langsam empfundene) einlaufende Titelzeile: “Ihre Zeit ist wertvoll” [Hervorhebung von mir]. Darunter erscheint das gängige aber in dieser Plazierung völlig anders und glaubwürdiger wahrgenommene Angebot “Intro überspringen”. Dieses Intro drängt sich nicht auf, es nötigt den Nutzer nicht. Auch der Ausknopf für den Ton ist typografisch deutlich sichtbar und nicht versteckt. In der nächsten Einstellung heißt es: “Sagen Sie uns, wie viel Zeit Sie haben und erleben Sie den neuen 508”. Hier kann der Nutzer zwischen 20, 40, 60, 80, 100 und einer 180 Sekunden dauernden Produktpräsentation wählen (in der längsten Version gibt es zur Belohnung den Designer, der in Originalsprache über sein Werk spricht).
Es geht um den Nutzer. Das ist neu. Das ist im Grunde das Gegenteil üblicher Werbung, bei der es in der Regel darum geht, den Kunden eben nicht ausschalten zu lassen, den “Schließen”-Button zu verstecken und den Ton immer etwas lauter als nötig zu fahren. Es wirbt nicht nur, es kommuniziert.

Damit gehen Peugeot und die Leadagentur EuroRSCG in ihrer Kommunikation einen wichtigen Schritt über die rein inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Slow-Ansatz hinaus: Sie lässt das rein inhaltliche Sprechen über das Thema “Slow” hinter sich und wendet das Konzept “Slow” auch auf die ART des Kommunizierens an. Während die Beipiele, von denen Benedikt sprach, sich dem Thema Entschleunigung und Slowness thematisch nähern (mit leicht ironischem Approach bei Mercedes, mit ungebrochenem Duktus im Falle von VW), so bemühen sie sich hier, aus dem, wovon sie thematisch sprechen (“Zeit ist wertvoll”) auch Konsequenzen für den Nutzer und die Kommunikation zu ziehen. Dieser Ansatz nähert sich in der Tat unserer Definition von Slow Media: Er versucht den Nutzer und seine kostbare Zeit zu respektieren, ihn nicht wider Willen mit Werbung zu überschütten.

Bei der vergleichsweisen Betrachtung der Online-Präsentation des VW Eos musste ich feststellen, dass auch Volkswagen und ihre Agentur DDB einen Schritt in diese Richtung versuchen: Sie bieten nach dem Spot eine Auszeit-App an, die dem medial überforderten Nutzer eine vorübergehende Auszeit seiner digitalen Verpflichtungen ermöglichen soll.

Eine Spielerei, die kaum mehr als ein Gimmick ist – allerdings einer mit möglichwerweise hohem Kommunikations-Kollateralschaden: Bei der Online-Recherche stößt man schon als erste Nennung auf die ratlose Frage eines mutmaßlichen Nutzers, wie der Kontakt zu den gesperrten Portalen nach dem Absturz des Programmes wohl wieder herzustellen sei. Diese Werbeidee scheint so hartnäckig zu sein, dass sie auch nach De- und Reinstallierung aller Programme dennoch auf einer dauerhaften Auszeit seines Nutzers beharrt.

(Übrigens auch ein gutes Beispiel dafür, dass Unternehmen in einer solchen Situation das Kommentarfeld von Foren als Kommunikationskanal für sich entdecken sollten. Dass sie also kommunizieren statt nur werben sollten.)

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Mehr zum Thema Slow Communication und Autos: http://www.slow-media.net/slow-communication-und-falsche-tramper