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Moving towards Slow Communication

“Zeit ist wertvoll” lautet der Claim des neuen Peugeot 508. Das Auto wurde erst kürzlich – Mitte März – präsentiert. Aufbau, Inhalt und Optik stimmen frappierend und geradezu gespenstisch mit dem Werbespot zu einem anderen neuen Auto überein: dem VW Eos (“Das Auszeitauto”), über den mein Kollege Benedikt Köhler Anfang Februar in seinen Beitrag “Slow Advertising” bereits berichtet hat. Diese offenbar zufällige Gleichzeitigkeit lässt den Schluss zu, dass das Thema Slowness den Sprung in die Mittte der Gesellschaft bereits geschafft hat und als marktgängiges Thema betrachtet wird. Mediale Überforderung, Be- und Entschleunigung und bei näherem Hinsehen auch eine qualitativ andere Art der Kommunikation treffen sich in diesen Slow-Interpretationen.

Der Spot: Ein beruflich und privat erfolgereicher Mann hastet rastlos vom Stakkato der Termine und Medien angetrieben durch seinen Tag. Ruhe, Versekung, Genuss findet er erst in seinem Auto wieder. Ton aus, slow motion. Soweit so üblich.

Klickt man aber auf die Website zur Präsentation des Peugeot 508, so wird aus dem Claim für das Auto (“Zeit ist wertvoll”) die leicht verzögert (also als wohltuend langsam empfundene) einlaufende Titelzeile: “Ihre Zeit ist wertvoll” [Hervorhebung von mir]. Darunter erscheint das gängige aber in dieser Plazierung völlig anders und glaubwürdiger wahrgenommene Angebot “Intro überspringen”. Dieses Intro drängt sich nicht auf, es nötigt den Nutzer nicht. Auch der Ausknopf für den Ton ist typografisch deutlich sichtbar und nicht versteckt. In der nächsten Einstellung heißt es: “Sagen Sie uns, wie viel Zeit Sie haben und erleben Sie den neuen 508”. Hier kann der Nutzer zwischen 20, 40, 60, 80, 100 und einer 180 Sekunden dauernden Produktpräsentation wählen (in der längsten Version gibt es zur Belohnung den Designer, der in Originalsprache über sein Werk spricht).
Es geht um den Nutzer. Das ist neu. Das ist im Grunde das Gegenteil üblicher Werbung, bei der es in der Regel darum geht, den Kunden eben nicht ausschalten zu lassen, den “Schließen”-Button zu verstecken und den Ton immer etwas lauter als nötig zu fahren. Es wirbt nicht nur, es kommuniziert.

Damit gehen Peugeot und die Leadagentur EuroRSCG in ihrer Kommunikation einen wichtigen Schritt über die rein inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Slow-Ansatz hinaus: Sie lässt das rein inhaltliche Sprechen über das Thema “Slow” hinter sich und wendet das Konzept “Slow” auch auf die ART des Kommunizierens an. Während die Beipiele, von denen Benedikt sprach, sich dem Thema Entschleunigung und Slowness thematisch nähern (mit leicht ironischem Approach bei Mercedes, mit ungebrochenem Duktus im Falle von VW), so bemühen sie sich hier, aus dem, wovon sie thematisch sprechen (“Zeit ist wertvoll”) auch Konsequenzen für den Nutzer und die Kommunikation zu ziehen. Dieser Ansatz nähert sich in der Tat unserer Definition von Slow Media: Er versucht den Nutzer und seine kostbare Zeit zu respektieren, ihn nicht wider Willen mit Werbung zu überschütten.

Bei der vergleichsweisen Betrachtung der Online-Präsentation des VW Eos musste ich feststellen, dass auch Volkswagen und ihre Agentur DDB einen Schritt in diese Richtung versuchen: Sie bieten nach dem Spot eine Auszeit-App an, die dem medial überforderten Nutzer eine vorübergehende Auszeit seiner digitalen Verpflichtungen ermöglichen soll.

Eine Spielerei, die kaum mehr als ein Gimmick ist – allerdings einer mit möglichwerweise hohem Kommunikations-Kollateralschaden: Bei der Online-Recherche stößt man schon als erste Nennung auf die ratlose Frage eines mutmaßlichen Nutzers, wie der Kontakt zu den gesperrten Portalen nach dem Absturz des Programmes wohl wieder herzustellen sei. Diese Werbeidee scheint so hartnäckig zu sein, dass sie auch nach De- und Reinstallierung aller Programme dennoch auf einer dauerhaften Auszeit seines Nutzers beharrt.

(Übrigens auch ein gutes Beispiel dafür, dass Unternehmen in einer solchen Situation das Kommentarfeld von Foren als Kommunikationskanal für sich entdecken sollten. Dass sie also kommunizieren statt nur werben sollten.)

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Mehr zum Thema Slow Communication und Autos: https://www.slow-media.net/slow-communication-und-falsche-tramper

 

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Die Echtzeitlüge

Die Zukunft hat schon begonnen.
Robert Jungk, 1952

Auf welcher Seite stehst Du, Kulturschaffender?
Jörg Immendorf, 1973

Wenn es einen Begriff gibt, der die Conditio Humana am Anfang des 21. Jahrhunderts beschreibt, dann könnte dies der Begriff der “Echtzeit” sein. Aber nicht er allein, sondern all die vielen Ermahnungen, im Jetzt, Hier und Heute oder dem Augenblick zu leben würde ich noch mit dazu zählen. Echtzeit ist nur eine von vielen Beschreibungen dieses Gegenwartsfetischismus, allerdings eine, die wissenschaftlich-technischen Assoziationen weckt. Von Ratgeberliteratur bis Medientheorie wird die Gegenwart, die absolute auf das Jetzt zugespitzte Gegenwart, als einzig wahrer Lebensraum der technischen Zivilisation betrachtet. Der natürliche Lebensraum der digitalen Eingeborenen ist das Jetzt von Facebook, Twitter und SMS.

Gelebt wird in der Echtzeit. Alles andere ist Flucht und demnach auch das Territorium der Ewiggestrigen (= diejenigen, die in vergangenen Ideen leben) oder der Träumer und Spinner (= diejenigen, die in der Zukunft leben). Echtzeit, das klingt so, als wäre die Zeit, in der wir früher gelebt haben, irgendwie falsch oder gefälscht gewesen ist. Die Kleriker und Adeligen, die im 15. Jahrhundert damit begonnen haben, überall Uhren anzubringen, um die Menschen pünktlich zur Arbeit zu bringen, waren also in Wirklichkeit so etwas wie die Grauen Herren? Sie haben die alte Zeit – die Zeit der Feste und Jahreszeiten – gestohlen und durch eine Fälschung ersetzt? Durch einen Taschenspielertrick, der zum Beispiel Dante sofort aufgefallen ist: “Wie wohlgefügt der Uhren Räder tun, in voller Eile zu fliehen scheint das letzte, das erste scheint, wenn man´s beschaut, zu ruhen.”

In Wirklichkeit verkaufte die Zeitelite der Bevölkerung natürlich gar keine minderwertige Zeitware, sondern nur eine neue Art von Zeitmessung. Eine Zeitmessung, die keine individuelle Angelegenheit mehr ist, sondern standardisiert war. Eine Ware, mit der man rechnen und buchhalten konnte und die vor allen Dingen im ganzen Ort – später der ganzen Region und noch später im ganzen Land – dieselbe war. Auf mechanischem Wege gelang, was die Kirche schon lange Zeit mit ihrer hoch-komplexen Rhythmisierung aus Jahreskreis und Stundenbuch versucht hatte. Unsere Echtzeit ist also gar nicht so neu, sondern nicht viel mehr als das Aufblasen der Renaissance-Synchronzeit auf einen noch größeren Maßstab.

Doch zurück zu den Eskapisten. Je mehr man die Echtzeit als “echte” und damit einzig wahre Zeit lebt, desto problematischer wirken die Fluchtbewegungen in Vergangenheit oder Zukunft. Vor kurzen diskutierten ein paar Politiker und Politikwissenschaftler über das Phänomen der Echtzeitpolitik. Dass Zeit eine politische Machtressource darstellt, ist freilich nicht neu, aber in dieser Diskussion schien durch, dass im iPad- und Blackberrybundestag diese Ressource noch einmal einen unglaublichen Bedeutungszuwachs erfahren hat. Die Abgeordneten sind nicht nur ihrem Gewissen, sondern auch der Echtzeit verpflichtet.

Aber auch das kann Flucht sein. In der Echtzeit zu leben, kann nämlich auch bedeuten, die Schichten der Vergangenheit zu ignorieren, auf denen jede politische Entscheidung ruht, und ebenso die Zukunft, die durch diese Entscheidung beeinflusst werden kann, aus dem Blick zu verlieren. Robinson Crusoe lebte in der Echtzeit. Aber das heißt dann auch im Sinne William Gibsons: “They sat around accessing media all day and talking about it, and nothing ever seemed to get done.”

Slow Media ist vor diesem Hintergrund der Versuch, sich nicht einseitig auf die bärtige Gegenwart, die runzlige Vergangenheit oder die glattwangige Zukunft zu konzentrieren oder gegeneinander auszuspielen. Vielmehr geht es darum, auf diesen vielfältigen Registern der Zeit spielen zu lernen, ein Gespür für Wiederholungen und Unvollständigkeiten auszubilden. Insofern also: Langsamkeitspfleger werden für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesucht. Wie die Stellenbeschreibung solcher Langsamkeitspfleger aussehen könnte, hat Robert Musil schon mit seinem “Möglichkeitssinn” skizziert, nämlich “die Fähigkeit […], alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.”

Danke an @markus_siepmann für den Wink mit dem Zaunpfahl.

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Proudly presenting: Das Slow Media Institut

Vor gut einem Jahr waren wir frischgebackene Manifest-Autoren. Wir hatten keine höheren Plan, keine Viralstrategie oder sonstige Absichten und Hintergedanken. Wir wollten es eigentlich nur einmal gesagt haben, fürs Protokoll gewissermaßen. Und dann ist Slow Media einfach ein gutes Beispiel für sich selbst geworden, für angeregte Debatten, für Kontroversen, Empfehlungen, Nachhall. Zwischen Anfang 2010 und jetzt liegt ein Jahr voller Diskussionen, Vorträge und Gespräche, darunter so schräge wie Interviews mit dem norwegischen Rundfunk und so ehrwürdige wie Vorträge beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels oder dem Europarat.

Was machen wir nun damit? Ganz einfach: Wir machen weiter. Wir gründen ein Forschungsinstitut. Das Slow Media Institut entwickelt einerseits die im Manifest formulierten theoretischen Reflexionen weiter. Andererseits ist der Ansatz unbedingt praktisch. Die Studien des Instituts fragen nach der Praktikabilität, suchen nach existierenden und möglichen neuen Geschäftsmodellen für die Rentabilität von Qualität in Kommunikation und Medien.

Wir freuen uns darauf, die begonnenen Debatten und Gespräche weiterzuführen und den Fragen, die sich täglich neu ergeben, nachzuforschen. Wie werden die Medien in Zukunft aussehen, wie wandelt sich die Kommunikation? Welche Medienformen werden sich bewähren? Gerade in diesen Tagen sehen wir auch an der Situation in Ägypten, dass dies höchst aktuelle Fragen sind. Wir sind gespannt.

Und weil das Institut etwas Eigenes ist, hat es natürlich auch eine eigene Website: www.slow-media-institut.net

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Ägypten und der Rest der Welt

Klassische Revolutionsikonografie. Foto: Richard Gutjahr

Ich weiß nicht, welche alten Reflexe mich am vergangenen Wochenende dazu bewegt haben, doch immer wieder durch die öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramme und deutsche Nachrichten-Sender zu schalten. Völlig ungerührt vom historischen Geschehen im Maghreb wurde hier das traditionell nachrichtenfreie Wochenendprogrammschema samt Florian Silbereisen und Wintersport abgehakt (ähnlich stoisch übrigens wie Präsident Mubarak seine Regierungssimulation weiterführt). Das Fernsehen hätte bei mir wirklich eine Chance gehabt, als nationales Lagerfeuer in historischen Situationen. Aber während Ereignisse wie Schnee oder Hochwasser echte Sondersendungen wert sind, schafften es 100.000ende Ägypter, die ihr Leben für etwas riskieren, das möglicherweise Freiheit ist, nicht.

Eugène Delacroix: La Liberté guidant le peuple

Stattdessen wurde fast nur während der schmalbegrenzten Norm-Nachrichten berichtet, und auch hier merkte man den Redaktionen geradezu an, wie verzweifelt sie nach “Relevanz” für die quotenrelevante Zielgruppe suchte (hier gilt offenbar der vermutete Zuschauerwunsch als Maßstab für Nachrichtentauglichkeit): Was an der Lage in Ägypten könnte den deutschen Zuschauer bloß interessieren? Und so wurde schamlos von der Lage an den ägyptischen Badestränden berichtet und von den möglichen Auswirkungen auf die deutsche Börse. Ich finde das noch heute beschämend. Das ist eine Beleidigung aller Zuschauer.

Anzeige im "Express", 30. Januar 2011

Ich sparte mir das dann und hielt es so, wie CNN mir ohnehin vorschlug: “stay with CNN”. Und mit dem englischen Al-Jazeera-Livestream. Und mit Twitteraccounts, die aus Ägypten berichteten. Und mit Richard Gutjahr. Der Nachrichtenmann des Bayrischen Rundfunks und Journalist reiste kurzentschlossen von Israel nach Kairo und berichtet per Twitter und auf seinem Blog. Alleine für die Fotos lohnt es sich, dort hinzusehen. Wer seinem Twitterstream folgt, weiß, dass er sich öfter in Israel aufhält und so eine höchst interessante Perpektive auf die Entwicklungen hat: die hiesige und die dortige. Wer weiß, dass Ägypten und Israel Nachbarstaaten sind und ein wenig im Geschichtsunterricht aufgepasst hat, muss zugeben, dass das ein Grund ist, da zuzuhören – trotz möglicher gleichzeitiger Selbstdarstellung. Der eine hält es eben so, der andere so. Thomas Knüwer meint, dass eine Unterstützung für die Roaminggebühren Richard Gutjahrs besser angelegtes Geld ist als GEZ-Gebühren. Ich bin nach den letzten Tagen geneigt, ihm zuzustimmen.

Sie sind bewaffnet: mit Fotohandys. Foto: Richard Gutjahr

So schwerfällig sich die öffentlich-rechtlichen und privaten (ja, jetzt muss man es leider sagen: alten) Medien zeigen, so schnell und unbürokratisch handeln die neuen Medien: die Unternehmen Twitter, Google und SayNow legten kurzerhand eine Wochenendschicht ein und das Ergebnis war “speak2tweet“: ein Service, der es jedem erlaubt, per Telefon Nachrichten auf Twitter zu veröffentlichen. Man wählt eine Telefonnummer, spricht seine Nachricht auf Band und diese wird unter dem Twitter-Account http://twitter.com/speak2tweet veröffentlich. Das verleiht den vom Internet abgeschnittenen Ägyptern im wahrsten Sinne des Wortes eine Stimme. Und so oft wir auf diesem Blog kritisch über Google berichtet haben (z.B. hier und hier): genau das ist es, was Medien können und auch tun sollten. Das ist wohltuend angesichts des Versagens klassischer Medien.

Foto: Richard Gutjahr

Man mag einwenden, dass diese Stimmen subjektiv sind. Ja, das sind sie. Sie sind subjektiv. Und ja, Fakten sind wichtig, aber subjektive Eindrücke eben auch (ein schönes Beispiel aus dem österreichischen Fernsehen hier). Diese Eindrücke sind wichtig und informativ – nicht nur obwohl, sondern gerade weil sie subjektiv sind. Was zählen Fakten in diesen Zeiten? Die Fakten und verifizierten Informationen können wir in Ägypten derzeit in der offiziellen Presse und den Staatssendern nachlesen und ansehen: scheinbar aufrechte Ägypter demonstrieren für Mubarak, der Präsident hat die Sicherheitslage im Griff, der Vizepräsident ist bereits dabei, die geforderten Reformen anzuweisen  und auch sonst gibt es keinerlei Grund zur Unruhe. Das ist die offizielle Version derjenigen, die gewohnt sind, Fakten zu schaffen. Alles andere sei nur Hörensagen*, die Meinung Einzelner, Subjektivität.

Aber das ist genau da, wo grade Geschichte passiert.

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* Nachtrag: “Hütet euch vor Gerüchten und hört auf die Stimme der Vernunft” heißt es in einer Propaganda-SMS, die zu verschicken die ägyptische Regierung Vodafone genötigt hat.

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Eine Auswertung dieser Situation und welche Rolle die Reaktionsfähigkeit für die Medienevolution hat, finden Sie nebenan auf dem Slow-Media-Institutsblog

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Der Idiot – wieder eine zeitgemäße Figur?

Tozkij dachte im stillen: ›Er ist ein Idiot, weiß aber instinktiv, daß man durch Schmeichelei am ehesten zum Ziel kommt!
Dostojewski, Der Idiot

Open systems don’t always win.
Steve Jobs.

Dear Igor Barinov,

The status for the following app has changed to Removed From Sale.
App Name: WikiLeaks App

Techcrunch, 21.12.2010

The iPad as a particular device is not necessarily the future of computing. But as an ideology, I think it just might be.
Steven Frank, http://stevenf.com

Der idiōtēs war in der griechischen Polis ein Mensch, der Privates nicht von Öffentlichem trennte – meist aus wirtschaftlichem Zwang, wie die Händler oder aus gesellschaftlichem Zwang, weil ihm, wie den Frauen und den Sklaven die öffentliche, politische Betätigung verwehrt blieb.

Platon beschreibt in seiner Politik, was er daran für bedauernswert hält: Ein Idiotes kümmert sich nur um seinen eigenen Oikos – seinen Herd und nicht um die Gesellschaft, die Polis. Dabei kann selbst ein reicher Idiotes nur durch die Gnade der Gesellschaft überleben. Nur, weil der davon ausgehen kann, dass ihm die Polis stets zur Seite springt, kann er darauf vertrauen, nicht einfach von seinem Hauspersonal ermordet zu werden. Er wäre ohne die Öffentlichkeit, die er durch sein Idotentum verachtet, vollkommen hilflos.
***

Netzpolitik ist zur Zeit in aller Munde. Dieses Wort, so könnte man weiterdenken, mag unterstellen, dass es im Internet eine Polis, eine Öffentlichkeit gibt.

An dieser Stelle haben wir bereits mehrmals darüber geschrieben, dass eine politische Öffentlichkeit sich nur entfaltet, wenn ihre Regeln zweckfrei verhandelt werden können. Solange das Netz praktisch vollständig privatwirtschaftlich kontrolliert wird, ist eine freie, wertegetriebene, politische Diskussion nicht möglich. Unternehmen kontrollieren über CDN, Backbone und DNS, ISP und neuerdings sogar über die Betriebssysteme der Endgeräte die Inhalte; das Argument der Zensur ist so gut wie nie ein politisches oder ethisches; wie bei der von Apple gelöschten Wikileaks-App werden die AGB, die Terms and Conditions angeführt.

Ähnlich ist die Lage bei den Social Networks und Plattformen. Auch Twitter kann mein Profil jederzeit mit Hinweis auf die AGB sperren, Youtube Videos mit dem Verweis auf angebliche Regelverstöße einfach löschen. Und Netzneutralität – d. h. eine Gleichbehandlung aller Datenpakete – ist nur so gut, wie die gerechte Chance aller Seiten, auch über Suche gefunden zu werden.

Umso interessanter empfinde ich die Beobachtung, mit welcher Hingabe sich ganze Hundertschaften von Netzaktivisten zum Büttel der TK-Industrie, von Google, Facebook und besonders von Apple machen und deren teilweise Offenheit mit Öffentlichkeit verwechseln.

Die Verschiebung der Informationsmacht von den Content-Produzenten, den Autoren, Filmemachern, Musikern und ihren Verlagen und Verwertungsgesellschaften hin zu den Content-Plattformen, den Social Networks und Suchmaschinen ist wahrscheinlich unumkehrbare Folge eines viel grundsätzlicheren kulturellen Wandels. Deshalb ist für die zukünftige Form von Kultur und Kreativität die Antwort auf dieFrage entscheidend, wie (und ob überhaupt) eine politische Öffentlichkeit, eine Gesellschaft, trotzdem für das wirtschaftliche Auskommen von Menschen in Kreativberufen sorgen kann. Ich halte die Forderung der Piratenpartei, nichtkommerzielle Vervielfältigung und Nutzung von Werken als “natürlich zu betrachten” und “explizit zu fördern” und gleichzeitig die Autoren “unabhängiger von bestehenden Machtstrukturen” zu machen, für utopisch. Im Moment nützen frei kopierbare Inhalte nur den Telcos, die ihre Bandbreite auslasten und natürlich den Plattformbetreibern, die dadurch Traffic erzeugen und dadurch bessere Werbeträger zu werden. Und obwohl ich selbst mein Geld mit Werbung verdiene, finde ich es doch ein wenig dürftig, wenn das alles gewesen sein soll, was bleibt.

Xenophon verwendete denn auch den Idioten schon im vierten Jhd. v. Chr. in einer übertragenen Bedeutung: ein Idiot ist ein unmusischer Mensch, der Dichtkunst unkundig.

Weiter lesen:
Die Illusion vom freien Internet
Alles wird Highway
Digitale Zwangsneurosen
Zensur?!

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Schrott-Nachtrag

DEN Schrott, Herr Ringier, / gibt’s nur auf Papier.

Wenn Print sich in Echtzeit versucht: Bericht über eine Show, die nicht stattgefunden hat.

(Dank an Dietmar Näher/Politblogger für das Foto)


Originalbeitrag
zum Thema

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[Read this post in English]

Dec. 4 (Bloomberg) — PayPal Inc., the payment processor owned by EBay Inc., cut access today to the whistle-blowing website WikiLeaks.org for violating its acceptable use policy.

(www.businessweek.com)

Anfang diesen Jahres wollte ich ein Buch bei einem Indischen Verlag bestellen. Als ich über den PayPal-Link auf der Verlagsseite bezahlen wollte, erhielt ich die Nachricht, das PayPal keinen Geldverkehr mit Indien mehr erlaube. Einfach so. Ohne irgendeine Begründung.

In der Diskussion um Google Streetview hat mich ein Argument besonders erstaunt: gegen Menschen, die ihre Häuser nicht für Googles Datenbank zur Verfügung stellen wollen, steht der Vorwurf, die seien “für Zensur”, gegen “die Freiheit des Internet” und ähnlich harte Anschuldigungen.

Die Wahrheit ist: Google, Facebook, Amazon, Ebay sind Wirtschaftsunternehmen. Der Umgang von Amazon und Ebay mit Wikileaks zeigt, welche Art von frei diese Firmen tatsächlich verkörpern: es ist frei wie in Freibier – und mit Freiheit hat es nichts zu tun, dass viele, bequeme Dienstleistungen von diesen Firmen scheinbar nichts kosten.

Es geht mir nicht um die Frage, inwieweit die Veröffentlichungen von Wikileaks schützenswert oder zu verdammen sind. Eine ethische oder politische Diskussion führen Amazon und Ebay nämlich nicht. Sie berufen sich auf ihre Allgemeinen Geschäftsbedignungen, die Wikileaks objektiv gebrochen hat.

Wenn wir den Googles, Facebooks, Amazons und Ebays dieser Welt das Internet überlassen, degradieren wir das Internet zu einer Manipulations- und Marketingmaschine. Jede Gesellschaft – ja sogar jede Gemeinschaft – sollte dafür sorgen, ihre wichtigen Inhalte und Schnittstellen nicht vollständig zu ökonomisieren. Regeln wie die Buchpreisbindung, das Pressegrosso und das Rundfunkrecht sind aus dieser Erkenntnis entstanden und haben sich in der “alten” Medienwelt über Jahrzehnte bewärt. Jetzt geht es darum, die Freiheit der Medien politisch und ethisch und nicht wirtschaftlich getrieben zu fördern.

Boykotte können helfen, Unternehmen zu erreichen – und sie zeigen uns im Verzicht auf die liebgewonnenen Services, wie abhängig wir tatsächlich schon sind. Aber zum Schluss wird es nur helfen, selbst für Alternativen zu sorgen.

Nachtrag: Zensur bei Twitter?

Eine besonders perfide – weil fast unmerkliche – Form von Einflussnahme von Twitter wurde spätestens jetzt am Beispiel Wikileaks deutlich.

Wikileaks wird aus den Trending Topics von Twitter gefiltert, wie mehrere Blogger heute quantitativ nachwiesen (z. B. http://bubbloy.wordpress.com), nachdem andere es bereits seit Tagen vermuteten.

Wenn solche Zensur bei der Verbreitung einzelner Tweets stattfindet, würden es vermutlich lange überhaupt niemand auffallen – die Betroffenen würden höchstens die bug-reiche API verantwortlich machen.

Wenn Twitter heute angeblich (und nach meinem dafürhalten tatsächlich) die einflussreichste journalistische Plattform ist, steht hier eine perfekte Maschinerie für Manipulation zur Verfügung, zumindest kurzfristig, bis im Ernstfall eine Alternative aufgetan worden wäre. Und richtig lustig wird es erst, wenn Twitter etwa anfangen sollte, im Namen politisch unliebsamer Accounts kompromitierende Nachrichten zu posten! (Und wer sollte sie daran hindern?)

Also – einmal mehr: raus aus den düsteren Walled Gardens und zurück ins helle, offene Netz!

Mehr zum Thema:
Virtueller Rundfunk
Digitale Zwangsneurosen
Zensur?!
Ohne Google
Der Idiot – wieder eine zeitgemäße Figur

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Digitale Zwangsneurosen

… das Ritual ist ein wirkungsloser oder symbolischer Versuch, diese Gefahr abzuwenden.
ICD 10 – F42

Google StreetView ist jetzt auch in Deutschland gestartet und es fehlen ein paar Hunderttausend Fassaden darin. Auch meine Hausfassade wird nicht zu sehen sein – ich habe vor einiger Zeit von meinem Verpixelungsrecht Gebrauch gemacht – teils zur Vorbereitung auf einen Expertentalk bei AntenneBayern, teils weil ich die Darstellung, wie und wo ich lebe, gerne selbst inszenieren möchte.

Aber ich glaube weder, dass mit dem systematischen Abfotografieren von Häusern unsere Privatsphäre plötzlich aufgelöst wird. Noch bin ich ein Anhänger der Theorie, dass 244.000 fehlende Fassaden zwangsläufig dazu führen werden, dass sich das schöne, bunte Internet auf einmal mit einem leisen Plopp in nichts auflösen wird. Kurz: Ich denke, dass es wichtigere Themen gibt.

Sehr befremdlich finde ich aber einige Reaktionen auf diese deutschen “Pixelbomben“, wie Jeff Jarvis es nennt. Was ist so schlimm daran, wenn eine Plattform wie Google StreetView weiße Flecken bzw. verpixelte Flächen aufweist? Wenn ich eine Erkenntnis aus meiner gut zehnjährigen Zeit als universitärer Soziologe mitgenommen habe, dann die: Wissen ist immer lückenhaft. Und das ist gut so.

Nicht der Mut zur Lücke ist eine Bedrohung für unser Gemeinwesen, sondern der Zwang zur Vollständigkeit. In diesem Punkt liegt Jeff Jarvis völlig falsch. Die “Stasileute und Nazis“, von denen Jeff Jarvis spricht, hätten nicht das Verpixeln klasse gefunden, sondern die vollständige und systematische Abbildung der Welt. Ganz abgesehen davon, dass sie wahrscheinlich Twitter und Facebook für viel spannender und ergiebiger gehalten hätten.

Woher kommt dieser seltsame Drang zur Vollständigkeit und Eindeutigkeit (eine verpixelte Fassade ist schließlich nicht einfach ausgeblendet, sondern mehrdeutig)? Gerade die letzten Social-Media-Jahre haben doch deutlich gezeigt, dass hier lauter neue Biotope und Communities entstehen, die eben nicht so sauber und ordentlich organisiert sind wie das Organigramm einer Bundesbehörde. Wissensbestände sind entstanden, die nicht einer eindeutigen und vollständigen Klassifikation à la Dewey entsprechen, sondern aus lose miteinander verknüpften Informationsknäueln bestehen.

Projekte wie Wikipedia oder Openstreetmap sind gerade nicht von oben nach unten am Reißbrett geplant, sondern entstehen en passant, zum Teil im Gebrauch der Menschen (der Soziologe in mir hätte jetzt beinahe das schön bürokratisch klingende “Handlungsvollzug” geschrieben). Openstreetmap zum Beispiel ist um meinen Wohnort herum sehr dicht mit Informationen. Im Nachbarort dagegen fehlt noch vieles. Ist das ein Problem?

Wahrscheinlich sind die Anzeichen der digitalen Zwangsneurose auch nur eine verständliche Reaktion auf die noch einmal gesteigerte Unübersichtlichkeit der “Ganz Neuen Medien”. Hier gibt es Rundfunk ohne Sendeplan, Publikationen ohne Herausgeber, Inhalte ohne Autoren – Social Media ist eine Welt der Antipoden und Fabelwesen. Und trotzdem von Tag zu Tag realer für uns alle. Die Reaktion, diesen chaotischen Urwald in ein ordentliches Blumenbeet zu verwandeln, ist verständlich – wir alle haben unseren Zygmunt Bauman gelesen. Aber dass dieser Drang nicht von einem Gärtnerstaat ausgeht, sondern den Hobbygärtnern selbst, das ist beunruhigend.

Was kommt als nächstes? Entdeckt vielleicht einer der Internetaktivisten, dass die Datensätze der großen Adresshändler in Deutschland auch noch Lücken haben? Wird es dann eine Task-Force geben, die dafür sorgt, dass auch wirklich jeder Bürger in den Direktmarketing-Datenbanken erfasst ist?