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Die Stasi und die Meme: Was ist politisch an Slow?

Was ist politisch an Slow? Neben den ästhetischen und medientheoretischen Aspekten in dem von uns entwickelten Slow-Media-Ansatz gibt es eine immer stärker zutage tretende politische Dimension. Die Sprengkraft liegt meines Erachtens in der These 6 “Slow Media sind diskursiv und dialogisch”, sekundiert von These 5 “Slow Media fördern Prosumenten”. An die Stelle des klassischen Medienkonsums, der auf der einen Seite einen Produzenten von Inhalten und auf der gegenüberliegenden Seite einen passiv-rezipierenden Aufnehmer von Informationen hat, tritt eine neue Form der Mediennutzung. Sie nähert sich der Form der Kommunikation und dem mündlichen Gespräch an. Die Rollen des Gebens und Nehmens vermischen sich, jeder kann Informationen aufnehmen und weitergeben, kann Sender und Empfänger zugleich sein.

Das ist die Voraussetzung für das, was Jörg Blumtritt den Memetic Turn nennt – die Entstehung memetischer Gemeinschaften durch den Austausch identitätsstiftender Meme, seien es die Idee der Freiheit, das Bekenntnis zu “We all are Khaled Said”, Laufenten oder die vielzitierten Katzenfotos. Diese Gemeinschaften sind nicht mehr lokal oder ethnisch begründet, sie entstehen durch Kommunikation und Austausch, ja sie untergraben bestehende gesellschaftliche Strukturen.

Pfingstmontag auf der Autobahn habe ich das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung gelesen. Dort findet sich der Beitrag “Die Akte “Tänzer”” von Renate Meinhof (Süddeutsche Zeitung Nr. 134, Pfingsten 11./12./13. Juni 2011, S. 15). Der hier geschildete Fall zeigt genau, was an Slow politisch ist.

Es geht in dem Beitrag um die Stasi-Akten über eine Gruppe junger Breakdance-Tänzer in den 80er Jahren in Neubrandenburg. Sie gerieten durch ihre eigenartig geformten Frisuren und die “ruckartige[n], tanzähnliche[n] Bewegungen” ins Visier der Staatssicherheit. Man darf annehmen, dass die Stasi ein feines Gespür für Staatsgefährdung hatte. Wie kann es sein, dass ein Staat sich durch Frisuren und tanzähnliche Bewegungen bedroht sieht?  “Der Tanz stellt keine Beeinträchtigung von bestehenden Norm- und Moralauffassungen dar. Von der Gestaltung des Tanzes ist dieser nicht geeignet, dass ihn Massen nun auf der Tanzfläche ausüben können”, schlussfolgert die Staatssicherheit Neubrandenburgs erleichtert nach eingehender Inspektion und dem Anwerben mehrerer Spitzel.

Und damit benennt sie im Umkehrschluss, wonach sie gesucht und was sie befürchtet hat: Es ist die gesellschaftszersetzende Kraft einer memetischen Gemeinschaft. Frisuren und Tanzstile sind Meme, die Identität stiften, Menschen miteinander verbinden und sich staatlicher Kontrolle entziehen können.

Die Staatssicherheit der DDR hat Meme bekämpft. Sie hat mögliche Herde nicht gesellschaftlich verankerter Gemeinschaften aufgespürt und entschärft: entweder durch die Auflösung der Gruppe oder durch ihre gesellschaftliche Integrierung durch die Einstufung als ein “anerkanntes Volkskunstkollektiv”. Die Gemeinschaft sind wir – so lautet die sozialistische Variante des “l’état c’est moi”.

Die Stasi und mit ihr die Geheimdienste und Staatssicherheitsabteilungen aller autokratischen Regierungen sind Experten im Aufspüren und Entschärfen von Memen. Die Unterbindung und Sabotage von Kommunikation (durch Spitzelei oder durch das Abschalten des Internet) ist früher und bis heute ihre Königsdisziplin. Sie fürchten nichts mehr als Benedikt Köhlers Satz “Meme zersetzen Gesellschaft“. Völlig konsequent ließ die chinesische Regierung wegen Ansteckungsgefahr sofort Suchbegriffe wie “Ägypten” oder “Tunesien” sperren, als die dortigen Dikatoren ihre Meme nicht mehr im Griff hatten.

Doch die Kommunikationswege haben ihre feste Kontur und damit ihre Kontrollierbarkeit verloren. Sie wandeln sich unter dem Zugriff, sie  verändern sich, passen sich an, umgehen Sperren, finden Umwege und neue Räume. Das ist das Potential von Kommunikation und von memetischen Gemeinschaften. Das ist politisch an Slow.

“Dringend empfohlen: TED-Gespräche über Ägypten” Von Ai Weiwei weitergeleitete chinesische Empfehlung des TED-Talks von Wael Ghonim, der Symbolfigur der ägyptischen Revolution

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Die memetische Geste: “Ich höre dir zu”

Der “memetic turn”: Ein  schönes Grundkonstrukt, ein neuer Gedanke, der sich in den Beiträgen der letzten Tagen auf diesem Blog aufgefächert hat. Wir nähern uns dem Begriff, wir kreisen ihn ein. Mischen Flüssigkeiten und Ingredienzen, lösen und fügen Festkörper und Schwebeteilchen. Wer weiß, was in einem solchen Kessel entsteht.

Was bedeutet es eigentlich, Meme auszutauschen? Das habe ich mich gestern morgen gefragt und die Antwort hat mich selbst überrascht, obwohl sie eigentlich ganz einfach klingt.

Meme auszutauschen bedeutet, sich gegenseitig zu signalisieren:  “Ich höre dir zu.” Eingedenk der Etymologie, die zwischen dem grch. “Mneme” (Erinnerung) und dem französischen “même” (gleich) changiert – auch: “Ich erinnere mich an dich”, “Es gibt etwas Gleiches zwischen uns” und “Ich verbinde mit dir etwas”.

Das ist der neue Kitt der Gemeinschaften, von dem auch bei Jörg die Rede war. Es ist die Kommunikation selbst, die Gemeinschaft und Identität stiftet. Natürlich wurden Gesellschaften immer schon über Kommunikation zusammengehalten. Aber jetzt schafft die Kommunikation Gemeinschaften. Ist es das, was an memetischen Gemeinschaften neu ist?

Meme zersetzen die Gesellschaft – so lautet die vielleicht zunächst irritierende Aussage von Benedikt. Jörg spricht von einer “Korrosion“. Das Zersetzende an Memen ist, dass sie über bestehende gesellschaftliche Strukturen hinweggehen und neue Zusammengehörigkeiten, Zusammenhänge und neue Strukturen schaffen. Dynamische, sich verändernde, wabernde Strukturen. Vielleicht sogar gar keine Strukturen, sondern nur noch Gewebe, wie Benedikt in seiner Antwort auf den Thixotropie-Beitrag gemutmaßt hat.

Das Ich-höre-dir-zu des memetischen Handelns hat eine zutiefst politische Dimension. Das Nichtgehörtwerden und Keinestimmehaben gehörte lange zum Los der gesellschaftlichen Mehrheit – in allen unterschiedlichen Ausprägungen, die zwischen Demokratien und autokratischen Systemen möglich sind. Es scheint, dass sich in diesem Punkt gerade etwas ändert.

Womit wir bei den maghrebinisch-maurisch-spanischen Revolutionen wären. Man kann diese nicht alle in einen Topf werfen – auch nicht in unseren Theorienkessel – aber seit einiger Zeit fällt mir ein Muster auf: Kurz vor Ausbruch der Unruhen gibt es einen Moment, an dem die jeweiligen Machthaber hätten das weitere Geschehen beeinflussen können – durch schlichtes Zuhören und Reagieren auf das Gehörte.

Die “Revolutionen” entstanden nicht aus dem Nichts, es braute sich der Unmut über Monate, manchmal Jahre hinweg zusammen, bis schließlich aus Unbehagen die vielzitierte Empörung wurde. Und es hätte durchaus Gelegenheiten gegeben, darauf zu reagieren.

Wael Ghonim, die Orientierungsfigur der ägyptischen Revolution, berichtet auf der TED-Konferenz 2011 von diesen Anfängen. Über die Facebookseite “We all are Khaled Said” fanden innerhalb weniger Tage Tausende von Ägyptern zusammen, die ihr Regime aufforderten, rechtstaatlich zu handeln und die Mörder des Bloggers Said zur Verantwortung zu ziehen. “Angry egyptians who were asking the ministry of interior affairs: It’s enough!” Zu diesem Zeitpunkt hätten das Regime noch reagieren und handeln können. “But of course they don’t listen”, fährt Ghonim nahtlos fort (min 4:20). Alte Strukturen sind nicht reaktionsfähig. Die Ägypter haben daraus ihre Konsequenzen gezogen.

Am 6. Februar, elf Tage vor Beginn des libyschen Aufstands, wurde eine Delegation von vier Intellektuellen in Gadhafis Zelt vorgeladen. Ben Ali war schon im Ausland, Mubarak sollte fünf Tage später aufgeben. “Ihr seid jetzt also auch mit den Facebook-Kids zusammen”, begrüßte Gaddafi sie, offenbar bemerkend, dass da etwas im Busche sein könnte. Doch obwohl er selbst der Meinung ist, Mubarak und Ben Ali hätten ihr Schicksal verdient, weil sie nicht auf ihr Volk gehört hätten, kann auch er nicht entsprechend handeln. Als die vier Juristen “Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und eine Verfassung” und mehr Beteilung der jungen Generation fordern, reagiert er “verwundert” und weist die Forderungen weit von sich. “Niemand in Libyen sei scharf auf derartigen Freiheiten, solche intellektuellen Diskussionen seien nicht gefragt.” Er hatte zwar zugehört, traute aber offenbar seinen Ohren nicht und ließ die Gelegenheit ungenutzt. Die Delegation fuhr schweigend nach Hause und beschloss für den 17. Februar den “Tag des Zorns” auszurufen (Quelle: ZEIT).

Bernardo Gutiérrez berichtet kürzlich im Tagesspiegel über die gesellschaftlichen Vorbeben in Spanien, die in direktem Zusammenhang mit der Banken- und Schuldenkrise des Landes steht. Auch hier gab es vorher Kontaktaufnahmen, Ermahnungen, Aufrufe. “Es braute sich etwas zusammen.” Doch offenbar wurden diese Anzeichen ignoriert, das alte Spiel in den alten Strukturen unverändert weiterbetrieben. “Die Arbeitslosigkeit stieg weiter, die Konzerne zahlten weiter astronomische Managergehälter. Dann präsentierten die Sozialisten und die Volkspartei ihre Kandidaten für die Regionalwahlen. Darunter: zahlreiche Politiker, die unter dem Verdacht standen, sich während des Immobilienbooms illegal bereichert zu haben.” Der Widerstand formierte sich. “Die Spanische Revolution klopfte laut an die Tür. Aber niemand schien sie hören zu wollen.” Noch hätte die spanische Regierung wohl reagieren können. Sie tat es nicht. Bis die Plattform „Democracia Real Ya“ zu Demonstrationen aufrief, mit bekanntem Ergebnis.

Einanderzuzuhören und Sich-Aufmerksamkeit-Schenken ist das, was memetische Gemeinschaften verbindet. Mich, die ich mich seit vielen Jahren mit den verschiedensten Ausprägungen der Kommunikation befasse, hat dieser Gedanke sehr berührt.

 

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Memetische und massenmediale Kommunikation

Nachdem wir hier den Rahmen des memetischen Ansatzes abgesteckt haben und in diesen beiden Beiträgen konkrete Anwendungsbeispiele dargestellt haben, möchte ich im Folgenden kurz die Grundlagen der memetischen Theorie durch die idealtypische Unterscheidung zwischen massenmedialer und memetischer Kommunikation beschreiben. Idealtypisch bleibt dieses Unterfangen vor allem deshalb, weil sich beide Kommunikationsformen in der Geschichte immer wieder gegenseitig beeinflusst und durchdrungen haben.

Der wichtigste Unterschied zwischen massenmedialer und memetischer Kommunikation ist die dahinterliegende Kommunikationsstruktur: Massenmedien wie die Tageszeitung, das Fernsehen oder das Radio funktionieren fast ausschließlich so, dass wenige Sender ihre Botschaften an viele Empfänger übermitteln. Es kann zwar in Einzelfällen einen Rückkanal geben (z.B. Call-In-Sendungen oder Leserbriefe), diese stellen gegenüber dem einseitigen Normalbetrieb stets die Ausnahme dar. Memetische Kommunikation dagegen verläuft über Netzwerke, die in vielen Fällen skalenfrei sind, das heißt die Knoten und Verbindungen sind nicht zufällig verteilt, sondern weisen eine exponentielle Verteilung auf. Die meisten Knoten haben nur wenige Verbindungen, einige wenige haben dagegen sehr viele Verbindungen und können als Multiplikatoren im Kommunikationsfluss dienen. Experimente wie Milgrams Small-World-Studie (die selbst memetische Qualitäten hat) zeigen die Funktionsweise und Stärke dieser Netzwerke.

Die unterschiedliche Kommunikationsstruktur hat auch Auswirkungen auf die jeweils zugrunde gelegten Maßeinheiten. Die Leistung massenmedialer Kanäle wird in Reichweiten gemessen, also in ihrer Fähigkeit möglichst viele Menschen zu erreichen. Wer diese Menschen sind, ist dabei zweitrangig, da Erfahrungswerte dafür bestehen, mit welchen Reichweitenschwellen welche Wirkungen einhergehen. Die zentrale memetische Reichweite ist dagegen der Einfluss. Für die möglichst intensive Durchdringung einer Gemeinschaft mit einem Mem ist nicht so sehr die reine Anzahl der Kontakte maßgeblich, sondern die möglichst effiziente Nutzung von hochdistributiven Schaltstellen (in der Epidemologie nennt man diese „Super-Spreader“).

Das Leitmedium der massenmedialen Kommunikation ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts das Fernsehen. In diesem Medium wurden (und werden nach wie vor) die größten Publika erreicht. Zuvor war es das Radio und davor die Tageszeitung. Alle diese Medien wurden mit ihren großen Reichweiten immer wieder für politische Zwecke eingesetzt (als Staatspresse, Staatsfernsehen etc.). Das Leitmedium der memetischen Kommunikation dagegen ist das Internet, insbesondere die heute als Social Web diskutierten Plattformen, auf denen Nutzer eigene Inhalte publizieren können.

Die unterschiedlichen Kommunikationsstrukturen haben darüber hinaus auch Folgen für die zeitliche Dimension der Nachrichtenübermittlung. Massenmedien sind Augenblicksmedien. Die Reichweite einer Fernsehsendung baut sich nicht über die Zeit hinweg auf, sondern entsteht im Augenblick des Sendebeginns. Ebenso scharf ist das Ende gekennzeichnet – wenn die Sendung beendet ist, fällt die Reichweite sofort ab. Memetische Kommunikation ist dagegen zeitlich unspezifisch. Der Beginn der Verbreitungskarriere eines Mems kann sich über Tage oder Wochen ziehen, und das Ende ist ebenso amorph, da ein Mem immer wieder zum Leben erweckt werden kann. Im Grunde genommen stimmt der Begriff der Echtzeitkommunikation, der immer wieder dem Internet und seinen memetischen Kommunikationen zugerechnet wird, gar nicht. Die Massenmedien waren die echten Echtzeitmedien.

Wenn in der memetischen Theorie immer wieder von der „Gesellschaft zersetzenden“ Qualität von Memen die Rede ist, bezieht sich das nicht auf einen systemtheoretischen Gesellschaftsbegriff (Gesellschaft als umfassendstes Kommunikationssystem), sondern auf die stärker kulturanthropologische Unterscheidung von Ferdinand Tönnies zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Der Kern dieser Unterscheidung: Während Gemeinschaft durch den Wesenswillen zusammengehalten wird (z.B. Verwandtschaft, Nachbarschaft oder Freundschaft) und auf dem ökonomischen Prinzip des Teilens  basiert (z.B. das gemeinsame Mahl), ist Gesellschaft durch den Kürwillen und den ökonomischen Tausch geprägt. Gesellschaftliches Handeln entsteht nicht aus dem gegenseitigen Verständnis, sondern aus der Erwartung einer Gegenleistung. So holzschnittartig und altmodisch das alles klingt, Tönnies Text aus dem Jahr 1887 beschreibt sehr detailliert die Dynamik der memetischen Kommunikation. Die erfolgreiche Verbreitung eines Mems funktioniert im Wesentlichen durch den Wesenswillen der Gemeinschaften im Web – Meme werden nicht getauscht, sondern geteilt („Sharing“). Aber nicht nur Tönnies steht hier Pate, sondern auch Max Weber mit seiner Unterscheidung von Vergemeinschaftung (= soziales Handeln, das sich am Zugehörigkeitsgefühl der Handelnden orientiert) und Vergesellschaftung (= soziales Handeln, das sich an Rationalitätsstandards wie Zwecken oder Werten orientiert).

Die charakteristische rhetorische Figur der memetischen Kommunikation ist die Metapher. Die Metapher schlägt eine Brücke zwischen zwei höchst unterschiedlichen Bedeutungskontexten. Der Übertragungskontext ist dabei höchst esoterisch und kann außerhalb der Gemeinschaft häufig nicht verstanden werden. Man braucht nur wenige Minuten auf Twitter mitlesen und wird im Minutentakt auf übertragene Bedeutungen in einem mikroskopischen Verweisungskosmos stoßen, die nur mit großer Mühe entschlüsselt werden können. In den meisten Fällen bleibt ein unübersetzbarer Rest, der in der Übersetzung verloren geht („lost in translation“). Besonders deutlich sieht man das an der großen Zahl toter Metaphern, die wir heute aufgrund unserer zeitlichen und kulturellen Distanz nicht mehr entschlüsseln können. Dagegen ist die Sprache der Massenmedien, wenn sie überhaupt mit rhetorischen Figuren arbeitet, metonymisch (man denke an typische Zeitungsschlagzeilen wie „Berlin erklärt Paris den Krieg“) oder ironisch-zynisch (z.B. in der TV-Berichterstattung über Gewaltverbrechen).

Der Journalist ist in massenmedial geprägten Kommunikationssystemen der mit Abstand wichtigste Akteur. Er wird als eine Art genialer Schöpfer der transportierten Inhalte skizziert, auf dessen Arbeit das ganze System aufbaut – so wie der Wissenschaftler Wissen schafft oder der Künstler Kunst. Diese vulgärsoziologische Great-Men-Perspektive ist mittlerweile nicht allein in den Geschichtswissenschaften passé, sondern auch in den anderen Gesellschaftsbereichen immer schwerer zu halten. Für die memetische Theorie spielen „geniale Schöpfer“ von Anfang an keine Rolle mehr. Zum einen, da eine effiziente Vernetzung viel wichtiger ist als individuelle Genialität. Zum anderen wird die Vorstellung der Schöpfung durch eine stärker prozessuale Betrachtung abgelöst. Meme werden nicht im stillen Kämmerlein erdacht, sondern entstehen im Vollzug. Nur die wenigsten Meme lassen sich auf einen aristotelischen Urheber zurückführen („Wer hat die Katzenfotos erfunden?“), sondern haben sich allmählich im kommunikativen Hin und Her der Gemeinschaften zu dem entwickelt, was sie sind.

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Den Fortschritt genießen

Das Tempo, in dem sich unsere Welt verändert, wird immer schneller. So viele neue Technologien, wie zur Zeit erfunden wurden, gab es in keinem Zeitabschnitt zuvor. Kurz: Wir leben in einer Zeit allerschnellsten Wandels. So erzählen uns das auf jeden Fall die Journalisten, Politiker, Wissenschaftler und Philosophen. Aber ist das tatsächlich der Fall? Kann die Menschheit des frühen 21. Jahrhunderts tatsächlich kaum mehr Laufen vor lauter Innovationskraft? Oder erleben wir gerade die Entstehung eines neuen posthistorischen Mythos hautnah mit? Tim Harford argumentiert in der aktuellen Wired genau in diese Richtung.

Klar, niemand bestreitet, dass das Internet die Weltgesellschaft vom wirtschaftlichen Substrat bis zum geistigen Überbau kräftig durchgeschüttelt hat und viele Veränderungen sich erst in ihren ersten Vorbeben abzeichnen. Aber die technologische Basis aller shiny & new Internetplattformen ist schon mehr als 40 Jahre alt. Die Grundlage der Datenübertragung von hochmodernen Plattformen wie Facebook, Foursquare oder Google ist das TCP/UP-Protokoll, die “Specification of Internet Transmission Control Program” aus dem Dezember 1974. Mit jedem Link, auf den wir klicken, setzen wir einen Oldtimer in Bewegung.

Aber was für die virtuelle Mobilität gilt, trifft erst recht auf die physische Mobilität zu. Wenn ich innerhalb Europas mit dem Flugzeug unterwegs bin, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, mit einem echten Oldtimer unterwegs zu sein – die Boeing 737 hatte ihren Erstflug im April 1967. Im Langstreckenbereich sieht das nicht anders aus: Die Boeing 747 ist regulär seit 1970 unterwegs und was die außerirdische Mobilität betrifft: Das Space Shuttle wird vermutlich dieses Jahr im hohen Alter von 34 Jahren endgültig musealisiert.

Dagegen hat sich bei dem sehr viel langsameren Fortbewegungsmittel Fahrrad seit den 1970er Jahren sehr viel mehr getan. Die damals üblichen gemufften Stahlrenner sind fast schon ausgestorben. Die neuen Werkstoffe Kunststoff (“Karbon”) oder Aluminium haben den Stahl fast schon abgelöst. Hier muss man schon eher auf die Mechanik blicken, um auch hier die Entschleunigung festzustellen: Das Prinzip des Umwerfers, der die Kette relativ grobmotorisch von einem Blatt zum nächsten lenkt, hat sich seit
den 1960er Jahren nur marginal verändert.

Tyler Cowen beschreibt diese Ungleichzeitigkeit der technologischen Entwicklung in seinem wunderbar barock überschriebenen Band “The Great Stagnation: How America Ate All The Low-Hanging Fruit of Modern History,Got Sick, and Will (Eventually) Feel Better”. Obwohl der Titel eher pessimistisch klingt, ist die Grundaussage eigentlich eine frohe Botschaft: Die “stagnierenden” Technologien wie Internetprotokolle, Rasierhobel oder Umwerfer funktionieren schon so gut, dass jeder weitere marginale Verbesserungsschritt unmäßige Kosten verursachen würde. Die Wired-Antwort lautet: mehr und bessere Fortschrittsförderung. Aus Slow Media-Perspektive könnte man aber auch schlussfolgern: Genießen wir den Fortschritt, den wir schon haben.

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Memetic Chic – Revolution und Struktur nach dem Ende der Moderne

Struktur1 – Anti-Struktur – Struktur2. So einfach klingt das gesellschaftliche Grundmuster bei Anthropologen wie Victor Turner. Am Anfang ist Struktur und am Ende wird wieder Struktur sein. Nur dazwischen gibt es ein liminales Stadium des Flusses. Aber ist das wirklich so? Oder ist das nur eine, naja, sagen wir einmal kryptostrukturkonservative Ideologie? Man braucht gar nicht so weit zu gucken, um alternativen Entwürfen zu begegnen, ganz gleich ob es die biblische Schöpfungsgeschichte ist oder die Thermodynamik. Dort ist Struktur nur ein relativ kurzer Zwischenstopp auf dem Weg.

Struktur war in der großen Erzählung der Moderne gleichbedeutend mit Gesellschaft. Der anti-strukturelle Zustand wurde im Verlauf der Menschengeschichte gezähmt und in einen mehr oder weniger wohlwollenden eisernen Käfig gesperrt. Ob man Max Weber oder Norbert Elias befragt, sie alle spielen dasselbe Lied von der allmählichen Zivilisierung. Einmal mit Blick auf die Ertrags-, einmal mit Blick auf die Kostenseite. Gesellschaft bedeutet: so viel Sicherheit, aber auch so viel Herrschaft wie nie zuvor.

Was wir in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher gesehen haben, ist eine überwältigend starke Rückkehr der Gemeinschaft. Im Marketing spricht man längst nicht mehr von der Massenkommunikation, sondern von Brand Tribes, die sich um Marken scharen wie früher um Stammestotems. In der Soziologie betrachtet man verwundert die „Rückkehr“ von Religion, Ethnizität und Kommunalismus und die schleichende Transformation der massengesellschaftlichen Grundpfeiler der Gesellschaft in zombieartige Schwundstufen. Egal, ob es um Massenheere, Massendemokratie, Massenkonsum oder Massenbildung geht. Überall dasselbe Bild von hermetischen, von außen schwer durchschaubaren neotribalen Gemeinschaften mit ihren ganz eigenen Hierarchien, Riten, Werten, Dialekten und Ernährungsgewohnheiten.

Sabria nennt es in ihrem Blogbeitrag über die Spanische Revolution „Thixotropie“: „Sie lassen sich durch Bewegung in Bewegung bringen, sie verändern ihren Aggregatzustand, ihre Form und ihre Kontur.“ Man könnte aber auch Meme dazu sagen. Meme sind hochgradig thixotrop, sie bewegen sich durch Gemeinschaften, verändern dabei immer wieder ihre Form und Kontur und schaffen dabei genau das, worin Gesellschaft immer schlechter ist: sie binden Menschen zusammen. Allerdings nicht ohne die beunruhigende Nebenwirkung: Sie verändern den Aggregatzustand von Gesellschaft. Anders ausgedrückt: Meme zersetzen Gesellschaft.

Insofern bin ich auch skeptisch, inwiefern die stark von memetischen Kommunikationsmustern geprägte Spanische Revolution wieder in einen stabilen und kalten – kurz: gesellschaftlichen – Aggregatzustand zurückfinden kann. Übergang ist mir ein viel zu optimistisches Wort. Meme brauchen keine angemessenen Strukturen. Ihnen reicht es, wenn sie sich verbreiten. Notfalls werden die gesellschaftlichen Schwundstrukturen à la Favela Chic zusammengebastelt. Genau nach demselben Muster, nach dem in diesem Blog immer mal wieder Blutwunder und Ketchup aneinandergeheftet werden.

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Alles fließt. Über Statisten und Blutwunder

Die Spanier sind offenbar derzeit nicht einverstanden mit der ihnen zugedachten Statistenrolle in ihrer Demokratie und der Gesellschaft. Ihre Demokratie ist zu einer Beteiligungssimulation geronnen. Rituale der Macht und ihre Verteilung folgen parteiübergreifend ihren eigenen, inhärenten Regeln. Teilhabe – vielleicht ohnehin eine Illusion – stört den Ablauf. Alles stockt, nichts fließt mehr.

“Empörung” heißt jetzt “indignación”, junge Spanier formulieren es auf der Plattform “Democracia Real Ya!” in einem Manifest und sie fordern eine ethische Revolution. Von Empörung war ja auf diesem Blog schon Rede. Es ist mein Wort des Jahres. Verbunden mit der Frage: Was empört uns eigentlich?

Die spanische Empörung – und nicht nur sie – entzündet sich an dem Wunsch der Menschen, eine aktive Rolle in der Politik, in der Gesellschaft, in der Welt spielen zu wollen. Menschen wollen keine Statisten sein, sie wollen aktiv sein, nicht passiv. Bei einer Jugendarbeitslosigkeit von 45 % ist das mehr als eine ethische Forderung, es ist eine ganz elementare. Die geronnenen Demokratieformeln genügen ihnen nicht mehr. Etwas Neues muss her, oder eine neue Art und Weise, das Alte zu tun.

Sicher, die Frage ist, was danach kommen soll. Aber die neue Struktur zeigt sich erst, wenn die alten Strukturen ins Schwimmen geraten sind. Es ist ein Kennzeichen von Phasen des Übergangs, dass alles ins Rutschen gerät und die Strukturen ihre Kontur verlieren. Dann erst können neue Strukturen aufscheinen, kann eine neue Ordnung wieder zu klaren Formen und Strukturen kondensieren. Peter Glaser beschreibt das sehr schön in seinem Essay “Auf in die Hypermoderne: Der Übergang” als zunehmendes Flirren und Rasen. Seine Frequenz nimmt zu, bis sich “eine neue Struktur ausgeprägt hat, ein neuer Grad an Ordnung, und sich eine neue Geläufigkeit einstellt”.

Ich denke hier die Lage der Politik, der Gesellschaft und der Medien zusammen. In allen diesen Bereichen befinden wir uns in einem Übergang. Das Bisherige passt nicht mehr, das Neue hat noch keine Konturen. In der Berichterstattung über die Revolutionen spiegelt sich genau dies auch auf der Ebene der Medien und des Journalismus. Noch fehlen uns die geeigneten neuen Kulturtechniken, um mit den Veränderungen umzugehen. Aber wir entwickeln sie grade.

Und so können wir auch die Spanische Revolution 2011 lesen: Als einen ersten Schritt, um Bewegung in die Lage und die Dinge in Fluss zu bringen, Gestocktes zu lösen und damit die Voraussetzungen für Neues zu schaffen.

In anderem Zusammenhang (S. 93 ff.) habe ich einmal von dem thixotropen Effekt des Web 2.0 gesprochen, das mit seinen Beteiligungs- und Prosumenteneffekten bestehende Strukturen auflöst. Thixotropie bezeichnet in der Physik die Eigenschaft eines Stoffes, sich durch Bewegung verflüssigen zu können, seinen Aggregatzustand zu verändern. Bekannt ist dieser Effekt z.B. bei Ketchup, der erst geschüttelt werden muss, damit er aus der Flasche fließt – und auch bei einigen der sogenannten “Blutwunder“, bei denen sich geronnenes Reliqiuenblut durch Schütteln wieder verflüssigt.

Wissen, Kultur und Gesellschaft haben auch thixotrope Eigenschaften: Sie lassen sich durch Bewegung in Bewegung bringen, sie verändern ihren Aggregatzustand, ihre Form und ihre Kontur. Ihre Strukturen sind nicht statisch, sie reagieren auf die Umwelt. Das ist eine evolutionäre Überlebenstrategie: Die vorübergehende Verflüssigung macht den Weg frei für eine Reorganisation, für die Herausbildung neuer, angemessener Strukturen und für neue Kulturtechniken.

Wer weiß, vielleicht gilt dasselbe gar auch für die Politik.

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Weitere Blog-Beiträge zum Thema:

https://www.slow-media.net/tribales-trommeln

https://www.slow-media.net/spanische-revolution

https://www.slow-media.net/agypten-und-der-rest-der-welt

 

 

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Memetic Turn

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“Der Gehenkte” aus dem Tarot Karls VI., Paris, Anfang 15. Jhd.

Die Symbolik des Tarot – ähnlich wie die der Alchimie bildet ein vormodernes Mem-System. Eng verwoben mit anderen mehr oder weniger esotherischen Sinn-Programmen wie Kabbalah oder Astrologie sind die Bilder darin zum ersten illustrativ – sie stellen durchaus auch das dar, war darauf zu sehen ist, zum zweiten besitzen sie den willkürlich zugeordneten symbolischen Wert. Das Besondere an Memen wie an Metaphern ist, dass zwischen unterschiedlichen Menschen ein gemeinsamer Bedeutungsraum entsteht, über den sich diese Verschiedenen identifizieren

“Literacy, the visual technology, dissolved the tribal magic by means of its stress on fragmentation and specialization and created the individual.”

“The tribalizing power of the new electronic media, the way in which the return us th the unified fields of the old oral cultures, to tribal cohesion and pre-individualist paterns of thought, is little understood. Tribalism is the sense of the deep bind of family, the closed society as the norm of community.”
Herbert Marshall McLuhan

“Alles ist teilbar, und es kann kein Individuum geben.”

“Die Bedeutung solcher Symbole [der Buchstaben] ist von Farbe weitgehend unabhängig: ein rotes und ein schwarzes ‘A’ bedeuten denselben Laut. […] Daher deutet die gegenwärtige Farbexplosion […dass] eindimensionale Koden wie das Alphabet neigen, […] an Wichtigkeit zu verlieren.”

“Mit der Erfindung der Schrift beginnt die Geschichte, nicht, weil die Schrift Prozesse festhält, sondern weil sie Szenen in Prozesse verwandelt: Sie erzeugt das historische Bewusstsein.”
Vilém Flusser

ממטית המהפך

Schriftlichkeit und Gesellschaft hängen unmittelbar zusammen. Durch Texte, insbesondere die Zeitung, die im 19. Jahrhundert das erste echte Massenmedium wird, können Menschen über große Distanzen homogen informiert werden. Dies war auch erst seit Aufkommen der Eisenbahn und der Telegrafie wirklich von Bedeutung. Diese sind die Grundlage, auf der sich erstmals eine wirklich überregionale Volkswirtschaft – die Nationalökonomie – entwickeln kann. Die lokale Gemeinschaft, das Dorf, verliert im selben Maß ihre Eigenschaft als “Schicksalsgemeinschaft”, wie bereits Tönnies festgestellt hatte.

“Zeitungen sind der Kitt der Gesellschaft” ruft in diesem Sinne unlängst Zeitungsverleger-Präsident Helmut Heinen aus.

Aber irgendetwas scheint an dieser Aussage nicht (mehr) zu stimmen, wie auch Daniel Schulz als Replik dazu im Der Standard geschrieben hatte, indem er dem Zeitungsmann erwidert: “Nicht Zeitungen, sondern Katzenbilder sind der Kitt der Gesellschaft!”

Daniel hat nicht recht, obwohl er, davon bin ich überzeugt, das richtige meint. Katzenbilder sind nicht der Kitt der Gesellschaft, sondern von Gemeinschaften! Damit sind sie nichts weniger als der Kitt der Gesellschaft, sondern vielmehr bin ich überzeugt, wie ich im folgenden ausführen möchte, dass sie die Gesellschaft sogar korrodieren werden.

Diese Katzenbilder – im Fall meiner eigenen Community sind es Bilder von Geflügel, insbesondere von Laufenten – sind ganz besondere Zeichen, eng verwand mit Metaphern, Allegorien oder Emblemen. Obwohl nicht ganz im Sinne ihres Erfinders, hat sich eingebürgert, diese Art von Bild-Zeichen als Meme zu bezeichnen. Die Bedeutung der Meme ist oft hermetisch, außerhalb der Gemeinschaft, in der sie ausgetauscht werden, nicht zu verstehen.

In den Memen – also meist wenig ikonischen aber selten abstrakte Zeichen – konzentriert sich oft ein ganzes Universum von Bedeutungen und Verbindungen, die die Mitglieder einer Gemeinschaft mit dieser Gemeinschaft verbinden. Meme sind gemeinschaftliche Projektionsräume unseres Unbewussten: “Im Dunkel eines Äußerlichen finde ich, ohne es als solches zu erkennen, mein eigenes Innerliches oder Seelisches.” (C.G. Jung über die Allegorien der Alchimie).

Meme übernehmen dadurch eine Funktion, die in der Vormoderne Metapher und insbesondere der Allegorie innehatten:

Mit Metaphern lassen sich Dinge anschaulich machen, die nicht explizit gesagt werden könnten. “Metaphorik erweitert den Horizont des Denkbaren, indem sie die Grenzen der Verstandesrationalität sprengt und so der Darstellung spekulativer Gedanken unverzichtbare Räume möglicher Artikulation eröffnet.” schreibt Jörg Zimmer. Indem Metaphern nicht-identische Begriffe gleichsetzen, machen sie die verbindenden Eigenschaften deutlich; Metaphern stiften Identität zwischen ansonsten Verschiedenem. Dabei drücken Metaphern zunächst die Bilder aus, die ihr Sprecher (“Sender”) im Kopf hat; der Empfänger der Metapher wird zunächst vermutlich nicht das identische Bild im Kopf haben, sondern die Metapher mit seinen eigenen Bedeutungszusammenhängen füllen. In der Weise, in der die Bedeutung, die der Sender mit seiner Metapher verbindet, ähnlich zu der Bedeutung wird, die der Empfänger darein gibt, stiftet die Metapher auch Identität zwischen unterschiedlichen Personen; Metaphern stiften Gemeinschaftlichkeit.

Meme wirken wie ansteckend. Man ist infiziert, hat man sich erst einmal damit identifiziert.
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History of Turns

Der Linguistic Turn, wie oben beschrieben, war die Folge einer eng zusammenwachsenden, immer besser gebildeten Bevölkerung mit hoher Alphabetisierung und der technologischen Infrastruktur von Massenverkehr und Massenkommunikation über große Distanzen. Mit dem Linguistic Turn der Moderne lösen sich die alten Gemeinschaften auf; Gesellschaften – Nationen und Staaten formieren sich und die Zeitung bzw. die Massenmedien sind der Kitt dieser Gesellschaften. Die Metonymie löst die Metapher als Leit-Trope in der Rhetorik ab: “Berlin erklärt Paris den Krieg”.

Mit der Illustrierten und vor allem dem Fernsehen kommt im 20. Jahrhundert der Iconic Turn – massenmedial vermittelte Bilder. Parallel mit dem Zusammenwachsen der ehemals konkurrierenden nationalen Staats-Gesellschaften zu den supranationalen Blöcken der Nato, Warschauer Pakt oder Europäische Gemeinschaft liefern die bildstarken Medien einen international gültigen Bilderschatz. Diese technisch massenhaft verbreiteten Bilder sind fast völlig unmetaphorisch; die zeigen im Wesentlichen das, was darauf zu sehen ist.

Die Tagesschau wird das Lagerfeuer der Nation und die Utopie scheint Realität zu werden, dass es tatsächlich einen Zusammenhalt von Menschen weit über den engen Rahmen einer Gemeinschaft gibt. Für das grobe Raster der politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind diese Massenmedien in der Lage, ein Millionenpublikum täglich mit den wenigen relevanten Nachrichten zu versorgen, die zum nationalen Zusammenleben notwendig sind: die holzschnitthafte Parteipolitik in den Parlamenten, das Zusammenspiel der eigenen Nation mit den anderen Staaten, die groben Neuigkeiten einer relativ konstant wachsenden Wirtschaft, stets verständlich gehalten auch für “Menschen mit mittlerer Bildung”. Ironie ist das Stilmittel des Iconic Turn – häufig allerdings in Form von Zynismus.
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Seit den achziger Jahren des 20. Jahrhunderts gibt es deutliche Zeichen von Abnutzung an den Massenmedien, zunächst noch in vielen Ländern überdeckt durch den enormen Erfolg des Privatfernsehens bzw. nach dem Mauerfall durch den Nachholbedarf in der ehemaligen sowjetischen Einflusssphäre.

Auf einmal war es nicht mehr so wichtig, zu lesen, was auf nationaler oder internationaler Bühne am Vortag geschen war. Der Kitt der Gesellschaft begann, spröde zu werden. Und das Web kam dieser Entwicklung genau entgegen. Nicht mehr informiert werden – sich die Dinge, die man glaubt, wissen zu wollen, selbst zusammenstellen. Wie Renate Köcher aus den Langzeitstudien ihres Instituts für Demoskopie in Allensbach mit Schrecken erkannt hat: die Leute informieren sich nicht anders – sie informieren sich streng genommen gar nicht mehr! Die Massenmedien werden in ihrer Funktion nicht substituiert, sie verschwinden viel mehr. Und zwar nicht physisch – die Menschen sehen unverändert fern – sondern in ihrer Wirkung.

Unser Social Graph, das Netz unserer gemeinschaftlichen Beziehungen, versorgt uns ab jetzt mit den Dingen, die wir erfahren wollen. Das ist der Filter, den früher die Redaktionen der Medien gebildet hatten. Wir organisieren unsere Beziehungen durch das Netz, wie wir uns früher als Bürger im Staat über die Massenmedien orientiert hatten.

“Das Ende der Großen Erzählung”, mit dem oft die Postmoderne umschrieben wird, bedeutet, dass aus Geschichte lauter kleine Geschichten werden. Schnipsel, die zusammen mit persönlichen Erinnerungsstücken zu Sinnzusammenhängen kollagiert werden. Das ist das “Ende der Geschichte“, bei dem die “Literatur vor unseren Augen kollabiert“. Die massenmediale “Hochsprache” der moderne weicht den vernakularen Dialekten der Netzkultur. “New media are new archetypes, at first disguised as degradations of older media.” (McLuhan)

Die Zugehörigkeit zu diesen neuen, memetischen Gemeinschaften ist nicht vergleichbar mit dem “in die Gemeinschaft geboren werden” der Vormoderne. Es sind relativ lose, zum Teil nur über einige Zeit stabile Strukturen und wir sind selten exklusiv in nur einer davon beheimatet. Diese Gemeinschaften werden symbolisch zusammengehalten über Meme.

Dieser Memetic Turn markiert den Übergang in das nach-moderne Zeitalter. Der schwindende Einfluss der nationalen und die gleichzeitige Auflösung der internationalen, politischen Strukturen führt dazu, dass auch deren mediale Werkzeuge stumpf zu werden scheinen.

Damit wird auch klar, wie die revolutionäre Bewegung in Spanien mit den Umstürtzen in Tunesien und Ägypten zusammen hängt. Es ist faszinierend zu sehen, wie das scheinbare Fehlen von formulierten, gemeinsamen Zielen und jeder Form von verfasster Organisation die alten, gesellschaftlich denkenden Medien komplett überfordert. Es ist der Hash-Tag, der die Menschen zusammenbringt, das #spanishrevolution-Mem als Projektionsraum, über den die Menschen ihre Wünsche nach einer anderen Form von Zusammenleben in einer post-gesellschaftlichen, nicht mehr durch ineffektive Parteipolitik kontrollierten Gemeinschaftlichkeit synchronisieren.

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Tribales Trommeln

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Spanische Revolution

Aber ein Sturm weht vom Paradiese her.
Walter Benjamin

Und ich höre Dich sagen, mehr leise als laut: Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut.
Tocotronic (via Dr_Ultra)

In Spanien, gerade einmal 100 Kilometer südlich des Anbaugebietes dieses wunderbaren Sandweins, findet im Augenblick in Spanien eine Revolution nach ägyptischem Vorbild statt (hier der Livestream von der fernen iberischen Halbinsel). Dass aus Ägypten nicht berichtet wurde, trotz der 9 Milliarden Euro öffentlich-rechtliches Rundfunkbudget, ist verständlich. Die Jahre zuvor hatte man Schritt für Schritt die Auslandskorrespondenten in die Selbständigkeit entlassen, so dass am Ende niemand mehr vor Ort war – bis auf Richard Gutjahr -, der vom Tahrir-Platz aus berichten konnte.

Dabei sind die Reporter vor Ort und die TV-Ausrüstung gar nicht einmal die Hauptsache. Wenn ich niemanden dauerhaft im Land habe, fehlen die Quellen, mit deren Hilfe Journalisten Informationen validieren und Trends aufspüren können. Auch wenn ein Sender seine Reporter schnell dorthin einfliegen kann, sind das nicht viel mehr als journalistische Touristen. Die wirkliche Berichterstattung ist schon längst ins Internet (Twitter, Blogs, Facebook) abgewandert und werden von Sendern wie Al Jazeera oder Bloggern gesammelt, geprüft, ausgewertet und interpretiert.

Warum übrigens gibt es keine Berichterstattung über die spanische Revolution? Warum findet diese Revolution nur online statt? Findet sie überhaupt statt oder inszeniert sich hier bloß so etwas wie ein Revolutionsmem, das ebenso inhaltsleer und viral ist wie dieser Werbeclip (“Join the #spanishrevolution”)?

Das erinnert mich an die endlosen Diskussionen in ethnologischen Proseminaren zur Ritualtheorie, ob ein Ritual denn auch dann noch ein Ritual sei, wenn es nur gespielt wird. Wann ist eine Revolution eine Revolution? Niklas Luhmann Spruch “Alles, was wir über die Welt wissen, wissen wir durch die Massenmedien” trifft immer weniger zu. Wenn es nach den Massenmedien geht, läuft in Spanien im Moment alles in den gewohnten Bahnen. Es sind Wahlen und da politisiert sich halt alles ein wenig.

Auf Twitter dagegen ist die Revolution in Westeuropa schon längst zum trending topic geworden, zu dem im Minutentakt Bilder, Parolen und Mikroanalysen gepostet werden. Walter Benjamin hat seinen Engel der Geschichte, der längst nicht so freundlich aussieht wie der Engel des Regensburger Himmelfahrtfensters, mit dem Rücken voran in die Zukunft fliegen lassen. Vielleicht machen es die Massenmedien ja ganz genauso und bemerken die Revolution auch erst, wenn die ersten Trümmerhaufen im Blickfeld auftauchen. Derweil beschäftigen wir uns mit den Sexorgien von Versicherungsvertretern oder Politikern.