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Moving towards Slow Communication

“Zeit ist wertvoll” lautet der Claim des neuen Peugeot 508. Das Auto wurde erst kürzlich – Mitte März – präsentiert. Aufbau, Inhalt und Optik stimmen frappierend und geradezu gespenstisch mit dem Werbespot zu einem anderen neuen Auto überein: dem VW Eos (“Das Auszeitauto”), über den mein Kollege Benedikt Köhler Anfang Februar in seinen Beitrag “Slow Advertising” bereits berichtet hat. Diese offenbar zufällige Gleichzeitigkeit lässt den Schluss zu, dass das Thema Slowness den Sprung in die Mittte der Gesellschaft bereits geschafft hat und als marktgängiges Thema betrachtet wird. Mediale Überforderung, Be- und Entschleunigung und bei näherem Hinsehen auch eine qualitativ andere Art der Kommunikation treffen sich in diesen Slow-Interpretationen.

Der Spot: Ein beruflich und privat erfolgereicher Mann hastet rastlos vom Stakkato der Termine und Medien angetrieben durch seinen Tag. Ruhe, Versekung, Genuss findet er erst in seinem Auto wieder. Ton aus, slow motion. Soweit so üblich.

Klickt man aber auf die Website zur Präsentation des Peugeot 508, so wird aus dem Claim für das Auto (“Zeit ist wertvoll”) die leicht verzögert (also als wohltuend langsam empfundene) einlaufende Titelzeile: “Ihre Zeit ist wertvoll” [Hervorhebung von mir]. Darunter erscheint das gängige aber in dieser Plazierung völlig anders und glaubwürdiger wahrgenommene Angebot “Intro überspringen”. Dieses Intro drängt sich nicht auf, es nötigt den Nutzer nicht. Auch der Ausknopf für den Ton ist typografisch deutlich sichtbar und nicht versteckt. In der nächsten Einstellung heißt es: “Sagen Sie uns, wie viel Zeit Sie haben und erleben Sie den neuen 508”. Hier kann der Nutzer zwischen 20, 40, 60, 80, 100 und einer 180 Sekunden dauernden Produktpräsentation wählen (in der längsten Version gibt es zur Belohnung den Designer, der in Originalsprache über sein Werk spricht).
Es geht um den Nutzer. Das ist neu. Das ist im Grunde das Gegenteil üblicher Werbung, bei der es in der Regel darum geht, den Kunden eben nicht ausschalten zu lassen, den “Schließen”-Button zu verstecken und den Ton immer etwas lauter als nötig zu fahren. Es wirbt nicht nur, es kommuniziert.

Damit gehen Peugeot und die Leadagentur EuroRSCG in ihrer Kommunikation einen wichtigen Schritt über die rein inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Slow-Ansatz hinaus: Sie lässt das rein inhaltliche Sprechen über das Thema “Slow” hinter sich und wendet das Konzept “Slow” auch auf die ART des Kommunizierens an. Während die Beipiele, von denen Benedikt sprach, sich dem Thema Entschleunigung und Slowness thematisch nähern (mit leicht ironischem Approach bei Mercedes, mit ungebrochenem Duktus im Falle von VW), so bemühen sie sich hier, aus dem, wovon sie thematisch sprechen (“Zeit ist wertvoll”) auch Konsequenzen für den Nutzer und die Kommunikation zu ziehen. Dieser Ansatz nähert sich in der Tat unserer Definition von Slow Media: Er versucht den Nutzer und seine kostbare Zeit zu respektieren, ihn nicht wider Willen mit Werbung zu überschütten.

Bei der vergleichsweisen Betrachtung der Online-Präsentation des VW Eos musste ich feststellen, dass auch Volkswagen und ihre Agentur DDB einen Schritt in diese Richtung versuchen: Sie bieten nach dem Spot eine Auszeit-App an, die dem medial überforderten Nutzer eine vorübergehende Auszeit seiner digitalen Verpflichtungen ermöglichen soll.

Eine Spielerei, die kaum mehr als ein Gimmick ist – allerdings einer mit möglichwerweise hohem Kommunikations-Kollateralschaden: Bei der Online-Recherche stößt man schon als erste Nennung auf die ratlose Frage eines mutmaßlichen Nutzers, wie der Kontakt zu den gesperrten Portalen nach dem Absturz des Programmes wohl wieder herzustellen sei. Diese Werbeidee scheint so hartnäckig zu sein, dass sie auch nach De- und Reinstallierung aller Programme dennoch auf einer dauerhaften Auszeit seines Nutzers beharrt.

(Übrigens auch ein gutes Beispiel dafür, dass Unternehmen in einer solchen Situation das Kommentarfeld von Foren als Kommunikationskanal für sich entdecken sollten. Dass sie also kommunizieren statt nur werben sollten.)

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Mehr zum Thema Slow Communication und Autos: https://www.slow-media.net/slow-communication-und-falsche-tramper

 

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Was empört uns?

Als ich vor fünf Wochen das Büchlein “Indignez vous!” aufschlug, um den Essay des 93Jährigen Stéphane Hessel zu lesen, passierte etwas Besonderes. Ich legte nach wenigen Zeilen das Buch beiseite, stand auf, holte mir einen Bleistift und setzte mich wieder zum Lesen. Mit dem Stift in der Hand, um Stellen anzustreichen und mir Notizen zu machen.  Das habe ich seit Jahren nicht mehr getan. Die letzten Anstreichungen in meinen Büchern stammen noch aus meiner Studienzeit.

Ich weiß nicht genau, wie diese Wirkung zustande kam. Vielleicht war es die Unumwundenheit, mit der ein Mensch geradeheraus und unumstößlich feststellt, dass wir Prinzipien und Werte brauchen. Das ist ungewöhnlich, obwohl doch die Menschrechte für uns alle eigentlich selbstverständlich sind.

Stéphane Hessel hat noch etwas zu sagen, bevor er geht. Er spricht von Verantwortung. “La responsabilité de l’homme qui ne peut s’en remettre ni à un pouvoir ni à un dieu” (p. 13). Er meint damit die Verantwortung als Mensch, die man an niemanden abgeben kann, die nicht delegierbar ist.  Hessel wünscht uns Nachgeborenen (und das sind wir in Anbetracht seines Alters wohl alle) Gründe zur Empörung, die uns an diese Veranwortung erinnern, an die Notwendigkeit für etwas einzustehen und zu handeln.

“Je vous souhaite à tous, à chacun d’entre vous, d’avoir votre motif d’indignation. C’est précieux.” (p.12)

Mehr noch fordert er, diese Gründe zur Empörung, die Dinge, die unerträglich und nicht akzeptabel sind, “les choses insurportables”, gezielt zu suchen: “Pour le voir, il faut bien regarder, chercher.” (p.14). Hessel rät, hinzusehen und sich der Differenz zwischen dem “wie es sein sollte” und dem “wie es ist”, auszusetzen, sie auszuhalten und Empörung zuzulassen. Erst aus der empfundenen Differenz zwischen Ideal und Realität entspringt Handeln. “L’indifférence: la pire des attitudes”, lautet der konsequente Umkehrschluss. Denn Indifferenz verhindert das Handeln.

Empörung, unsere Preziose. Das finde ich interessant. Was empört uns eigentlich? Was wäre in der Lage uns zu entrüsten?  Was würde uns auf die Barrikaden gehen lassen?

Zu meinem Beitrag, den ich über Hessels Buch schreiben wollte, bin im Januar nicht gekommen. Es passierte soviel anderes. Inzwischen gibt es eine deutsche Übersetzung von Michael Kogon. Ich nehme sie zum Anlass, dieses Büchlein mit seinen lesenwerten 20 Seiten hier doch noch zu empfehlen, und zwar nachdrücklich. Es ist ein Buch, das sich wunderbar teilen und verschenken läßt.

Zwischen meiner ersten Begegnung mit dem französischen Essay und seiner deutschen Übersetzung liegen nur wenige Wochen. Aber was für Wochen! Tunesien, Ägypten, Libyen liegen dazwischen. Wieviel gerechte Empörung liegt darin. Wieviel Erstaunen unsererseits, dass Menschenrechte tatsächlich etwas sind, wofür Menschen bereit sind, ihr Leben zu riskieren, vor unseren Augen.

Ja, Stéphane Hessel lächelt dieser Tage, wenn er im Fernsehen auf die Lage in der arabischen Welt angesprochen wird.

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Stéphane Hessel hier ab min 4:30 (ard, Beckmann)

Stéphane Hessel: Indignez-vous! Indigène éditions, Montpellier, décembre 2010. 6 €

Stéphane Hessel: Empört Euch! Aus dem Französischen von Michael Kogon. Ullstein, Berlin 2011. 3,99 €

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Nachtrag in eigener Sache:

Ganz am Ende, nachdem ich dem alten Herrn schon längst erlegen war, entdeckte ich diese Textstelle, die Stéphane Hessel als Slowmediavisten decouvriert:

“La pensée productiviste, portée par l’Occident, a entraîné le monde dans une crise dont il faut se sortir par une rupture radicale avec la fuite en avant du “toujours plus”, dans le domaine financier, mais aussi dans le domaine des sciences et des techniques. Il est grand temps que le souci d’éthique, de justice, d’équlibre durable devienne prévalent.” (p. 20)

Hier in deutscher Übersetzung:

“Das im Westen herrschende materialistische Maximierungsdenken hat die Welt in eine Krise gestürzt, aus der wir uns befreien müssen”, schreibt Hessel. “Wir müssen radikal mit dem Rausch des ‘Immer noch mehr’ brechen, in dem die Finanzwelt, aber auch Wissenschaft und Technik die Flucht nach vorn angetreten haben. Es ist höchste Zeit, dass Ethik, Gerechtigkeit, nachhaltiges Gleichgewicht unsere Anliegen werden.” (S. 19f.)

 

 

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Social Media statt Peer Review

Die Diskussion über die Plagiate in der Doktorarbeit von zu Guttenberg war, das habe ich schon deutlich gesagt, meiner Meinung nach falsch gelagert. Viel zu oft wurde ein Einzelfall daraus hergeredet, wo ich überzeugt bin, in Wahrheit akademische Praxis dahinter zu erkennen.

Jetzt bekommt das Thema aber Fahrt, und es zielt, wie ich finde, genau richtig. Auf plagipedi.wikia.com beginnt die Aufarbeitung anderer Dissertationen in gleicher Weise, wie es bei Guttenberg zum Erfolg führte. Ob Merkel, Westerwelle oder Wiefelspütz – jeder ist verdächtig und soll gecheckt werden.

Warum sollte ein solches System nicht allgemein zur Qualitätssicherung wissenschaftlicher Veröffentlichungen Schule machen? Im Grunde handelt es sich um eine erweiterte Form der Peer-Review. Letztere krankt schließlich immer daran, dass nur innerhalb des Systems gearbeitet wird. Groß ist das Risiko, dass nur “anerkannte” (sprich etablierte und nicht wirklich neue) Gedanken von den Reviewern akzeptiert werden; und noch größer, dass “eine Krähe der anderen kein Auge aushackt” …

Also: Social Media Review als Grundlage für die Slow Thesis, die gute, wertvolle Doktorarbeit.

Mehr zum Thema:
“Wir sind durch die Hölle gegangen”
Über das Hinterfragenwagen und den Luxus von Moral
Metaphysik, Spekulation und die “dritte Kultur”

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Die Echtzeitlüge

Die Zukunft hat schon begonnen.
Robert Jungk, 1952

Auf welcher Seite stehst Du, Kulturschaffender?
Jörg Immendorf, 1973

Wenn es einen Begriff gibt, der die Conditio Humana am Anfang des 21. Jahrhunderts beschreibt, dann könnte dies der Begriff der “Echtzeit” sein. Aber nicht er allein, sondern all die vielen Ermahnungen, im Jetzt, Hier und Heute oder dem Augenblick zu leben würde ich noch mit dazu zählen. Echtzeit ist nur eine von vielen Beschreibungen dieses Gegenwartsfetischismus, allerdings eine, die wissenschaftlich-technischen Assoziationen weckt. Von Ratgeberliteratur bis Medientheorie wird die Gegenwart, die absolute auf das Jetzt zugespitzte Gegenwart, als einzig wahrer Lebensraum der technischen Zivilisation betrachtet. Der natürliche Lebensraum der digitalen Eingeborenen ist das Jetzt von Facebook, Twitter und SMS.

Gelebt wird in der Echtzeit. Alles andere ist Flucht und demnach auch das Territorium der Ewiggestrigen (= diejenigen, die in vergangenen Ideen leben) oder der Träumer und Spinner (= diejenigen, die in der Zukunft leben). Echtzeit, das klingt so, als wäre die Zeit, in der wir früher gelebt haben, irgendwie falsch oder gefälscht gewesen ist. Die Kleriker und Adeligen, die im 15. Jahrhundert damit begonnen haben, überall Uhren anzubringen, um die Menschen pünktlich zur Arbeit zu bringen, waren also in Wirklichkeit so etwas wie die Grauen Herren? Sie haben die alte Zeit – die Zeit der Feste und Jahreszeiten – gestohlen und durch eine Fälschung ersetzt? Durch einen Taschenspielertrick, der zum Beispiel Dante sofort aufgefallen ist: “Wie wohlgefügt der Uhren Räder tun, in voller Eile zu fliehen scheint das letzte, das erste scheint, wenn man´s beschaut, zu ruhen.”

In Wirklichkeit verkaufte die Zeitelite der Bevölkerung natürlich gar keine minderwertige Zeitware, sondern nur eine neue Art von Zeitmessung. Eine Zeitmessung, die keine individuelle Angelegenheit mehr ist, sondern standardisiert war. Eine Ware, mit der man rechnen und buchhalten konnte und die vor allen Dingen im ganzen Ort – später der ganzen Region und noch später im ganzen Land – dieselbe war. Auf mechanischem Wege gelang, was die Kirche schon lange Zeit mit ihrer hoch-komplexen Rhythmisierung aus Jahreskreis und Stundenbuch versucht hatte. Unsere Echtzeit ist also gar nicht so neu, sondern nicht viel mehr als das Aufblasen der Renaissance-Synchronzeit auf einen noch größeren Maßstab.

Doch zurück zu den Eskapisten. Je mehr man die Echtzeit als “echte” und damit einzig wahre Zeit lebt, desto problematischer wirken die Fluchtbewegungen in Vergangenheit oder Zukunft. Vor kurzen diskutierten ein paar Politiker und Politikwissenschaftler über das Phänomen der Echtzeitpolitik. Dass Zeit eine politische Machtressource darstellt, ist freilich nicht neu, aber in dieser Diskussion schien durch, dass im iPad- und Blackberrybundestag diese Ressource noch einmal einen unglaublichen Bedeutungszuwachs erfahren hat. Die Abgeordneten sind nicht nur ihrem Gewissen, sondern auch der Echtzeit verpflichtet.

Aber auch das kann Flucht sein. In der Echtzeit zu leben, kann nämlich auch bedeuten, die Schichten der Vergangenheit zu ignorieren, auf denen jede politische Entscheidung ruht, und ebenso die Zukunft, die durch diese Entscheidung beeinflusst werden kann, aus dem Blick zu verlieren. Robinson Crusoe lebte in der Echtzeit. Aber das heißt dann auch im Sinne William Gibsons: “They sat around accessing media all day and talking about it, and nothing ever seemed to get done.”

Slow Media ist vor diesem Hintergrund der Versuch, sich nicht einseitig auf die bärtige Gegenwart, die runzlige Vergangenheit oder die glattwangige Zukunft zu konzentrieren oder gegeneinander auszuspielen. Vielmehr geht es darum, auf diesen vielfältigen Registern der Zeit spielen zu lernen, ein Gespür für Wiederholungen und Unvollständigkeiten auszubilden. Insofern also: Langsamkeitspfleger werden für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesucht. Wie die Stellenbeschreibung solcher Langsamkeitspfleger aussehen könnte, hat Robert Musil schon mit seinem “Möglichkeitssinn” skizziert, nämlich “die Fähigkeit […], alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.”

Danke an @markus_siepmann für den Wink mit dem Zaunpfahl.

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Slow theory

“Wir sind durch die Hölle gegangen”


Die Schule von Athen, nach Raffael, Paris um 1735, heute in der Aula der Akademie der Bildenden Künste, München.
Die Akademie in Athen, die Urform der Hochschule – ein Männerbund.

Initiation in eine geschlossene Gruppe von Menschen findet häufig ritualisiert statt. Solche Rites-de-Passage zur Aufnahme neuer Mitglieder in die Clique, Gang oder Truppe sind häufig mit hohen psychischen und körperlichen Strapazen verbunden. Oft müssen Novizen rituell sterben, um vollwertige Männer des Ordens zu werden.

Nach durchleben dieser “harten Schule” stellt sich Glücksgefühl ein, man hat es geschafft, gehört jetzt endlich auch dazu. Durch diesen Effekt stabilisiert sich ein so geschlossenes System selbst. “Es muss doch zu etwas gut gewesen sein” – so die Rechtfertigung der gequälten vor sich selbst und anderen. “Ich musste auch durch die Hölle gehen, und es hat mir nicht geschadet” – damit verbietet sich Solidarität mit den Schwachen oder gar Sympathie für Kritiker. Der blutige Brei klebt die verschworenen Männerbünde zusammen, um mit Theweleit zu sprechen.
***

Die deutschsprachigen Tweets in meiner Twitter-Timeline kennen seit gestern – bis auf ganz wenige Ausnahmen – nur noch ein Thema: Verteidigungsminister zu Guttenberg hat bei seiner Promotion abgeschrieben.

Völlig unabhängig, ob ich den CSU-Politiker mag oder nicht, finde ich die überwältigende Bestürzung mehr noch als die – für Twitter ja nicht ungewöhnliche Häme – äußerst befremdlich. Die Betroffenheit über eine angenommene Verletzung akademischer Regeln dominiert die Kommunikation – und nicht etwa die Ereignisse in Lybien oder Bahrain!

Um Himmelswillen, kommt mir in den Sinn – der Kaiser ist nackt! Wie konnte nur das System drakonischer Qualitätssicherung und Selbstgeißelung der deutschen Alma Mater so versagen! – Jeder neutrale Beobachter wird sofort denken: das machen am Ende alle so! Da wird jemand mit einer nicht-so-originellen Promotion nicht nur Doktor, sondern gar noch erfolgreicher Politiker! Wäre er an der Hochschule geblieben – kein Hahn hätte je danach gekräht, das glaube ich zumindest.

Ich kenne keinen anderen Berufstand, der so schamlos parasitär von der intellektuellen Leistung anderer lebt, wie die Professoren, die völlig selbstverständlich jede Zeile ihrer Veröffentlichungen von ihren Studenten, Assistenten und Mitarbeitern schreiben lassen und – obwohl für ihre Arbeit bereits durch Steuergelder entlohnt – auch noch die Tantiemen erhalten.
***

Genug Universitäts-Bashing – ich will gar nicht erst auf die, von mir wahrgenommene Qualität der Forschung und Lehre an deutschen Hochschulen eingehen. Viel Interessanter finde ich die Frage, wie sich das System mit seinen eklatanten Mängeln so beharrlich stabil hält. Und da spricht die Entrüstung der Akademiker in der Causa Guttenberg eine deutliche Sprache. Um in Deutschland überhaupt promoviert zu werden, muss man in den meisten Fächern eine jahrelange Tortur überstanden haben, sich durch tausende von Seiten Literatur gearbeitet haben und gleichzeitig oft schlecht oder kaum bezahlte Frondienste für den betreffenden Lehrstuhl ableisten. Das Ergebnis ist in der Regel für den Nicht-Fachmann kaum als Fortschritt wahrnehmbar. Selbst in meinen Fächern fällt es mir meist schwer, die Leistung einer Promotion zu erkennen, wenn sie nicht genau in mein eigenes Interessesgebiet fällt.

Es muss doch zu etwas gut gewesen sein, die ganze Mühe! Es kann doch nicht sein, dass man am Ende es hätte auch einfacher haben können! Und statt die Regeln des akademischen Betriebs zu hinterfragen, die Sinnhaftigkeit, erwachsene, gut ausgebildete Menschen jahrelang im Zustand wirtschaftlicher Abhängigkeit und Ausbeutung zu halten, in Frage zu stellen – muss es sich hier natürlich um einen Einzelfall handeln. Der Rest vom System wird davon selbstverständlich nicht berührt.

Diese Reaktion erinnert an Menschen, die aus der Bundeswehr kommen, an Korps-Studenten, die über ihre Jahre als Fuchs schwärmen, oder an meinen Großonkel, wenn er von der Kriegsgefangenschaft erzählte.
***

Es ist aber tatsächlich an der Zeit, eine neue Ausrichtung der Promotion zu fordern! Entweder man entschließt sich, wie in vielen anderen Ländern, das Niveau auf ein erträgliches Arbeitsmaß zu senken – und zwar in allen Fächern auf dasselbe! – Mehr als zwei bis drei Jahre darf eine Promotion einfach nicht dauern.

Oder die Dissertation wird systematisch zu dem aufgewertet, was sie ja angeblich sein soll: zu einer eigenständigen – originellen – wissenschaftlichen Arbeit. Dann können aber reine Literatursammlungen, Meta-Analysen oder Erbsenzählen nicht mehr ausreichen.

Es ist Zeit für die Slow Theses! Doktorarbeiten nicht als “Führerscheinprüfung” der Akademiker (Zitat von Benedikt), die man eben machen muss, um dazu zugehören, sondern als eine wertvolle wissenschaftliche und vor allem gesellschaftliche Leistung.

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>digital<: (be)fingern

[Read this post in English]

Digital – Bedeutungen:
[1] Elektronik: (Daten) mit Ziffern und Zahlen dargestellt
[2] Medizin: die Finger betreffend
(wiktionary.org)

Im Deutschen erfahren wir die Wirklichkeit der Welt durch Be-Greifen – wir greifen mit unseren Fingern. Auch zählen hat seinen Ursprung im Abzählen an Finger und Zehe – dem digitus. An den interessanten Zusammenhang zwischen unseren Händen, dem Begreifen und dem Zählen als Grundlagen unserer digitalen Kultur hat mich die schlüpfrige Herleitung des Wortes digital durch Arno Schmidt wieder erinnert.

Als Schmidt Ende der sechziger Jahre seinen ersten und umfangreichsten Typoskriptromane “Zettel’s Traum” verfasste, hatte das Wort digital in der deutschen Sprache noch fast ausschließlich die medizinische Bedeutung, wie sie unter [2] im Wiktionary vermerkt ist; ich habe das in mehreren Lexika und Duden aus dieser Zeit nachgesehen – nirgends wird digital in der heute vorherrschenden Weise [1] gebraucht.

Anders im englisch-amerikanischen Raum. Hier bedeutet digit schließlich Zahl. Wieso zählen die Engländer so direkt mit ihren Fingern, während wir mit zala, mit Zeichen rechnen? Zwar haben Zahl, Zeichen, digitus und digit alle dieselbe indogermanische Wurzel *dĭ̄k-, aber dennoch ist der Weg in die Sprachen unterschiedlich verlaufen.
***

Ein der für Astronomen und Theologen seit der Spätantike gleichermaßen interessantes Problem war die Festlegung des Osterfestes in den Kalendern. Die Schwierigkeit liegt darin begründet, dass die sieben Wochentage, die unterschieldichen Monatslängen und die 365 Tage des Jahres keine Vielfachen voneinander sind. Dadurch variiert der erste Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühjahr zwischen 22. März und 25. April. Es war die Kunst des Computus, dieses Datum für die Jahre in die Zukunft zu berechnen.

Der angelsächsische Benediktiner Beda, genannt der Ehrwürdige, ‘Venerabilis’, ist der Vater unserer Zeitrechnung in Jahren nach bzw. vor Christi Geburt. Wie viele Denker in Folge von Augustinus ging auch Beda davon aus, dass in unserer Welt “alles nach Maß und Zahl geordnet” ist (Weish. 11,20 – sed omnia mensura et numero et pondere disposuisti).

Um eine, für die gesamte Welt gültige und einheitliche Berechnung des Osterfestes zu liefern, hatte er am Ende des siebten Jahrhunderts das fortan verbindliche Werk zum Computus geschrieben: De Temporum Ratione, vom Berechnen der Zeiten.

Gleich im ersten Kapitel geht es um das “Rechnen oder Sprechen mit den Fingern”. Beda führt das Abzählen ein und zeigt, wie aus das Zählbare über den Schritt des Abzählens mit den Fingern in ein Alphabet von Zahlenzeichen abgebildet wird – es wird Digitalisiert. “De Computo vel loquela digitorum” – Computing with Digits.

Auch wenn viele Entwicklung der digitalen Rechentechnik von Schickard bis Leibnitz – und schließlich Zuse – in Deutschland stattgefunden hatten, waren es Charles Babbage und Ada Byron, die einen Digit Counting Apparatus in das Rechenwerk ihrer Analytical Engine setzten. Seit da taucht das Wort digital immer häufiger im Zusammenhang mit Rechenmaschinen in England und den USA auf. Seit Ende der 1930er Jahren (und bis heute) wird digital, das kodieren von Signalen durch diskrete Zahlenwerte dann im Gegensatz zu analog verwendet.
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Die digitale Welt – an den Fingern abgezählt, abstrahiert, in Daten zerlegt, die durch logische Regeln weiterberechnet werden. Im Gegensatz dazu scheint die analog begriffenen Wirklichkeit zu stehen.
Dort Plato – hier Aristoteles … etc. etc.

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Claus Kleber denkt Hajo Friedrichs neu

Das heute journal des 13. Februar wurde moderiert von Claus Kleber.  Es war eine denkwürdige Ausgabe des täglichen Nachrichtenjournals des ZDF. Hier ist die Aufzeichnung der Sendung, die nur noch wenige Tage im Internet nachzuschauen sein wird.

Es passiert dort ab min. 15.44 Folgendes: Nach den Nachrichten und dem Wetter kündigte der Moderator Claus Kleber einen Rückblick auf die historische Woche in Ägypten an. Es folgt ein gut einminütiger chronologischer Rückblick auf die bekannten Ereignisse, untermalt mit Musik. Wie um die Emotionalität der Bild- und Tonsprache zu rechtfertigen, sagt Claus Kleber in der Abmoderation: “Es war eine emotionale Woche”. Und schließt einen bemerkenswerten Satz an:

“Nehmen Sie es bitte als eine Verbeugung der Journalisten des Journals vor den Menschen, über die sie berichten durften.”

Der Satz klingt wie eine Gebrauchsanweisung für das ungewöhnliche Format. Vielleicht ist er auch eine Gebrauchanweisung für eine neue Art von Journalismus. Er markiert eine Wende im Selbstverständnis der konventionellen Medien. Zwar ist es formal recht moderat gelöst – der Rückblick lief nach dem offiziellen Nachrichtenformat und ist eher der Form des Kommentars zuzurechnen als der eines Berichts. Aber dennoch tut Claus Kleber hier nicht Geringeres als offen das Diktum des Hanns Joachim Friedrichs zu hinterfragen. Dieser hatte den bisher als unumstößliche Orientierungsmarke für Journalisten geltenden Satz gesagt:

“Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.”

Nun verneigt sich eine Redaktion in Respekt vor dem Sujet ihrer Berichterstattung – und hebt (wenn auch nur im Nachhinein) die Distanz zu der zu berichtenden Sache auf. Ich finde diesen Schritt des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preisträgers aus dem Jahr 2010 mutig und konsequent. Claus Kleber stößt damit eine Tür zu einem neuen Journalismus auf, der sich in Zukunft mit eben diesen Fragen befassen muss: Wie subjektiv darf Journalismus sein? Wieviel Mensch darf bzw. muss durch den Berichterstatter durchscheinen? Wie definieren wir Glaubwürdigkeit? Wie Objektivität? Gerade die Beteiligungsmedien des digitalen Raumes zwingen mit ihrer praktizierten (und zum Teil übers Ziel hinausschießenden) Teilhabe den Journalismus, sich diese Fragen neu zu stellen. Der Journalismus wird sich in Zukunft zwischen den Polen der Subjektivität und der Entfremdung neu verorten müssen. Ohne seine Ideale aufzugeben, aber diese vielleicht in neuem Licht betrachtend. “Rolle und Selbstverständnis des Journalismus” steht auf der Liste für unsere Forschungsvorhaben im Institut. Ich bin sehr gespannt darauf. Und es würde mich wirklich interessieren, welche Diskussionen der Entscheidung der heute journal-Redaktion vorausgegangen sind. Das waren bestimmt insgeheim Gespräche über die Zukunft des Journalismus.

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Mehr zum Thema Subjektivität und Entfremdung im Journalismus in dem Beitrag “Über Glaubwürdigkeit, Schreiben und Handeln“.

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Naturwissenschaft

“How I Killed Pluto” von Mike Brown

[Read this post in English]

“Good science is a careful and deliberate process. […] The discovery itself contains little of scientific interest. Almost all of the science […] comes from studying the object in detail after discovery.”
Mike Brown

Die Objekte der Astronomie – Planeten, Sterne, Galaxien – mögen zwar mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durchs Weltall rasen – von der Erde aus betrachtet sind ihre Bewegungen aber häufig sehr gemächlich. Als man Pluto 1930 entdeckte, wurde er sofort als neunter Planet den bisherigen acht hinzugefügt, auch wenn er nur etwa halb so groß wie unser Erdmond ist. Damit schien das Sonnensystem irgendwie abgeschlossen; hatte man ein Objekt jenseits des Neptun aus dessen Bahn vorhersagen können, was Anlass zur Suche nach dem neunten Planeten gegeben hatte, gab es für weiter entfernte Planeten keine Hinweise.

Der “zehnte Planet”, Eris, durch dessen Entdeckung 2005 Mike Brown zu einem der bekanntesten Astronomen der Welt wurde, ist doppelt so groß wie Pluto, mit einer noch stärker eliptischen Umlaufbahn als dieser. Zufällig befand er sich in den 30er Jahren aber ziemlich weit außen; zweihundert Jahre früher oder später – und er wäre mit Sicherheit vor Pluto oder zumindest gleichzeitig mit diesem entdeckt worden. Dann hätte es aber plötzlich nicht einen Trans-Neptun-Himmelskörper gegeben, sonder gleich zwei. Ob man diese kleinen Brocken, weit draußen, mit ihren gedehnten Umlaufbahnen dann überhaupt als Planeten klassifiziert hätte, oder gleich den Asteroiden zugerechnet hätte?

Diese Frage nach der Rolle von Zeit in der Wissenschaft, Timing, dem richtigen Zeitpunkt einerseits und der Geduld andererseits sind die eigentlichen Themen von “How I Killed Pluto and Why It Had It Coming”. Indem Mike Brown auf sehr amüsante Weise sein Privatleben berichtet, wir mehr als zehn Jahre seiner Biografie miterleben, die Anbahnung seiner Ehe, die Geburt seiner Tochter, deren erste Lebensjahre, wird auf subtile Weise deutlich, wie langsam und mühselig die parallel stattfindende wissenschaftliche Arbeit sich hinzieht. Ähnlich wie bei den Himmelskörpern, die beobachtet werden, bewegt sich ein Projekt wie das, von dem Mike Brown erzählt, mehr in Jahrzehnten als in Jahren. Unendliche Geduld bei nächtlicher Himmelsbeobachtung und bei der Auswertung der Bilder tagsüber. Jahrelange Routine, unterbrochen von den Vollmondnächten.

Der zweite Aspekt von Zeit – Timing, der richtige Zeitpunkt – macht das Buch extrem spannend. Während Brown die Veröffentlichung seiner Entdeckung von drei Trans-Pluto-Objekten vorbereitet, prescht ein spanisches Astronomen-Team mit der Veröffentlichung eines dieser Himmelskörper vor. Brown, der zunächst an Zufall glaubt, schießt kurz darauf seine verbliebenen zwei Objekte hinterher, stielt damit den Spaniern allerdings die Show, da unter diesen eben Eris ist, mit beachtlicher Größe und besonders extremer Entfernung. Doch dann kommt Stück für Stück heraus, dass es bei der spanischen Veröffentlichung Ungereimtheiten gibt, und auch wenn die Sache nicht letztlich geklärt werden kann, sieht es so aus, als wäre Brown Opfer von “Spionage” unter Kollegen geworden.

Was auch immer der Fall gewesen sein mag – die innere und äußere Auseinandersetzung um Wissenschaftsethik, um den richtigen Weg einer Veröffentlichung, um die Bedeutung von Review und die nötige Ruhe, sind in diesem Buch besonders lesenswert. Brown lässt dem Leser dabei genug Raum, sich über die Vorgänge ein eigenes Urteil zu bilden, auch wenn er bezüglich der spanischen Astronomen natürlich einen sehr persönlichen Standpunkt einnimmt.

Und zum Schluss kommt es zu einem wahrhaft epischen Show-Down, als innerhalb der IAU, der Internationalen Astronomischen Vereinigung, ein regelrechter Kampf entbrennt, was denn nun ein Planet sei – nur die acht bis zu Neptun oder am Ende eine unbekannte Anzahl von Objekten bis an den fernsten Rand des Sonnensystems. Hier geht es nicht mehr um Naturwissenschaft, sondern um Sprache und vor allem um die Macht von Begriffen. Wittgenstein hätte seine wahre Freude gehabt.

Mike Brown: “How I Killed Pluto and Why It Had It Coming”
New York (Spiegel & Grau) 2010, ca. 19,80 EUR
ISBN 978-0-385-53108-5

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